Dienstag, den 29. Juni, früh, wurden in Düsseldorf bei sechs Genossen und einer Genossin durch Beamte der Politischen Polizei Haussuchungen vorgenommen, ebenso bei einigen Genossen im Landkreise. Gesucht wurde nach Flugblättern und Broschüren, u. a. auch nach dem Friedensaufruf des Parteivorstandes, der nach Angabe eines der Beamten auch als Flugblatt herausgegeben worden sei. Am Dienstag nahm die Polizei in den Privatwohnungen aller Vorstandsmitglieder des Sozialdemokratischen Vereins, im Parteibureau, im Arbeitersekretariat, im Metallarbeiter- bureau und in der Arbeiterzeitung in Remscheid Haus- suchungen vor. Gesucht wurde nach dem bereits mehrmals erwähnten Flugblatt vom 9. Juni, das an die Adresse des deutschen Parteivorstandes gerichtet ist. Gefunden wurde ein Privatexemplar eines Genossen. Das war die dritte Haus- suchung in der Zeit von 14 Tagen. JnDüsseldorf wurden am Dienstag die Haussuchungen fortgesetzt, so besonders im Parteigeschäft. Diesmal galt die Durchsuchung ausschließlich dem angeblich vom Partcivorstand herausgegebenen Flugblatt„Sozialdemokratie und Frieden". Gefunden wurde, wie am Tage zuvor, wieder nichts. Von der Polizei wurde noch ausdrücklich erklärt, daß das Flugblatt weder gedruckt noch verbreitet werden dürfe. Haussuchungen mit demselben ergebnislosen Erfolg fanden in Krefeld statt.
Kriegsgegner in England. Neben den britischen Sozialisten der Unabhängigen Arbeiterpartei, wirkt im Sinne des Friedens in England die Union für demokratische Konttolle, der auch einflußreiche bürgerliche Kreise angehören. Von der Propaganda der englischen Friedensfreunde hat man in Deutschland keine rechte Vorstellung, zumal wenn man die englischen Zensurverhält- nisse denen auf dem Festlande gleichsetzt. In Wirklichkeit herrscht in England freie Diskussion über Kriegs- und Friedens- ziele. Auch für die direkte Agitation gegen den Krieg bestehen daher dort alle Möglichkeiten. Eine sehr wertvolle Sammlung solcher englischen Antittiegs-Schriften gibt der Verlag Birk u. Co., München , unter dem Titel„Kriegsgegner in England"(68 Seiten, Preis 50 Pf.) heraus. Es enthält die Uebersctzung von 20 Aufrufen der kriegsgegnerischcn Organisattonen und Artikeln aus englischen Zeitungen. Das Vorwort erhofft nicht ohne Grund, daß die Arttkel„ihren Ein- druck auf den deutschen Leser nicht verfehlen werden, weil die Sachlichkeit und Menschlichkeit, welche sie auszeichnen, an die- selben Eigenschaften bei ihm appellieren."
Die dritte deutsche Kriegsanleihe. Durch die„Nordd. Allg. Ztg." und durch Wolffs Tele- graphenbureau ist ausführlich über eine Unterredung berichtet worden, die Staatssekretär des Reichsschatzamtes Dr. Helfferich mit einem Journalisten über die englische Kriegsanleihe gehabt hat. Offenbar hat es sich hierbei aber lediglich um die An- kündigung der dritten deutschen Kriegsanleihe gehandelt. Helfferich sagte u. a.: Wir haben bisher mit unfern beiden Kriegsanleihen rund 13 500 Millionen Mark=-= 660 Millionen Pfund Sterling aufgebracht gegenüber einem bisherigen Anleiheergebnis von 331 Millionen Pfund Sterling bei den Engländern. Unfern weiteren Bedarf werden wir auf demselben geraden und einfachen Wege der Begebung fünfprozentiger Kriegsanleihen decken. Wir brauchen keine künstlichen Reizmittel. Vielleicht können wir den Ausgabekurs der dritten Kriegsanleihe wieder etwas höher setzen.— Die„Verl . Neuest. Nachr." können nun ver- sichern, daß die Aeußerungen des Staatssekretärs Helfferich in Bank- und Börsenkreisen recht guten Eindruck gemacht haben. Daß eine dritte deutsche Kriegsanleihe— vielleicht zum Herbst— nötig wird, sei bekannt. Recht erfteulich sei aber, daß der Kurs für die dritte Anleihe abermals eine Er- höhung erfahren dürste._ Familienunterstützung. In Erläuterung der Ziffer 1 des Runderlasses vom 28. April d. I. betr. die Unterstützung von Familien in den Dienst getretener Mannschaften(A. V. Bl. S. 269) wird bemerkt, daß vom 1. Mai d. I. ab auch die erwerbsunfähigen Eltern und Großeltern derjenigen aktiven Mann- schaffen zu unterstützen sind, die in Friedenszeiten als deren einzige Ernährer gemäߧ 32,2a der Wehrordnung zurückgestellt worden wären, die aber wegen des Krieges und nnt Rücksicht auf§ 99,1 a. a. O. nicht reklamiert worden sind. Diese Voraussetzung für die Unterstützungsbewilligung muß in jedem Einzelfall von dem Zivilvorsitzenden der zuständigen Ersatz- konimission anerkannt sein und die betreffenden Mannschaften müssen ihren erwerbsunfähigen Eltern und Großeltern tat- sächlich Unterstützung gewährt haben.— Vorstehender Erlaß des Ministers des Innern wird vom Kriegsministerium zur Kenntnis der Armee gebracht. Ausweise in Familienunter- stützungsangelegenheiten sind künftig allen aktiv dienenden Mannschaften— für die rückliegende Zeit nur auf Antrag— auszuhändigen. Die ursprünglich vorgeschriebene Aufführung aller unterstützungsberechtigten Famllienaugehörigen auf der Rückseite der Ausweise fällt fort.
Beschlagnahme von Lnfteiweih. Der Reichskanzler hat auf Grund des Patentgesetzes vom 7. April 1891 alle durch Patente geschützten oder noch zu schützenden Verfahren zur Herstelung von Ei- w eitz mit Hilfe der Hefe(aus der Luft), be- schlagnahmt. Damit soll die Sicherherstellung der Maffenerzeugung von Eiweiß für Nahrungs- und Futterzwecke fi-r die Zukunft gewährleistet werden.
Das Lob der Armen. In hohen Tönen preisen französische Blätter die Taten und Leistungen der armen Proletarier in der Armee. So schreibt der„ G a u l o i s": „Unter denen, die sich schlagen, verdienen noch die meiste Be« wunderung die Armen, denn sie sind die einzigen, die nichts zu verteidigen haben— als das Vaterland." Im„Echo de Paris" begeistett sich der Akademiker Maurice Barrös für die Zöglinge der„öffentlichen Unterstützung": „Die Kinder der öffentlichen Unterstützung zeigen, daß sie dieser Fürsorge wert sind. Denn die Tabelle... weist für das Seine-Deparlement«19 Namen von Freiwilligen auf. 383 sind auf dem Felde der Ehre gefallen, 694 wurden verwundet, einer ist Ritter der Ehrenlegion , acht haben die Militärmedaille erhalten, acht wurden zu Offizieren ernannt... Ihre Wiege stand in einem Verwaltungsbureau. Das verteidigen fie."
Im„Jntransigeant" schwärmt ein Poet: „Wenn meine Leier aus grünem Holze klangvollere Saiten hätte, würde ich die armen Namenlosen besingen, die um so Helden- hafter waren, als fie wußten, daß man sie nicht kannte. Diese Jungen von der Scholle, von der See und aus der Fabrik, die ein Ideal einen einzigen Augenblick lang mit seiner sonnigen Klarheit erleuchtete, und die gestorben sind wie sie gelebt haben: im Dunkel des Unbekanntseins." Zu diesen Preisgesängen bemerkt die„ B a t a i I l c Syndicaliste": „Niemals sind die Armen mit so viel Lobsprüchen bedacht worden als in diesen Kriegszeiten. Niemals hat man bei ihnen so viel Tugenden entdeckt. Sie konnten im Laufe ihres elenden und düsteren Parialebens hundertmal mehr Heroismus ent- wickeln, als sie auf dem Schlachtfelde gezeigt haben: niemand hat es bemerkt, niemand ist ihnen zu Hilfe gekommen, niemand hat ihren Ruhm verkündet. Da kommt der Krieg, und alles ändert sich. Der niedrige Arbeiter erscheint plötzlich der Bewunderung wert, und die Zeitungen singen sein Lob. Nicht wahr, das ist ein Gegenstand zum Nachdenken für die Arbeiter."
Die Gemeindewahlen in Holland . AuS Amsterdam schreibt man unS: In der ersten Juli- Woche erneuern die holländischen Gemeindevertretungen ein Drittel ihrer Mitglieder. Bis zum 29. Juni müssen die Kandidaten nomi- niert sein. Die Wahlbewegung ist diesmal, ohne gerade leiden- schaftlich zu sein, recht lebhaft. Der Burgfrieden, für den bei manchen bürgerlichen Parteien Stimmung vorhanden war, ist nicht bewahrt worden, vor allem infolge des Entschlusses der Arbeiter- Partei, im Hinblick auf die wichtigen Probleme, die den Gemeinden in der nächsten Zukunft gestellt sein werden, ihren Einfluß in den kommunalen Körperschaften möglichst zu verstärken. Namentlich ist es in Amsterdam , wo unsere Genossen, die den Kampf auf der ganzen Linie aufnehmen, auf Erfolge rechnen. Die sozialistische Fraktion besaß bisher ein Drittel der Sitze, nämlich IS. Die Ge- nossen hoffen auf einen Gewinn von zwei, vielleicht auch mehr Mandaten. Die bürgerlichen Parteien gehen in den Amsterdamer Bezirken, wie auch sonst im Lande, mit einer nach den lokalen Ver- hältnissen wechselnden Taktik vor, teils mit Achtung des bisherigen Besitzstandes, teils in mehr oder minder weit reichenden Koalitionen, teils auch mit selbständigem Wettbewerb. Vom Ergebnis der Wahlen hängt besonders auch die Art der Deckung der den Gemeinden durch den Krieg entstandenen finanziellen Lasten ab. Die bürgerlichen Parteien sind im ganzen und großen für Steuerzuschläge, die Arbeiterpartei fordert eine von den Be- fitzenden zu wagende einmalige Abgabe.
Die Opposition in Frankreich . Der„Berner Tagwacht" wird aus Paris geschrieben: Der Bericht der Parteiföderation Haute Vienne wird allem Anschein nach zum Wendepunkt in der Geschichte der französischen soziattsttschen Bewegung seit dem Ausbruch des Krieges werden. Nun erst beginnt sich die Opposition als bedeutende Kraft im Organismus der Partei zu konstttuieren. Bis jetzt haben wir nur mit schwachen Regungen des opposilionellen Geistes zu tun gehabt, ausgenommen die syndikalistischen Kreise, denen in der Person des Genossen M onatte das fran- zösische Proletariat zur Rettung seiner Ehre zur Zeit des größten Zerwürfnisses verpflichtet ist. N i c o d, der als erster gegen den Nationalismus der Parteizentren auftrat, konnte sich nur auf eine schwache provinzielle Gruppe(die Föderation des Departements Ain) stützen, deren Blatt nach der„Verbannung" des Genossen Iiicod in die Kaserne seinen Kampfcharakler wieder verlor. Auf der Fe- bruarkonferenz der Departementsseiretäre der Parteiföderationen, die vor der Londoner Konferenz der„Tripelentente-Sozialisten" stattfand, trat neben Nicod noch der Abgeordnete des Departements Jssre (Hauptstadt Grenoble ) Raffin-Dujance als Vertreter der Opposition auf. Er vertrat schon eine sehr starke guesdistische Partei- organisation, konnte aber zu dieser Zei noch auf keine klare Positton der letzteren sich stützen: sie folgte, durch die allgemeine Mobilisation blutlos geworden, wie die übrigen Parteiorganisationen, passiv den Spitzen der Partei. Die Politik des Burgfriedens, des Friedens zwischen den Parteien, die in der Teilnahme am Ministerium der„nationalen Verteidigung" ihren Ausdruck fand, mutzte in den Arbeitermassen, schon unabhängig von den Erfahrungen des Krieges selbst, eine Reattion hervorrufen. Die französischen Sozialisten waren gezwungen, von einer wirklichen, nicht nur platonischen Verteidigung der Interessen des Proletariats und der bürgerlichen Freiheiten Abstand zu nehmen, obwohl diese von der republikanischen Regierung fortwährend mit Füßen getteten wurden. Die Teilnahine an der parlamentarischen Kontrolle, die Ausübung des Jnterpellattonsrechts wurden zu einer Fiktton, und die Partei, die sich eingebildet hat, daß die bürgerliche Gesellschaft sie nun endlich als polittschen Faktor gleichen Rechtes anerkannt habe, sah sich kraftlos, ihre Presse vor der reaktionären Zensur, ihre Mitglieder vor den Verfolgungen der Polizei und der Militärgewalien zu verteidigen, sowie die Arbeiter von der schamlosesten Behandlung seitens der Bourgeoisie in allen den Fällen zu schützen, wo es die vom Kriege verlangten Opfer zu der- teilen galt. Es ist ganz natürlich, daß die ersten Proteste aus den Parteikreisen, die noch von der Ideologie des Sozialpatriotismus hypnotisiert sind, sich nicht gegen die Teilnahme des Sozialismus am Kriege selbst auslehnten, sondern gegen die mit dieser Teilnahme verbundene Entsagung von einer oppo- sitionellen Taktik in der inneren Politik. Als die parlamentarische Fraktton die Berufung Albert Thomas zum Staatssekretär im Kriegsministerium erörterte— die Berufung, die, Notabene gesagt, nur das eine Ziel verfolgte, die Sozialisten in bezug auf ihre sehr unangenehm gewordene Kritik des Kriegsministeriums zu binden, des Ministeriums, das als Hort der Klerikalen und der Reaktionäre angesehen werden muß und das besonders hinsichtlich der skandalösen Kriezslieferungsbedingungen kompromtttiert worden war—, als also die Fraktion die genannte Berufung erörterte, trat gegen diese eine ganze Reihe von Abgeordneten auf, und ihre Annahme wurde nur auf daS energische Drängen GueSdes und SembatS nttt 41 gegen 16 Stimmen beschlossen. Unter denen, die dagegen gestimmt haben, waren so- gar solche vom Anbeginn des Krieges dem Nationalismus mit Haut und Haar ergebene Führer wie Compsre Morel. In der Parleipresie hat das Blatt von Limogcs, der, P o p u- laire du Centre", den Fraktionsbeschluß offen kritisiert, indem er erklärte, daß man zu Anfang deS Krieges noch mit bestem Ge- wissen Illusionen über die Bedeutung der Teilnahme am Ministerium haben konnte, daß aber jetzt die Erfahrungen mir Guesde und Sembat die Partei zu einer strikten Ablehnung des MinisterialiSmus zwingen. Dieses Auftreten war die Fortsetzung einer vorsichtigen oppo- sitionellen Kritik, die in dem Blatt von Limoges schon seit einigen Monaten von einem namhaften GueSdisten, Paul Fort , geführt wird. Seiner eifrigen Propaganda ist auch die Kundgebung zu ver- danken, die von der Föderation Haute Vienne veranstaltet wurde und die auf die Patteispitzen den Eindruck einer unerwartet > geplatzt« Granate machte. Dieser Sindnick war um so stärker, da
die Föderation Haute Vienne eine der größten in der Partei ist. Nach Paris und Lille -Roubaix besitzt Limoges die stärkste Parteiorganisation. Von Jien sechs Abgeordneten des Departements Haute Vienne sind vier Sozialisten. Dabei ist Limoges , ähnlich wie Lille , ein Hort des Guesdismus und seine„Erhebung" ist um so symptomatischer, als Jules Guesde und die Spitzen der französischen Marxisten zu den täligsten Propagan- disten der Versöhnung des Proletariats mit dem Kriege geworden waren. In der Sitzung der permanenten Verwaltungskommission der Partei, in der der Bericht der Föderation Haute Vienne zur Sprache kam, wurde der„Aufruf" der Sozialisten von Limoges vom alten Führer der französischen Marxisten, Jules Guesde , sowie auch von E. Vaillant in der schärfsten Weise verurteilt. Es wurde beschlossen, eine Antwort auf die im genannten Bericht enthaltene Kritik der Pattei auszuarbeiten und an die Organisation zu ver- senden. Im lokalen Pariser Föderationskomitee versuchte E. V a i l I a n t, der Versendung des Berichtes, der von der französischen Parteipresie noch nicht veröffentlicht ist. an die Sektionen der Pariser Rayons entgegenzutreten. Im Laufe der Debatte er« klärte ein altes Mitglied des Komitees: Wenn beschlossen wird, den Bericht nicht zu versenden, so werden die Pariser Arbeiter die russische Sprache erlernen müssen, um zu er- fahren, was sich in der französischen sozialisti- schen Partei ereignet. Der Bericht der Haute Vienne. den weder die„Humanits" noch die„Guerre Sociale" auch nur mit einem Worte erwähnten, wurde ja nur in dem russischen sozialdemokratischen Blatt„Nasche Slowo" ver- öffenllicht. Allein die Talsache, daß ein oppositionelles Partei- dokument eben auf diesem Wege in die Oeffentlichkeit gelangte, hat die Führer fürchterlich düpiert. Ihre Verlegenheil und Eni- r ü st u n g wurden noch größer als bekannt wurde, daß der Bericht in der. B e r n e r Tagwacht" erschienen ist. Das Pariser Föderationskomitee hat aber doch beschlossen, den Bericht an die Sektionen zu versenden, wo seine Erörterung schon begonnen hat. Diese Erörterung hat gezeigt, daß es überall nicht an Elementen mangelt, die nur auf das Zeichen warten, um ihre tiefe Enttäuschung über die offizielle Politik der Partei zu bezeugen und zu formulieren. In der Provinz hat diese Enttäuschung, wie es scheint, noch breitere Kreise erfaßt, und, so weit uns bekannt, wird eine Reihe von Organisationen den Losungen von Limoges sich an- ch ließen. Das hat die Föderation Aube(Hauptstadt Trohes) schon beschloffen. Diese Föderation wird ebenfalls zu den guesdi- stischen gezählt. Was aber besonders charakteristisch rst, das ist die Tatsache, daß das Departement Aube im Gebier der Kriegs- operationen gelegen und eines seiner Teile sogar von der deutschen Armee besetzt ist. Die chauvinistische Preffe läuft schon Sturm. DaS„Echo de Paris" und„Bonnet Rouge" haben Artikel über die„Ränke der Pazifisten" gebracht, die eine Kampagne zugunsten des Friedens organisieren wollen. Um die begonnene Bewegung zum Stehen zu bringen, gedenken die Parteizentren im Juli den Nationalrat der Partei einzuberufen, damit er mit seiner Mehrheit ihre Politik des ver- flossenen Jahres sanktioniere. Es ist aber sehr wahrscheinlich, daß sie sich verrechnen werden. Der Nationalrat wird zu einer Arena werden, auf welcher sehr wohl eine geschloffene Minderheit schließlich formieren und vereinigen könnte. In den syndikalistischen Kreisen schreitet die Bewegung immer weiter und wird immer stärker. Nachdem der Verband der Lyoner Syndikate— Lyon ist nach Paris das erste syndikalistische Zentrum— eine Reihe von Versammlungen einberufen hat, in welchen dem eingeladenen Referenten M e r r h e i m das Vertrauen ausgesprochen und die Solidarität der Versammelten mit seiner Tätigkeit im Allgemeinen Arbeitsverband(Oonksckbratiou gsniSrala du travail) bezeugt wurde, hat nun auch der Verband der Syndikate eines anderen großen industriellen Zentrums, St. Etienne, einstimmig beschlossen, demselben Merrheim sein Vertrauen auszu- sprechen und ihm von neuem das Mandat für die Vertretung dieses Verbandes im Komitee der Konföderation anzuvertrauen. Alles spricht dafür, daß in einer nicht fernen Zukunft das von der bürgerlichen Preffe so schön gefärbte Idyll des französischen Burgsriedens' durch die ersten bedeutenden Symptome der Ver- chärfung des Klassenkampfes gestört sein wird... Zu dem gleichen Thema wird dem Basler„Vorwärts" unter dem Titel„Sozialistische Stimmung in Frankreich " aus Paris geschrieben: „Man darf aus den Kundgebungen einzelner Führer nicht auf die Stimmung der Masse der Parteimitglieder schließen. Wir er« innern zunächst daran, daß die sozialistische Partei Frankreichs und die Partei Belgiens erst recht durch den Krieg völlig desorganisiert ivorden sind. Alle entscheidenden Beschlüsse sind von der Partei- r a k t i o n und dem Exekutivausschuß gefaßt worden, ohne daß die Parteimitglieder dazu Stellung nehmen konnten. Es ist möglich, es ist sogar wahr- scheinlich, daß die Parteimehrheit diese Beschlüsse der höchsten Parteikörperschaften gebilligt haben würde. Denn der Einiritt von Sembat und Guesde gilt nicht als eine politische Teil- nähme an der Regierung, sondern nur als der eklatanteste Beweis, daß die Sozialisten entschlossen sind, ihre Pflicht bei der Verteidi- gung des angegriffenen Vaterlandes zu tun. Daß sie sich damit solidarisch mir der Regierung erklärten und ihre eigene Aktion an die Regierung banden, das zu erkennen, dazu fehlte es damals, als die Deutschen vor Paris standen, an der nötigen geistigen Ruhe. Seitdem hat sich ein immer breiter werdender Spalt zwischen der Masse der Parteianhänger und ihrer Führer aufgetan. Zunächst hatte man geglaubt, daß der Krieg nur von kurzer Dauer sein werde. Das Losungs- wort war:„Für die Freiheit und Unabhängigkeit aller Nationen, auch der deutschen : Krieg dem Kriege". Die Machenschaften der Reaktion, die Kriegshetzereien, die die Regierung gewähren ließ, brachten die erste Verstimmung. Die Haltung Rußlands gegenüber den nationalen Minderheiten und den Sozialisten stieß gleichfalls viele vor den Kopf, die Redensarten von dem Frieden, der nicht eher als in Berlin diktiert werden dürste, machten erst recht bedenklich. I« mehr sich der Krieg hinzog, desto häufiger stellte man sich die Frage:„Was kann der Sozialismus, was kann daS französische Volk dabei gewinnen?" Das Mißttauen in die offiziellen Ver- kündigungen, daß man nur einen Verteidigungskrieg führe, fraß sich ein.... Wen täuscht man? Das ist der Grundton der Kommentare, die in den Parteiversammlungen immer häufiger zu hören waren. Die Ablehnung der Parteileitung, mit der Internationale eine gemeinsame Friedensaktion zu unternehmen, verstimmte vollends. Die Ver- lröstungen auf einen baldigen siegreichen Frieden zogen immer weniger. Gegenwärtig wird in allen französischen Parteiorgani- 'ationen ein Antrag der Organisation des Departements Haute- Vienne , einer der stärksten Organisationen Frankreichs , beraten, der verlangt, die französische Partei solle ihren ablehnenden Standpunkt zur Rekonstituierung der Jnternattonale aufgeben. Es ist möglich, sogar sehr wahrscheinlich, daß die Mehrheit der Partei sich für den Antrag erklärt. Es erscheint jedoch noch ehr zweifelhast, ob trotzdem der Nationalrat — eine direkte Vertretung der Departementsverbände— in diesem Sinne entscheiden wird. Einem solchen Entschluß stehen verschiedene moralisch schwerwiegende Hinderinffe im Weg.... Aber selbst wenn das Mißtrauen in der deutschen Sozialdemo- kratie weggeräumt werden könnte, bliebe immer noch die große Schwierigkeit, daß die französische Sozialdemokratie sozusagen offiziell in der französischen Regierung vertreten ist. was der elfteren vor- läufig die Teilnahme an einer internationalen Aktion so gut wie unmöglich macht. Diese Schwierigkeit könnte nicht gelöst, sondern nur umgangen oder gewaltsam durchbrochen werden...