Nr. 192. 32. Jahrgang.
1. Sfilnp des Jurairts" Kerlim Bolkotilatt.
Witwch, 14.|«li 19(5.
Die Herren und Sie Gemeinen. (Die Demokratisierung des englischen Parlaments, Hl.) Bon Ed. Bernstein. II. Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts nimmt die politische Parallelität der beiden Parlamentshäuser wieder ab, und im Laufe des IS. Jahrhunderts tritt an ihre Stelle eine zunehmende politische Un- gleichheit. Aus der Whigpartei geht die liberale Partei hervor, und diese entwickelt sich zur liberal-radikalen Koalition. Es geschieht das durch immer stärkere Rücksichtnahme auf die Tendenzen der neuen Schichten des breiten Bürgertums, Kleinbürgertums und der Arbeiterklasse, denen die Wahlreformen Einfluß auf die Politik der- schaffen. Was aber diese Partei durch Rekrutierung von links ge- tvinnt, verliert sie durch Ueberläufer nach rechts. Immer mehr An- gehörige der alten Whigfamilien flüchten sich in die geöffneten Arme der Torypartei, die sich auf ihre Weise gleichfalls verjüngt, erst sich als konservative Partei neuorganisiert und seit dem Zu- sammenschluß mit den liberalen Unionisten sich gern konstitutionelle Partei oder auch Partei der Unionisten— Verfechter der staats- rechtlichen Einheit(Union ) Englands und Irlands — nennt. Auf diese Weise ist es gekommen, daß, während an der Wende zum 18. Jahrhundert die Whigs im Haus der Lords dominierten, zu Anfang des 19. Jahrhunderts Whigs und Tories sich noch die Wage hielten, zu Anfang des gegenwärtigen Jahrhunderts die Gruppierung der Parteien iin Haus der Lords die folgende war:
Konservative.... Liberale Unionisten . Liberale und Radikale.. 69 Rationalisten..... 1 70 Unbestimmt und noch minorenn 54
35t III 465 Mtglieder
Zusammen 589 Mitglieder�) Solange das Haus der Lords nicht in seiner ganzen Ver- foffung umgewandelt wird, läßt sich an diesem Verhältnis seiner Parteien nichts Wesentliches ändern. Die vielfach obwaltende An- ficht, die Liberalen könnten sich, wenn sie am Ruder sind, durch einen sogenannten Peersschub eine Mehrheit im Hause der Lords schaffen, ist durchaus irrig. Diese Möglichkert war da und wurde benutzt, solange Whigs und Tories im Haus sich nur wenig an Zahl unterschieden, so daß durch Ernennung von ein paar Dutzend neuer Peers eine Minderheit in eine Mehr- heit verwandelt werden konnte. Bei einem Unterschied von nahezu Vierhundert ist sie ausgeschlossen. Denn das Haus der Lords kann nicht gezwungen werden, sich jede beliebige Zahl von Mitgliedern aufdrängen zu lassen. Es hat das Recht, gegen den Eintritt von Personen, die es für ungeeignet erklärt, Einwand zu erheben, und der Versuch, ihm gegen 400 neue Mitglieder anzuhängen, würde in endlosen Prozessen versanden: ganz abgesehen davon, daß aus anderen Gründen die Schaffung einer so großen Zahl erblicher Gesetzgeber für eine demokratische Partei ein äußerst zweifelhaftes Experiment sein würde; andere als erbliche Peers zu ernennen aber der Krone, d. h. der jeweiligen Regierung, überhaupt nicht zusteht. So hat sich das widersinnige Verhältnis herausgestellt, daß, wenn die Wähler eine konservativ-unionistische Mehrheit ms Haus der Gemeinen schicken, diese am Haus der Lords einen willigen Helfer findet, eine liberal-radikale Mehrheit aber am Haus der Lords einen politischen Gegner hat, der dem Zustandekommen von Gesetzen, an denen ihr liegt, durch Obstruktion die größten Schwierigkeiten bereiten kann und von dieser Möglichkeit auch nach Bedarf Gebrauch macht. Zwei Umstände sind eS, welche es bisher verhindert haben, daß dieses Mißverhältnis zur Aenderung der Verfassung des Hauses der Lords geführt hat. Der erste wurde oben schon angedeutet: Wichtige Gebiete der Gesetzgebung sind dem Einspruchsrecht des Hauses der Lords entzogen. Insbesondere ist ihm durch eine Reihe von Gesetzen •) Von wenig über 100 Mitglieder bei Wiederherstellung der Monarchie hat das Haus der LordS schrittweise diese Zahl erreicht.
die Möglichkeit genommen worden, in Geldsachen dreinzureden. E3 darf am Staatshaushaltsgesetz, wie es ihm vom Haus der Ge- meinen überwiesen wird, in Einzelheiten nichts ändern, gesetz- lich steht ihm nur das Recht zu, es im ganzen gutzuheißen oder abzulehnen, und zum letzteren ist gerade zine konservative Körperschaft am wenigsten angelegt. Aber auch sonst läßt das Haus der Lords es nicht gern zum Aeußersten kommen. Einer starken Volksbewegung gegenüber hat es noch stets im letzten Augenblick nachgegeben und damit einer revo- lutionären Auflehnung vorgebeugt. Es spricht sich durch den Muud seiner Wortführer eine Art Hüterrolle zu, durch deren Erfüllung es verhindert, daß eine Zufallsmehrheit des Hauses der Gemeinen Gesetze verhänge, zu der sie kein Mandat habe, während es keinem Gesetz die Zustimmung versage, deren Verfechter die Wähler bei noch- maliger Befragung aufs neue ins Parlament schickten. Auf diese Weise führe es in anderer Form das Referendum ins englische Verfaffungsleben ein. Das klingt nun sehr bestechend, tatsächlich aber bedeutet diese Art Referendum eine arge Benachtefligung der De- mokratie. In einem Großstaat mit parlamentarischer Regierung werden die Parteien nicht auf eine einzige Reformforderung hin gewählt, fondern auf eine ganze Politik, die viele Fragen der Gesetzgebung umschließt. Die Parteien stellen vor der Wahl ein Aktionsprogramm von Maßnahmen auf, zu deren Durchführung sie sich den Wählern gegenüber für den Fall ihres Sieges verpflichten. Infolgedessen machen sie sich der Verletzung von Pflichten gegenüber ihren Wählern schuldig, wenn sie nicht, einmal an die Regierung gelangt, so viel als möglich der versprochenen Reformen zu ver- wirklichen sich bemühen. Sie können also nicht um jeder beliebigen Einzelfrage willen zurücktreten und das Land den Zufällen einer Neuwahl aussetzen. Tatsächlich kann das Haus der Lords durch das ihm zustehende Vetorecht einer ganzen Anzahl von Gesetzen seine Zustimmung verweigern, bis eine neue Bestagung der Wähler erfolgt, und hinterher das Spiel von neuem beginnen. In Hand- büchern der Liberalen und Radikalen findet man lange Listen von Reformgesetzen, die am Widerstand des Hauses der Lords gescheitert sind. Denn dieser Widerstand äußert sich, seit das Haus der Lords die ewige Domäne der Konservativen ist, ausschließlich gegen Gesetzesvorlagen der Liberalen und Radikalen. Das„Referendum" der Lords ist ein Vexierapparat, der eine be- queme Handhabe bietet, die Arbeit demokratisch gerichteter Parlaments- Mehrheiten zu sterilisieren. Das bat zu einer zunehmenden Verschärfung des Gegensatzes zwischen den Lords und den Linksparteien geführt, und eine ständige Frage in den Reihen der letzteren ist es, ob man die R e f o r m oder die Abschaffung des Hauses der Lords zur Kampfparole machen soll.„Jlsnck it or end it?"—„es ausbessern oder aus- rotten?" Die Radikalen wie auch die Sozialisten sind für letzteres, weil eine Reform des Hauses der Lords diesem neues Leben ein- flößen und seine Widerstandskraft voraussichtlich steigern würde. Aus dem gleichen Grunde sind die Rechtsliberalen und die Kon- servativen für Reformierung des Hauses der Lords, dessen jetzige Verfassung nämlich auch den letzteren manche Unbequemlichkeiten verursacht. Zum Glück herrschen darüber so weitgehende Meinung?- Verschiedenheiten, daß es einstweilen noch. bei., der anderen Entwicklung, nämlich der schrittweise vorgenommenen Be« schränkung der Rechte der Lords verblieben ist. Es ist freilich der umständlichere Weg, aber er ist der weniger gefährliche Weg. Wie der schon geschilderte Entwicklungsgang des Wahlgesetzes, kennt auch er bis jetzt keine Reaktion. Ein sehr bedeutsamer Schritt nach vor- wärts auf ihm wurde nach harten Kämpfen in der jetzigen Legis laturperiode erzielt. Im Jahre 1909 hatten die Lords dem von Lloyd George eingebrachten Budget gegenüber den ungewöhnlichen Schritt getan und ihm unter der Begründung die Zustimmung ver- weigert, es sei das kein einfaches Finanzgesetz mehr, sondern ver- stecke unter der Hülle eines solchen allgemeine Gesetze weittragendster Art. Daran war etwas Wahres, aber die Liberalen beriefen sich darauf, daß schon in früheren Jahren das Budgetrecht als Mittel gedient habe, die Reform von Gesetzen zu verwirklichen, die in das
Gebiet des Finanzwesens eingreifen. Im Streit darüber kam es im Jahre 1910 zweimal zu Neuwahlen, und als auch die zweire Wahl eine antikonservative Mehrheit geliefert hatte, mutzten die LordS nicht nur in die Annahme des Lloyd Georgeschen Budgets willigen, sondern auch einer Vorschrift die Zustimmung erteilen, wo- nach eine Gesetzesvorlage, die in einer Legislaturperiode in Pausen von je einem Jahr dreimal vom Hause der Gemeinen mit Mehrheil beschlossen wird, auch ohne Zustimmung des Hauses der Lords Ge- setzeskraft erlangt. Damit ist das Vetorecht der LordS zwar noch immer nicht aufgehoben, aber wenigstens soweit eingeschränkt, daß die Gefahr, auf Umwegen der erblichen Kammer die Macht eines Oberhauses" zuzuspielen, als beseitigt gelten kann. Die Lords haben immer noch gewisse Rechte von Bedeutung Sie dürfen von sich aus Gesetzentwürfe einbringen, GesctzeSentwürfe des Hauses der Gemeinen amendieren, und ihre Mitglieder aus der Juristenwelt bilden, wie oben berichtet, die höchste Berufungsinstanz in Rechtsfragen. Es hieße unbillig sein zu verschweigen, daß auch die Liste der Gesetzgebungstätigkeit der Lords manche gute Arbeit aufweist. Schon aus Selbsterhaltungstrieb müssen die„Herren" dem Geist der Zeit Zugeständnisse machen. Und als Bremser der Gesetzgebung wirken sie, nachdem die neue Beschränkung ihres Veto- rechtes Gesetz geworden ist, immerhin nicht schlimmer, als die meisten, wesentlich moderner zusammengesetzten Senate anderer Länder. Unter Umständen können sie aber doch auch jetzt noch der Demokratie das Leben sauer machen. Sie können das Zustande- kommen von Gesetzen verschleppen, die weittragende Bedeutung haben, ohne vom Volk in dieser Eigenschaft so voll gewürdigt zu werden, daß eine Regierung es darauf ankommen lassen könnte, um ihretwillen das Parlament aufzulösen. Die Demokratie kann also ihnen gegenüber nicht abrüsten. Sie darf aber den Kampf mit dem Bewußtsein führen, daß in dem Jahrhunderte währenden Ringen zwischen den Lords und den Gemeinen in allen großen Krisen der Sieg jedesmal zuletzt bei den Gemeinen geblieben ist.
politische Uebersicht. Gegen die Besteuerung des Kriegsgewinus wandte sich der nationalliberale Reichs- und Landtagsabgcord- nete Schiffer in einem in Duisburg gehaltenen Bor- trage. Eine Steuer dürfe, so betonte er, nicht dazu dienen. das Amt eines„moralischen Elements" zu übernehmen; man müsse unterscheiden zwischen denen, die„uns über die Zeiten der Verteidigung hinweggebracht und mit Recht einen Gewinn gemacht haben, und zwischen anderen, dw in schwerer Zeit die Not des Volkes zu ungerechtfertigtem Ge- winn mißbraucht haben..." Dieselbe Unterscheidung zwischen dem„unsauberen" und dem„reellen" Gewinn macht auch Bürgermeister Weißen- b o r n- Halberstadt in einem Artikel in der„Kölnischen Zeitung ":; „Endlich mutz man— für den Fall, daß wir später zu einer besonderen Beschneidung des Kriegsgewinns kommen sollten, was ich nicht ganz von der Hand weise.»- auch den Forderungen zustimmen, daß nur wirkliche Kriegsgewinne betroffen werden dürfen, daß keine zu hohen Steuersätze die so unentbehrlichen und glänzenden Leistungen unserer Kriegsindustrie und ihre reellen Gewinne„bestrafen", und endlich, daß die unlauicrcn Elemente auch nachträglich noch hoch bestraft werden...." Bürgermeister Weißenborn bezeichnet weiter die Be- steuerung des Kriegsgewinns als eine„nicht zu unterschätzende Gefahr für den unentbehrlichen Unternehmergeist" und meint, daß uns die Kriegsentschädigungen unserer Feinde hinreichenden Ersatz geben würden; da wir sicher siegen würden, so heiße es für uns:„Wer den Krieg gewinnt, braucht keineKriegsgewinnsteuer"... Die Gegner der Besteuerung des Kriegsgewinns werden, von allem anderen abgesehen, für ihre Unterscheidungen zwischen den„mit Recht gemachten" und„unlauteren" Kriegs- Profiten bei den Massen des deutschen Volkes wenig Gegenliebe finden. Selbst wenn es technisch möglich wäre, die Gewinnarten
vom nordöstlichen Kriegsschauplatz. Acht Monate in russischer Gefangenschaft. Laugszargen, den 7. Juli. Als die Russen im Herbst vorigen Jahres aus Ostpreußen herausgedrückt worden waren, begann die Polizei des Zaren damit, die in den Grenzbezirken Rußlands wohnenden Deutschen tief in das Innere des Landes zu verschleppen. Von dieser Maßnahme wurden Männer, Frauen und Kinder betroffen, Leute, die seit einem Menschenalter in Rußland wohnen, und solche, die dort ge- boren worden sind. Unter den nach Sibirien Verschleppten befand sich u. a. die etwa 50 Jahre alte Gutsbesitzersfrau Julie A. und die etwa 20jährige Emnra B., ein« entfernte Verwandte der elfteren. Ein Bruder der B. und andere nahe Verwandte der beiden Frauen dienen im russischen Heere. Der schon vor einiger Zeit verstorbene A. wurde vor 45 Jahren bei Tauroggen ansässig, vor 22 Jahren kam seine spätere Frau dorthin. Sie und die Emma B. sind nun als die ersten über Schweden aus der russischen Gefangenschaft zurückgekehrt. Ich traf sie auf der Bahnhofskommandantur in Laugszargen. Ueber ihre Erlebnisse erzählen sie mir fol- gendes: Am 9. Oktober nach russischer Zeitrechnung wurden wir, mit 70 anderen Personen aus Tauroggen und Umgegend, auf schlechten Wagen zusammengepfercht, zunächst nach Skaudwil'e gebracht. Wir hatten vorher kaum Zeit, außer den Wertsachen die notwendigste Kleidung und etwas Bettzeug zusammenzupacken. In Skaudwile sollten wir in einem nassen, schmutzigen, stickigen Tor- weg übernachten. Als einige von uns dagegen protestierten, er- schienen Polizisten und drohte» mit Erschießen. Wir ließen uns jedoch nicht einschüchtern und verlangten ein besseres Quartier. Dann zogen die Polizisten ab. Wir sind auch später noch öfter be- droht und beschimpft, aber niemals tätlich mißhandelt worden. Eine Frau kam. und bot uns ein besseres Quartier an. wenn dafür bezahlt würde. Wir erklärten uns dazu bereit und konnten dann ein großes, ordentliches Zimmer beziehen. Von unwissenden Frauen wurden wir als � Germans beschimpft; ein russischer Kon- ditor nahm uns in Schutz, bezahlte das Zimmer und ließ uns Weißbrot mit Tee verabreichen. Am nächsten Tage gelangten wir auf den Fuhrwerken bis K i e l n y. Hier blieben wir die Nacht über im Gefängnis. Den folgenden Tag brachten uns die Wagen bis Szawle, wo wir ebenfalls, wie auch an den anderen Stationen, im Gefängnis kampieren mußten. In Ponewjesch, das wir am folgenden Abend erreichten, wurden uns als Zehrgeld 9 Kopeken«ingehändigt, eine Kopeke behielt der uns begleitende Soldat ein. sonstige Verpflegung gab es nicht. Wären wir mittellos gewesen und hätte nicht einer für den andern gesorgt, mancher von uns hätte Hungers sterben können. Die nächste Station war W i l n a, wo man uns auf 5 Tage ins Gefängnis steckte. Hier
gab es etwas Gefängniskost, vor der man sich jedoch ekeln mußte. Der nächste Schub brachte uns bis P e t er s b u r g, wiederum ins Gefängnis. Die Zahl der Gefangenen hatte sich mittlerweile auf 400 erhöht. Von unferm Transport aus Tauroggen allein waren unterwegs bereits zwei Kinder infolge der Leiden und Strapazen verstorben. Das Gefängnis in Petersburg hielt uns 8 Tage lang gefangen. Es war eine marter volle Z'e i t. Nur ein einziges Mal— während B Tagen— durften wir 10 Minuten lang im Gefängnishof spazieren gehen. Sonst kam keiner aus der Zelle heraus. Kein Fenster durfte geöffnet werden. Nachts konnte man infolge des Hustens, des Geschreis der Kinder, der stickigen, atembeklemmenden Lust nicht schlafen; sich am Tage zum Schlafen niederzulegen oder sitzend zu ruhen, mar streng verboten. Wir mußten die ganze Zeit in qualvollem Nichtstun verbringen. So wollten es die oft zur Kontrolle erscheinenden russischen Damen. Mit großer Freude begrüßten wir die Nachricht: Nun geht's weiter!— Alles Geld und Wertsachen sollten jetzt abgegeben wer- den. Manche versteckten etwas. Einiges das nicht geschickt genug versteckt worden war, wurde nachher.gefunden und fort genommen. Von diesem gestohlenen Gut sah niemand später etwas wieder. Dann bekam jeder 30 Kopeken Zehrgeld für die Reise auf der Eisenbahn, die uns in zweimal 24 Stunden nach W y a t k a brachte. Während der Fahrt durfte niemand den Zug verlassen; Soldaten holten uns auf den Stationen für unser Geld einige Lebensmittel, die recht teuer bezahlt werden mußten. Von Soldaten hörten wir, daß uns für jeden Tag 33 Kopeken hätten ausgezahlt werden müssen. Wo das Geld geblieben ist, weiß natürlich kein Mensch. Wir hatten viel unter Gehässigkeiten zu leiden, aber manche Soldaten waren mit rührender Sorgfalt um uns. Sie halfen uns, Sachen und Kinder tragen, gaben ihnen auch zu essen und weinten bitterlich ob der Leiden, die wir zu erdulden hatten. Während dieser Fahrt starben nochmals zwei Kinder von unserem Transport. Den weiblichen Gefangenen wurden das in Peters- bürg abgelieferte Geld und die Wertsachen zurückgegeben, die Männer jedoch bekamen von ihrem Eigentum nichts zurück. In Wyatka, wo wir Ende Oktober eintrafen,- konnten wir uns ziem- lich frei bewegen und Erwerbsgelegenheit suchen. Die SDkänner fanden Beschäftigung als Stratzenreiniger, Schneeschipper, Diener usw.„Ich", sagte die Frau,„fand Erwerb als Wäscherin für die gefangenen Deutschen , meine Verwandte als Näherin."— Unser Wochenverdienst. betrug 1� bis 2 Rubel. Von einem Hilfskomitee bekamen wir dazu monatlich 8 Rubel. Ohne diese Unterstützung hätten wir nicht leben- können. Wohl waren die Preise für Fleisch und Brot niedrig, aber die Wohnungen kosteten mehr, als wir verdienten. Für ein elendes Zimmer wurden uns für den Monat 7 bis 8 Rubel abgenommen, und Brennmaterial mußten wir dazu noch selbst kaufen. Dabei war es furchtbar kalt, bis 30 Grad unter Rull sank das Thermometer, und wir mußten schrecklich viel heizen. Die furchtbare Kälte zwang uns,»st tagelang im Zimmer zu bleiben. Im-allgemeinen-war die unwissende Bevölkerung sehr gehässig zu den Deutschen ,-aber es kamen doch nur selten Ge- Walttätigkeiten vor. In die Stimmung hatten die russischen Zei»,,
tungen und Popen die Leute hineingehetzt. Und die Hetze hörte nie auf. Man schwindelte den Leuten vor, die Russen ständen vor Berlin . Das war weiter nicht schlimm. Die leicht- gläubigen Menschen wurden aber zu fanatischem Haß aufgestachelt durch die Behauptung, die Deutschen seien schreckliche Barbaren, die überall raubten, plünderten und Frauen schändeten. Die russischen Gefangenen würden schrecklich behandelt; sie müßten hungern, man schnitte ihnen die Ohren ab, viele würden erschossen und sogar geschlachtet, um verzehrt zu werden, denn in Deut s ck- land gäbe es nu'r noch Brot aus Stroh. - Sehr oft wurde uns vorgehalten: Wir lassen Euch hier leben, tun Euch nichts, aber die Deutschen behandeln unsere Soldaten so schlecht. — Und dann erzählte man uns die schrecklichsten Greueltaten. Gebildete Russen sagten wohl: DaS kann nicht wahr sein, ober die unwissenden Menschen glaubten, was die Popen sagten. In der letzten Zeit unseres Aufenthalts in Wyatka ist die Stimmung teilweise umgeschlagen; man glaubt nicht mehr, was die-Regie- rungsblätter schreiben. Das kam so: Viele der gefangenen Zivilisten konnten in Wyatka keine Beschäftigung finden. Sie bekamen die Erlaubnis, noch Moskau zu fahren, wo Arbeiter ver- langt würden. Dann brach in Moskau die Revolution aus, die gefangenen Deutschen wurden zurückgeschickt. Sie er- zählten, was sie erlebt hatten, und dann wurde eS auch in der Be- völkerung von Wyatka unruhig. Man murrte, weil immer noch mehr Soldaten verlangt, immer noch mehr Männer zum Kriegs- dienst eingezogen wurden. Das sei zwecklos, so hieß es, als die Wiedereroberung Prz'emyfls durch die Deutschen und Oesterreicher bekannt wurde.„Unsere Truppen brauchten pieke Monate, um die Festung zu nebmen; wenige Tage genügten, um sie wieder hinauszuwerfen." Solche Stimmen ließen � sich vernehmen, und die Ansicht gewann Boden, die russische Wider- standskraft sei gebrochen. Weiteren nutzlosen Blut. vergießen und Menschenverlusten müsse Rußland durch F r i e- densschluß ein Ende machen. Als Beweis dafür, daß die Re? gierung überall die Revolution wittere und daß sie der Truppen nicht mehr sicher sei, wurde folgendes Vorkommnis gedeutet: Viele russische Soldaten deutscher Abstammung, die schon eine Reihe von Kämpfen mitgemacht batten, wurden plötzlich nach Sibirien abge- schoben und dort in gleicher Weise interniert wie die deutschen Zivilgefangenen. Nach Wyatka kam ein Schub aus der Festung Kowno. — Gefangene österreichische Soldaten sahen wir sehr viele, aber keinen einzigen deutschen, sagten mir die Frauen noch. Endlich hatten die Bittschriften der Frauen, in welchen sie Hajen, wieder in die alte Heimat zurückkehren zu dürfen, Erfolg; am 6. Juni russischer Zeitrechnung konnten die beiden Frauen abreisen.'Ob ihnen noch andere von den Gefangenen folgen werden, davon ward ihnen nichts bekannt. Nun sind sie auf dem Wege, thr früheres Heim wieder aufzusuchen; aber sie baben sich schon mit dem Gedanken vertraut gemacht, von ibrem Eigentunr wenig oder gar nichts mehr vorzufinden. Unter russischer Herr- schaft möchten sie auf keinen Fall weiterleben! Düwellt KÄegSberichterstntter.