Nr. 203— 1917
Unterhaltungsblatt öes vorwärts
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Zreitag, 27. Juli
Die Petersburger Revolutionstage. In �Nya Dagligt Allahanda" schildert ein neutraler Äugen- �euge, der soeben von Petersburg nach Storkholm zurückgekehrt«st, seine Erlebnisse während der jüngsten blutigen Revolten, die in der Hauptstadt stattgesunden haben. Er befand sich mitten im Kugel« regen und konnte sich daraus gerade noch mit heiler Haut retten. Am Montag, den 16. Juli: so berichtet der Schwede, nahmen die Unruhen im Zusammenhang mit der Minister krise ihren Anfang. Schon am Vormittag rotteten sich trotz de? Verbotes de ? Arbeiter» und Soldatenrates die Arbeiter aus dem Newskidistrikt zu Demon» strationen zusammen. ES gelang ihnen, mehrere Regimenter von Bolschewiki auf ihre Seite zu bringen, und bald sah man bewaffnete Soldaten in Autos dabinjagen, die mit Maschinengewehren versehen waren. Die Straßenbahnen wurden angehalten; in den Depots wurden Maschinengewehre aufgestellt, die sofort jeden Wagen zu beschießen drohten, der sich in Gang zu setzen versuchte. Gegen Abend war die Menschenmenge auf dem NewSki-Prospekt auf unae- fähr öS 000 Personen angewachsen. Borläustg blieb alles ruhig, bis gegen 10 Uhr plötzlich ein Schutz fiel, der einen unbeschreiblichen Tumult hervorrief. Wer den Schuß abfeuerte, weiß man nicht; jedenfalls bildete er das Zeichen zu einer allgemeinen Schießerei. Man zielte nicht, man schoß ganz einfach darauf los. Frauen und Kinder waren die am schwersten Betroffenen. Zum Glück wurden die Maschinengewehre nicht in Tätigkeit gesetzt, obgleich der Augen« zeuge allein auf dem Newski-Prospekt gegen 30 davon zählte. Vor dem großen Geschäftspalast von Gastinidvor sammelte sich die Hauptmenge. Sie begnügte sich zunächst damit, da? Warenhaus zu beschießen, wobei auch nicht eine einzige Fensterscheibe heil blieb. Bald aber drangen die Soldaten in da» Innere ein und begannen die Läger von Manufakturwaren, Pelzen und Juwelen zu plündern. Die Schäden und Verluste allein in diesem Kaufhause werden auf annähernd 200000 Rubel geschätzt. Auch Privathäuser wurden unter dem Vorwand, daß man nach Waffen suche, mancher Wert- gegenstände beraubt. Schon dieser erste Tag der Unruhen forderte 600 Opfer an Verwundeten und 20 bis 30 Tote. Hatte ober der Aufruhr des ersten TageS noch einen ungeord- neten Eindruck gemacht, so verhielt eS sich ganz ander? mit dem folgenden Tage. In unzähligen Scharen sammelten sich die Arbeiter und Soldaten vor dem Taurischen Polais, wo sie un- aufhörlich.Fort mit den zehn Kapitalistenministern!" riefen. Schließlich machte Tscheidse, der Präsident deS A.« und S.-RateS, den Versuch, die Massen dadurch zu beruhigen, daß er in die Menge rief, die kapitalistischen Minister hätten schon demissioniert. Damit gab sich aber tOe aufgeregte Menge nicht zufrieden, sondern sie zog wieder nach dem Newski-Prospekt . Hier wogten gewaltige TemonstrationSzüge von Arbeitern und Soldaten auf und ab, jeder wohl 10000 Köpfe stark. Sie erhielten noch Verstärkungen durch etwa 1ö 000 Soldaten und Matrosen aus Kronstadt , die sämtlich Anhänger der Bolschewiti waren. Trotz- dem ging alles noch ziemlich friedlich zu. bis eine Kosaken- Patrouille ohne Gewehre, aber mit Säbeln bewaffnet auf der Bild- fläche erschien. Sie ritten ruhig die breite Straße entlang. Als sie ungefähr die Milte des ersten Demonstrationszuges erreicht hatte», fiel plötzlich ein Schutz. Wie durch einen Zauberschlag brach nun- mehr ein wilder Aufruhr los. Die Maschinengewehre begannen zu tacken, und eS war eigenartig, zu sehen, welche Wirkung ein Schutz auf dem Newski-Prospekt auslösen kann. Binnen weniger Minuten waren sämtliche Türen und Fenster geschlossen, alle eisernen Jalou- sien waren herabgelassen. Alle» ging mit derartiger Geschwindig- keit. datz man darin bereits auf Uebpng �jchlietzen mutzte. Unbeschreiblich war!..die Verwirrung. Wer sich zu retten suchte, wurde umgerissen. Haufen von Verwundeten, die sich nicht.. mehr in Sicherheit bringen konnten, wurden niedergetreten. In panischem Schrecken zerschlug man Fensterläden, um auf diesem Wege einen Schlupfwinkel zu finden. Der Bericht- erstotter, der sich keine fünfzig Meter von der Stelle befand» wo der Tumult begonnen hatte, konnte sich noch mit knapper Rot vor dem Kugelregen in eine Pforte retten. Binnen einer Viertelstunde war der Newski menschenleer; überall aber lagen fortgeworfene Gewehre. DaS Feld beherrschten allein die Maschinengewehre und ihre BedienungSmannschasten. Jetzt traten die Ambulanzen in Tätigkeit. Automobile deS Roten Kreuzes fuhren ununterbrochen zwischen dem NewSki und den Krankenhäusern hin und her. Jede Apotheke war als erste BerbandSstelle eingerichtet; es schien alles erwartet und geordnet zu sein. Aber mitten in all den Wirrwarr und Schrecken tauchte ein Filmphotograph mit einem kleine» Jungen zur Seite auf und kurbelte! Gegen Abend flammte der Tumult zum dritten Male auf. Auch er begann, als wieder eine Person ganz unvermutet, von einer Kugel getroffen, zu Boden stürzte. Sofort war die Revolte in
vollem Gange. Sobald sich irgendwo Kosaken zeigten, wurden sie beschossen. Vom A.» und S.-Rat kam ein Erlaß nach dem andern, die Demonstranten möchten sich in ihre Kasernen zurückziehen. Schlietzlich kam doZ Verbot, die Straße nur im Falle unbedingter Notwendigkeit zu betreten; regierungsfreundliche Truppen erhielten den Befehl, die Straßen zu säubern. Wie eS bietz, waren die Kosaken über da» Verbot der Regierung, Schutzwaffen zu tragen, äußerst erregt. Tie PeterSburgeo Bevölkerung haßt und fürchtet die Kosaken, die aber ihrerseits trotz scheinbarer Unordnung in ihren Reihen eine wohlgeordnete Disziplin besitzen. AuS diesem Grunde legte man auch KerenSki den Ausspruch in den Mund:.ES ist an der Zeit, datz alle Russen zu Kosaken werden." UebrigenS ging das Gerücht, die Kosaken strebten eine konstitutionelle Mon- orchie mit dem Großfürsten Michael, dem Bruder des Exzaren, alS Kaiser an. Weiter wurde erzählt, die Kosaken, die sehr ungern in Petersburg sind, hätten KerenSki gebeten, ihnen drei Tage Frist zu geben, binnen welcher Zeit sie sich verpflichten wollten, dem Minister eine wohlgeordnete Stadt zu übergeben..Das geht nicht an, Kameraden", soll KerenSki ihnen geantwortet haben..Ihr sollt Euch aber bereit halten, wenn ich Euch rufe". Der Augenzeuge schließt seinen Bericht mit der Aeutzerung, die Stimmung und die Lage in Petersburg sei derart, datz eS unmöglich sei, vorauszusagen, waS das Ende sein wird.
der Zettgehalt öer Zische. ES ist heute zur Pflicht geworden, bei der ohnehin nicht großen Auswahl an Nahrungsmitteln den Fettgehalt an erster Stelle zu berücksichtigen. Freilich geschieht da« meist schon von seilen de» Verkäufers, und der Verkäufer bekommt e« am Preise zu spüren. Besonder» große Unterschiede im Fettgebalt zeigen die Fisch«, und da sie nach Einführung der fleischlosen Tage in besonderem Grade in unseren Speisezettel eingedrungen sind, empfiehlt«S sich, über sie auch in dieser Hinsicht Bescheid zu wissen. Das ist nämlich nicht so ganz einfach, da der Fettgehalt nicht nur von der Fiichart abhängig ist. sondern auch von ihrer Zubereitung und von noch anderen Um- ständen. In Zusammenstellungen des Deutschen Seefischerei- Vereins wird der Fettgehalt zunächst von srischen, getrockneten, ge« salzenen und geräucherten Fischen unterschieden. Die größten Gegensätze treten bei den frischen Fischen auf. Den untersten Rang im Fettreichtum nimmt im Gegensatz zu der Geschmacksrichtung die geschätzte Seezunge ein, die nur zu'/, Proz. auS Fell besteht, dagegen leider zu 86 Proz. aus Wasser. Ueberhaupl sind geringer Fettgehalt und hoher Wassergehalt bei srischen Fischen stets mit- einander verbunden. Den Gipfel des FettreichtumS bildet selbst- verständlich der Lachs, der sogar in frischem Zustand zu mehr als einem Zehntel an« Feit besteht und dementsprechend nur 67 Proz. Wasser besitzt. Zu den sehr fettarmen Fischen rechnen ferner der Schellfisch und sein Bruder Dorsch, ferner der Hecht und der Barsch. Der kleine Stint und die Scholle nehmen in frischem Zustand nur einen wenig höheren Rang ein, die Scholle mit nicht ganz 2 Proz. Fett. Zu den fettreichen Fischen rechnen nächst dem Lachs in absteigender Linie der Hering, die Makrele und in weiterem Abstand der Heil- butt. Besonders zu beachten ist der hohe Fettgehalt de« Hering» mit 8,5 Proz., der den der Makrele noch etwa« übertrifft. Da- gegen ist der Hering unter allen genannten Fischen, mit Aus- nähme der Seezunge, der an Eiweitzstoffen ärmste. Aeutzerst gering ist der Fettgehalt natürlich bei getrocknetem Fisch, dem Stockfisch, freifich immerhin noch grötzer als bei frischem Schell- fisch oder gar bei der Seezunge. Zudem besteht der Stockfisch zu über vier Fünfteln seines Gewicht» aus Eiweitzstoffen. Unter den .gesalzenen. Fischen erweist sich der Hering als König der Sippe. indem er mit einem Fettgehalt von fast 17 Proz. und einem Wassergehalt von nur 46 Proz. alle anderen Arten weit hinter sich lätzt. Nur die geräucherte Sprotte kommt ihm mit annähernd 16 Proz. nahe, während der Lach » in geräuchertem Zustande nur wenig mehr Fett aufweist al« im frischen. Der geräuchert« Hering oder Bückling, der gangbarste unter den geräucherten Fischen, hat zwischen 8 und 9 Proz. Fett. Endlich wäre noch der Sardinen in Oxl zu gedenken, die, obgleich sie jn Oel. schwimmen", doch selbst weniger Fett enthalten als der geräucherte Lach», die Sprotte oder gar der Salzhering. Beachtenswert ist noch die erst jüngst fest- gestellte Tatsache, datz der Fettgehalt beim Hering und wohl auch bei andere» Fischen sehr von der Jahreszeit abhängig ist, in der der Fang stattgefunden hat. Ein Hering, der zu Beginn der Fang- zeit im Mai seinem Element entzogen wird, enthält nur den sehr geringen Fettgehalt von 2>/z Proz., da« Fleisch eine« zu Anfang September gefangenen Herings hatte 33 Proz. Fett, aber der Feit- reichtum scheint dann wieder bi« Anfang März erheblich abzu- nehmen. Dazu kommen außerdem noch Unterschiede im Fettgehalt zwischen Männchen und Weibchen und auch nach der.individuellen Veranlagung".
Venedig im dritten Kriegssommer. „Wenn man von der Seescite nach Venedig kommt und in den Canal Grande einbiegt," so heißt es in einem Bericht des„Daily- Mail"-Berichtecstattcrs Hamilton Fysc,„merkt man sofort, datz das Venedig der Touristen und der Vergnügungen der Vergangen- heit angehört. Gleich über einem der ersten Haustoec erblickt man die Inschrift:„Zufluchtsstätte". Diese Zufluchtsstätten in Zeiten der Luftangriffe sind über die ganze Stadt verteilt, und die Jn- schriften gemahnen einen ständig an die Kriegsgefahr. Auch sonst wird einem allenthalben der Krieg in Erinnerung gebracht. Nirgends erblickt man dos einst so fröhliche Gedränge aus den Straßen, Plätzen und Brücken, nur selten zieht eine Gondel einsam ihres Weges. Die Fronten der berühmtesten Gebäude verschwinden hinter Ziegelmauecn und Sandsäckcn, an Stelle der Denkmäler sieht man Schutzbauten in Gestalt riesiger Holzkastcn. Am meisten verändert sind der Markusplatz und die daran anschließende Piazzetta. Bei Tage sind sie meist so verlassen wie eine Wüstenei, nur die histori- scheu Tauben sind treu geblieben, doch man denkt kaum mehr daran, sie zu füttern. Erst bei Nacht beginnt ein gedämpftes, vor- sichtiges Leben. Nur zwei Kaffeehäuser haben Musik, unter den Arkaden wandeln wenige Spaziergänger im Dunkel einher. Im Gegensatz zu früheren Zeiten, ist heute die schtvarze Nacht ein Kennzeichen Venedigs , eS ist hier noch viel dunkler als in den gefährdetstcn und behütetsten Londoner Bezirken. Aus der Rialto-Brücke sind die Läden geschlossen. Die Kausleute, die mit praktischen Dingen han- deln, machen ganz gute Geschäfte, die Händler aber, die früher mit dem Fremdenbesuch rechneten, sind heute vielfach dem Elend preisgegeben. Verschwunden sind auch die kräftigen Gestalten der jugendftchen Gondoliere. Die Gondelführer sind alte, graue, gc- beugte Männer, sie ermuntern den Fahrgast nicht mehr mit lauten Rufen, und die wenigen Fremdenführer streifen ziemlich betrübt einher, Nm sich wild auf eine Beute zu stürzen, falls sie jemals wider Erwarten einer solchen ansichtig werden."
Entfernung eines verschluckten Gebisses nach 1 7?ahren Ueber diesen in der Medizin bisher einzig dastehenden Fall wird in der»Deutschen Medizinischen Wochenschrist" berichtet: Dem Arzt wurde eine 53>Shrige Frau zugeführt, die behauptete, sie miiis« einen Knochen verschluckt haben, obne jedoch über das Verschlucken selbst nähere Angaben machen zu können. Sie fühle deutlich einen Knochen im Halse und habe seit zwei Tagen empfindliche Bc- schwerden. Aeutzerlich konnte vorerst nur festgestellt werden, daß der Kehlkopf nach rechts und nach vorn gedrängt erschien. Die Patientin konnte zwar nur angestrengt, aber ziemlich klar sprechen. Bei der Untersuchung mit dem Zeigefinger stieß der Arzt im Rachen aus einen in der Tiefe unbeweglich festsitzenden Fremd- körper. Nach Narkotisirung der Patientin und größtmöglicher Oeffnung de« Mundes konnte dieser Fremdkörper, der ausfallender- weise nach unten zu vollkommen festgewachsen war, allmählich mit dem Zeigefinger von seinen Verwachsungen gelöst und ans seinem Lager herausgeschält werden. Im letzten Augenblick entschwand er plötzlich in die Tiefe, doch konnte man ihn dann mit einer großen gebogenen Kornzange hervorziehen. Nun entpuppte sich zur allge- meinen Verblüffung der angebliche Knochen als ein 5'/� Zentimeler langes, 3 Zentimeter breites, sehr gut erhaltenes halbseitiges Gebiß mit vier Zähnen. Durch spätere Angaben der Patientin erfuhr man, datz sie im Jahre 1900, also vor 17 Jahren, einen Schlag- anfall erlitten habe und datz seitdem da» Gebiß vetschwunden ge- Wesen sei. Sie habe in der ersten Zeit heftige Schmerzen verspürt, der Kehlkopf sei auf Druck sehr empfindlich gewesen, dann aber hätten sich diese Erscheinungen so ziemlich ge- legt. Da da» Gebitz nicht mehr gefunden worden war. hatte man angenommen, datz eS bei dem Schlaganfall herauSgefalle» und dann auf irgendeine Weise verloren gegangen wäre. Dieser Fall ist bc- sonder» merkwürdig dadurch, datz die mehr al« l'/z Jahrzehnte lange Einheilung des Gebisse» allen medizinischen Erfahrungen zu- widerläuft. Ein solches vollkommene« Einheilen eine« Fremdkörpers im obersten Teil der Speiseröhre gehört zu.den größten Seiten- heiten. Jn dem vorliegenden Fall dürfte dk Erklärung hauptsächlich darin zu suchen sein, datz Kautschuk— der Hauptbestanin-il des Gebisses— eine verhältnismäßig wenig artfremde Substanz für den menschlichen Körper darstellt.__ Notizen. — Die U t ä n i a in der Tauben st ratze bringt bei ihrer Wiedereröffnung Ende Juli einen neuen Vortrag über den.Ober- engadin und den Splügen ". der in zahlreichen farbigen Bildern und Wandelpanoramen die besonders bevorzugten und beliebten Hoch- gebtrgslandschasten und Siedelungen Graubündens schildern wird.
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Möers hjarmfteö.
Von Jakob Knudsen . Sie hatten zwei Wagenstühle, und jeder saß in dem feinen.— Seit einiger Zeit war Anders es gewohnt ge- Wesen, die Peitsche so zu halten, ivie der Alte es getadelt hatte. � „Dü sollst nicht so dasitzen und die Peitsche gerad in die Lust stehn lassen. Du bist doch kein HerrschaftSkutscher." „Wie soll ich sie denn halten?" fragte Anders, mit ganz breiiger Stimme vor unterdrücktem Ingrimm. „Wie Du sie halten sollst? wirst es wohl wissen. Nach dem Schwanzriemen an dem Sattelpferd sollst Du zeigen. Sonst kannst Du ja die Leute auf den Schädel schlagen, wenn Du einen neben Dir im Wagenstuhl sitzen hast." Anders änderte die Stellung der Peitsche. „Nein, nein!— Nicht so niedrig!" rief der Alte auf- geregt und stieß ihn mit den Knöcheln hart Mischen die Rippen,„dann kann sich ja die Schmicke in den Strang ver- fangen, wenn Du die Peitsche gebrauchen willst. Da sitzest Du nun— was!— und ziehst Fische an Land, anstatt zu fahren!" Wieder ein Puff in die Seite, der ganz den Charakter einer Strafe annahm, weil er hinter der Ermahnung herkam. Bei solchen Gelegenheiten achtete Anders auf den Thyer Dialekt seines Vaters. Das mengte Verachtung in seine Erbitterung. Sein Vater war geborener Thybetvohner und nicht Vendelbewohner, was Anders erst vor ein paar Jahren entdeckt hatte. Früher hatte er geglaubt, daß sein Vater und seine Mutter beide aus Vrejby stammten. Sic waren jetzt gerade am Rande des sehr steilen Kjeldhügels.„Hier wird er Wohls Maul halten," dachte Anders für sich. „Es soll besser mit dem Steiß von der Stange weg, das Sattelpferd!" rief sein Vater im.selben Augenblick und kniff Anders in den Arm. Anders war eine recht gehärtete Natur, aber sein Vater hatte Finger wie Eisen. Er hätte fast eben- so gut eine Kneifzange benutzen köftnen. „So,— stech es ein bißchen in die Weiche mit dem Pestschenstiel, dann kommt es schon!" Anders tat es, jedoch nicht zur Zusriedenhest des Asten.
Der warf sich über die Lehne des vorderen Wagenstuhls vor. faßte mit seinen beiden Händen die deS Anders mitsamt den Zügeln und der Peitsche und stach mit dieser nach dem Gaul, uni ihn von der Stange wegzubekommen.— DaS glückte zwar auch. Pferde und Wagen jedoch waren während dieses Manövers beunruhigend nahe an den linken Wegabhang gekommen, als Per Hjannsted die Zügel wieder loSließ. Anders nahm denn nun eine schnelle und kräftige Wendung nach rechts vor, doch dadurch kamen die Pferde für einen Augen- blick nah an die Stange heran. „Wie fährst Du, zun« Kuckuck!" rief der Alte und kniff Anders ivieder in den Arm. so daß der vor Schmerz und Wut ein plötzliches Schwindelgefühl verspürte. „Das werdet Ihr zu sehen kriegen!" sagte Anders leise und bebend, stemmte die Füße gegen das Vorderbrett und ließ im nächsten Augenblick die Peitsche über die Pferde niedcrsausen. Schlag auf Schlag. Die fegten in gestreckter Karriere die lange, steile Anhöhe hinab. Wenige Sekunden danach gingen sie durch,— und der Laut des Wagens änderte ganz seinen Charakter für des Anders Ohren, er kannte den Laut gar nicht wieder, alle Unebenheit darin schwand, es war ein zusammenhängendes, gleichsam tönendes Krachen. Die Pferde wurden ganz niedrig in dem gestreckten Laufe. Anders schwang beständig die Peitsche, obwohl die Fahrt nicht wilder werden konnte. Er ivar in Verzückung. Jn diesen Augenblicken, da der Tod für sie beide weit wahrscheinlicher war als das Leben, fühlte er sich zum ersten Male frei,— frei von seines Vaters Zwang und damit unabhängig von aller Welt, frei, frei, frei!— Da war nur Gottes blauer Himmel, der höher war als er selber!— Am Ende des Hügels lag eine Brücke, dann stieg der Weg wieder. „Die Brücke, Anders, die Brücke!" wurde hinter ihm ge- sagt mit einer Stimme, die ihm ebenso neu und merkwürdig war wie das Rasseln des Wagens. Dann fuhren sie über die Brücke mit einem metallischen Laut, wie von einem einzigen Strich auf einer Riesensichel. Gleich darauf wußte Anders, daß er am Leben bleiben würde,—--- und daß er nicht einen Augenblick länger daheim sein wollte..," Bevor sie den Rand des Hügels erreichten, hatte er die Pferde wieder völlig in der Gewalt.----- Sie bogen nun in den Weg zum Tanghof ein. Anders
sah sich selber daheim vor der Türe anhalten— sah seinen Vater im Begriff, abzusteigen. Und jetzt— fühlte er es, wie der Vater da hinter ihm im Wagen saß, ohne einen Laut von sich zu geben. Eher aber würde er niit dem Alten ums Leben ringen, eh er sich»vieder vor ihm duckte!— Warum sollte denn auch so ein alter, zornmütiger und böser Mann— nur weil er der Vater war— einen immer und immer Hunzen dürfen und schinden!— Wie Anders sie haßte, diese ehrwürdigen. hitzigen, halbverrückten, herrschsüchtigen Greise,— sie verdienten es nicht besser, als daß die Jugend ihre Kräfte benützte und ihnen den Rest gäbe!-- Wie oft schon machte er seinem Grimm Luft in Gedanken. die bedeutend überstiegen. was er im Ernste meinen konnte. Er empfand das selber und geriet in Angst; er war so oft groß in Gedanken ge- wesen und unterwürfig im Handeln. Aber diesmal würde er nicht weichen,— er würde nicht toeichen! so sagte er zu sich selbst und biß die Zähne zusammen— und hatte gleichzeitig ein sonderbares, unangenehm kitzelndes, gleich- sam verkehrtes, irriges Gefühl, daß es seines Vaters Blut sei, das in ihm koche: daß er in diesem hitzigen Zorne just als seines Vaters echter Sohn erscheine. Als sie daheim auf dem Hofe hielten, sprang er schnell vom Wagen und sah jetzt seinen Vater zum erstenmal nach jenem Augenblick auf dem Kjeldhügel. Die Bewegungen des AlteU ivaren ruhig und das Gesicht buchstäblich geschlossen; man konnte die Augen nicht sehen. Anders fand auch, daß er etwas blaß wäre, doch vielleicht war es Einbildung. Per Hjarmsted Ivar auf die Erde gekommen und wallte augenscheinlich hineingehen, ohne ein Wort zu sagen, aber Anders konnte nicht warten mit seiner Angelegenheit. Er war jetzt mehr exaltiert als eigentlich erbittert, aber er hatte trotzdem in diesem Augenblick den Mut, alles zu sagen. „Ich will nicht länger zu Haus sein, Vater. Ich will morgen reisen." Der Vater sah geschwind nach ihm hin, setzte jedoch seinen Gang auf die Türe zu fort. „Ich will hier nicht länger sein, Vater. Wollt Ihr jetzt nicht mit mir reden, so geh ich heut nacht meiner Wege." „Du bist ja einsältig. Geh in Dein Bett. Bursche!" (Fortj. solgt.)