nr. 243— 1*17
Unterhaltungsblatt ües vorwärts
Mittwoch, S. September
Riga . Riga ist der Bevölkerungszahl nach die sünstgrötzte Stadt RuhlandS, die mit fast viermal hunderttausend Einwohnern nur noch von Petersburg , Moskau . Odessa und Kiew übertroffen wird. Trotz aller gewaltsamen RuisifizierungSversuche, unter denen die baltischen Provinzen während de» letzten Menschenalters zu leiden halten. bat diese von Deutschen vor 7öl) Jahren gegründete Stadt ebenso wie Mitau ihren vorwiegend deutschen Charakter bewahrt. Bremische Seefahrer waren es, die in die Bucht von Riga ver» schlagen, im Jahre 11S8 sich hier ansiedelten und de» ersten Grund zu der Stadt legten, die 50 Jahre später<1206) der Sitz des Bischofs von Riga wurde. Aach weiteren 50 Jahren (1253) wurde sie zum Sitz eines Erzbischofs erhoben. Aber in weit- lichen Dingen versagte die Stadt, die sich der Hansa angeschlossen hatte und durch den Handel mit den Hansestädlen krästig empor- geblüht war, dem Erzbischof den Gehorsam und ebenso wenig wollte sie sich als freie deutsche Hansestadt unter die Herrschaft der Deutsch - ritter beugen. Aber mit dem Verfall deS HansabundeS im 15. Jahrhundert ging auch die Selbständigkeit Rigas verloren, schon 1120 mußte sie sich der geistlichen Herrschaft wieder unterwerfen. In den Kämpfen.des deutschen Ordens mit Polen kam Riga im Jahre 1547 zuerst unter die polnische Gewalt, indem sie sich dem König Siegmund ergeben mutzte und 14 Jahre daraus wurde sie von dem letzten Heermeister von Livland förmlich an Polen abgetreten. Aber die polnische Herrschaft dauert« nicht mehr sehr lange. In dem Kriege, den Gustav Adolf von Schweden mit Polen führte, gewann er 1021 ganz Livland , und nun blieb Riga 00 Jahre lang schwedisch. Zweimal hatte die Stadt während dieser Zeil eine Belagerung ouSzuhalten. König August der Starke von Sachsen war zugleich König von Polen und durch seinen Bund mit Rutzland und Dänemark in den nordischen Krieg verwickelt worden, in dem er zunächst Riga den Schweden zu entreitzen suchte. Na» dem Siege Karl« XII . bei Narwa sah sich August von Karl selbst angegriffen, der Warschau einnahm und bis Krakau vordrang. Als aber Karl die grotze Niederlage bei Poltava erlitt<1700» und auf türkisches Gebiet ge- drängt wurde, konnte Riga sich nicht mehr halten,«s ergab sich am 4. Juli 1710 den Russen. Seit jener Zeit gehört Riga mit ganz Livland . da« im Frieden von Nhstadt(1721) von Schweden an Rutzland abgetreten wurde. dem russischen Reicks an, zu dessen fortgeschrittensten, volkreichsten und kultiviertesten Provinzen es gehört. Die Zahl der Analpha- beten beträgt in ihm wie auch in den benachbarten baltischen Pro- vinzen Kurland und Esthland nur etwa 20 Proz. gegenüber mehr als 50 Proz. im ganzen europäischen Rutzland. Der Zar gelobte im Frieden feierlich, die provinzielle Autonomie Livlands für ewige Zeiten zu erhalten, die Gerichte beim deutschen Recht, die Kirchen und Schulen bei der evangelischen Religion zu belassen. Diese Versprechungen sind ebensowenig wie die feierlichen Gelübde gegenüber Finnland gehalten worden. Trotzjbem hat sich der deutsch « Charakter deS Landes vor ollem in den Städten erhalten, und man kann Riga trotz der angestrengten Russifizierungsversuche der letzten drei Jahrzehnte als vorwiegend deutsche Stadt bezeichnen. Etwa 50 Proz. der Bevölkerung sind deutsch , russisch sind nur 20 Proz., und 20 Proz. gehören zu den Letten, die in ganz Livland die Hälfte der Bevölkerung ausmachen. Der Rest sind vorwiegend Esthen. »» « Malerisch erhebt sich Riga aus der sandigen Ebene zu beiden Seiten der Düna . Wenn man mit dem Dampfboot hier ankommt, blickt man am rechten Flutzuser in ein anmutiges Gewirr kleiner. kxummer Gätzchen mit mittelalterlichen, spitzgiebeligen Häusern, die von altehrwürdigen gotischen Kirchen mit thren hoch aufsteigenden Türmen überragt werden. Es ist die Altstadt, die bis zum Jahre 1858 eine starke Festung bildeten und in deren engen Stratzen sich jetzt«in rege« Geschäftsleben entwickelt. Wo sich früher mächtige Bollwerke erhoben, ziehen sich heute schöne Gartenanlagen hin. deren Freudigkeit durch den melancholisch sich dahinschlängelnden Stadt- kanal etwa« gedämpft wird. Schöne, breite Stratzen durchschneiden die vornehmen Viertel der Petersburger und Moskauer Vorstadt, während sich die Mitauer Voistadt, die vornehmlich von der ärmeren Bevölkerungsklasse bewohnt wird, über das linke Dünaufcr und mehrere kleine Jnselchen erstreckt. Besonders deutlich hat sich die reichbewegte Vergangenheit der livländischen Hauptstadt in den Bauten der Allstadt ausgeprägt. Riga kann zwar nicht die reichen Kunstschätze von Danzig , Hamburg , Bremen oder Lübeck ausweisen, aber aus den regen Beziehungen, die es mit diesen Handeisstädten unterhalten hat, ergaben sich doch mannigfache Anregungen, die sich noch heute im Stadt-
bild bemerkbar machen. Entgegen der ausgesprochenen hanseatischen Prägung vieler Bauten sind nur wenige Zeugen aus der Zeit desMittel- alter« erhalten geblieben. Da» älteste Baudenkmal der Stadt ist die Dom- oder Marienkirche, ein dreischiffiger Backsteinbau im UebergangSstil mit einem viereckigen Turnr. Im Frühling de« Jahre« 1201 hatte Bischof Albert I. von Appelderen, ein früherer Domherr zu Bremen , mit dem Bau von Riga begonnen, und be- reit« im Jahre 1211 konnte die Errichtung eines Dome« und eine« DomklosterS in Angriff genommen werden. Der Bau war be- reitS im Jahre 1226 so weit fortgeschritten, datz der päpst- liche Legat dort eine Synode abhalten konnte. Der Doin wurde aber im Jahre 1547 durch eine gewaltige Feuersbrunst in Trümmer gelegt, und die Basilika, die sich heute dem Auge des Beschauer« darbietet, geht auf die Mitte de« 16. Jahrhundert» zu- rück. Auch in den achtziger und neunziger Jahren de« vorigen Jahrhunderts wurden an dem Dom Erneuerungsarbelten vor- genommen. Von hervorragenden Werke» der plastischen Kunst und der Malerei bot sich im Dom nur wenig erhalten. Den schönsten Schmuck der Domkirche bildet die im Jahre 1884 aufgestellte Orgel, die mit ihren 124 Registern eine der größten Orgeln der Welt ist. Sie ist in«in reich geschnitzte» Gehäuse au« dem Anfang de« 17. Jahr- hundert« eingebaut. Vor der Domkirche, auf dem Herderplatz, hat das Denkmal diese« deutschen Dichter» Aufstellung ge- funden, der al« Prediger und Lehrer in der alten Hauptstadt Livland » einen nicht unwichtigen Wirkungskreis hatte. In Riga er- schienen auch einige seiner bedeutendsten Werke, wie die.Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit" und seine.Briefe zur Beförderung der Humanität". Zu den frühesten kirchlichen Bauten der Stadt Riga , deren Aus- führung sogleich in Stein erfolgte, gehört die St. I a k o b i k i r ch e, die im Jahre 1226 zum erstenmal urkundlich erwähnt wird. Sie war möglicherweise siir die im 13. Jahrhundert dem Stadtverbande sich anschließenden bekehrten Liven erbaut, und zwar außerhalb des umwehrten Stadtgebietes. Von dem gewaltigen Mauergürtel mit seine» Türmen und Toren, der Sliga im 13. Jahrhundert umgab, ist übrigen« kaum noch etwa« erhalten. An die besten Tage der stolzen Hansazeit gemahnt da» „Schwarzhäupterhaus". Nicht minder reizvoll al« die verschnörkelte, krause Architektur und die reichen Silber- und BildniSschötze, die cS birgt, ist die Geschichte, von der e« umwoben wird. Die Gesellschaft der Schwarzen Häupter,„äs sslscap der swarten hovede", war nämlich eine gesellige Vereinigung der reichen, unverehelichten KaufmannSsöhne Riga ». Sie hatte sich aus einer Vereinigung der dort ansässigen au«- ländischen unverheirateten Kaufherren entwickelt und wurde bald von entscheidender Bedeutung für da» politische Leben der Stadt. Ueber die Herkunft ihres Namens ist man verschiedener Ansicht. Ihre Einrichtung wurde bald in anderen livländischen Slädten nachgeahmt, und es gab in Altlivland etwa in zwanzig Orten Schwarzhäuptervereine, deren ältester der zu Reval ist. Aber diese Vereine verschwanden in, Laufe der Zeit. Nur in Riga haben sich die Schwarzhäupter bis in die Gegenwart hinein erhalten, und sie feiern nach alter Sitte noch jetzt jedes Jahr am Sonnabend nach Fastnacht die.FastnachtSdrnnken". Das Schwarzhäupter- hauS in Riga ist emS der ältesten Gebäude der Stadt. E« wurde im Jahre 1330 aus den Mitteln der Stadt aufgebaut und später den Schwarzhäuptern gegen eine jährliche Rente überlassen. Die Wappen von Riga , Hamburg , Lübeck und Bremen schmücken das Gebäude von altersher. Nicht minder bedeutsam für die geschichtliche Vergangenheit von Riga ist das HauS der Großen Gilde, das ebenfall« bis in den Anfang de« 14. Jahrhundert« zurückreicht. Der grotze Saal im Erdgeschoß wird überwölbt von einer auf sechs schlanke» Pfeilern ruhenden Decke. In diesem Saal fanden die Sitzungen der Kauf- mannSgilde statt. In der allen baltischen Hansastadt findet sich noch manche« bemerkenswerte Zeugnis aui ihrer ruhmvollen Ver» gangenheit. « Seit vor 60 Jahren die Wälle von Riga geschleift wurden, diente dem Schutz der Stadt und ihre« Hafens lediglich die kleine Festung Dünamünde, da man die Stadt selbst von Westen her durch die zwischen Mitau und Riga sich erstreckenden ausgedehnten Tirulsümpfe und durch die mächtige Düna gegen einen Angriff völlig gesichert hielt. Dünamünde selbst ist nur ein kleiner Ort von etlva 3000 Einwohnern an der Mündung de« Stromes in den Rigaischen Meerbusen , und zwar am Westufer der Düna . Eine besondere Eisenbahnstrecke verbindet Riga mit Dünamünde, dessen hochragender Leuchtturm jedem bekannt ist, der einmal auf dem Wasserwege nqch der Hauptstadt LivlandS gereist ist. Der Leuchtturm erhebt sich aus einem mächtigen Steindamm, der noch au« dem 18. Jahrhundert stammt und der den weiten Winterhafen von Riga gegen die heftigen Stürme sichert,
die allwinterlich im Rigaischen Meerbusen toben. Dünamünde de- sitzt modenre und starke Fort«, die freilich nach der Landseit« zu wenig VerteidigungSwert haben dürsten.
Volksbühne:-das Lumpeagesinöel". Zwischen SchnitzlerS Einakter.Literatur" und BolzagsnS Traglkomödie„Lumpengesindel" bestehl eine»ngerähr« Verwand:- schatt, eine zeilstoffliche Richtlinie. In jener schwing! münchnenjche, in dieser berlinerische Umwelt. Beider Stücke Entsielw» Unit eur Vierteljahrhundert zurück in die Epoche des lärmvollen„Bauern- kriege«" der sogenannten„Moderne". In beiden Fällen find.Kunst- zigeuner' die handelnden Personen. Inmitten de« gerade noch heftigen ,JSmen"-KampfeS spiele» allerlei entsprechende literar- künstlerische, soziale und nioralethische Probleme die Haupt- rolle. Von ihnen sind die Hirne jener Dickter und Künstler voll, erscheint die engere gesellschaftliche Um- gebung erfüllt— alles fiebert im Neubildungsprozeß uud defindet sich in gärender, zuchtloser Bewegung. Unterstes wird noch oben gekehrt, nicht« Bestehendes hat mehr Selwng. nur der ewige Wechsel der Begriffe und Aiischauungen ist von Bestand. So muten denn die Menschen und Zustände im„Lumpengesindel" schon ein wenig verstaubt und überlebt an. Wir fühlen: jede Zeit Hai ihre besonderen Ideale, ihre menschlichen Typen— ihr Künstler- zigeunervolk. Doch wie undifziplintrt wild diese Männlein und Weiblein sich gebärden— etwas berührt an ihnen doch sympalbiich. nämlich der Drang zum unverhüllten WahrhastigkeitSleben. mit dem Unterschied nur, datz alle« da«, was damals erst zu Literatur« Problemen verdichtet wurde, heute selbstverständliche Wirklichkeit ist. Von dem bei Wolzogen mit gar wenig Koniplimentarfarben aufgetragenen Kontrast jener Tage, die un« längst Vergangenheit dünken, wird die heutige Generation ziemlich unberührt bleiben. Deshalb ist heute eine lebendige Ausnahme de«„Lumpengesindel«" sicher. Die« umso eher, als der Schauspielkunst unserer Gegenwart weit reichere Darstellungsmittel zu Gebote stehen. Und so gelingt ei denn sämtlichen in Haupt- und Nebenrollen mitwirkenden Künstlern, das rein menschliche in diesrn so verschiedenen Eharak- tcren und Typen klar in» Licht zu stellen. Donnernder Beifall dankte e« ihnen und dem anwesenden Dichter. ek. die amerikanische.Zreiheit'. Wie e« bei Streik« in den Vereinigten Staaten unier ihrer als vorbildlich bezeichneten„höchst demokratischen" Regierung zugeben kann, schildert der schwedische„Socialdemokrat " in folgender Weise: Au« den Städten Jeroine und BiSdee in Arizona wurden 67 be- ziehung«weise 1200 streikende Mitglieder von Fachverbänden mit Wasseumacht gefangen genommen und in Wohnwagen aus den Städten deportiert. Die Fahrt ging zuerst nach Columbu» in Neu-Mexiko , wo die Behörden sich indesirn nicht aus eine Gefangensetzung der Arbeiter einlassen wollten. Hierauf wurden diese nach einem in einer Sandwüste gelegenen kleinen Platz namen« Hermanns geschafft und dort in einer Einfriedigung gesangen ge- halten<!). Als sie nahezu vor Hunger und Durst umgekommen waren, führte man sie wiederum nach Columbu«. wo sie unter Militärbewachung gestellt wurden. Aehnliche Deportationen sollen auch an anderen Plätzen de« amerikanischen Westens stattgesunden haben. und der Kriegsminister soll„so gut wie Befehl gegeben habe», die sich bemerkbar machende Streikbewegung zu unterdrücken". Da letztere viele Tausende von Arbeitern umsatzt, hat man in der Union allerding« Anlatz zu Besorgnis. Die« geschieht— fährt da» schwe- dische Blatt fort— in dem freien„demokratischen" Amerika , wo die Demokratie, von dem Demokraten Wilson vertreten, zu einer so un- geheuren Macht geworden ist I__ Nöthen. — Zum Direktor des Institut« für Infektion«. krankheiten„Robert Koch " wurde Prof. F. Reufeld, bithcr Abteilungsvorsteher an der gleichen Anstalt, ernannt. Al» Schüler Koch« hat er besonder« auf dem Gebiet der Tnberlulosesragen ge- arbeitet, aber auch an der Erforschung und Bekämpfung anderer Seuchen sich hervorragend beteiligt. — Wer hat den„Eisernen Hindenburg" auf dem Gewissen? Der Künstlerstreit um den Eisernen Hindenburg von Berlin ist durch Urteil de« Landgerichts I zugunsten des Bildhauers Georg Marschall entschieden. Somit ist der Einwand wegen der Urheberschaft, der seinerzeit von einem seiner Mitarbeiter erhoben wurde, hinfällig. — Ein technischer Literatur- Kalender soll ansang 1018 erscheinen. Er wird al« ein Gegenstück zu Kürschners Deutschen Literatur-Kalender die technisch- literarische Produttion lebender Schriftsteller des deutschen Sprachgebiete« nachweisen._
46]
Inders hjarmfteö.
Von Jakob Knudsen . Um vier Uhr nachmittags am nächsten Sonntag sahen wirklich die zwei Geschwisterpaare, von Stavn und vom Bjerrehof, in der Wohnstube des Pfarrhofs drinnen. Der Pfarrer ging im Zimmer auf und ab. Aber es wollte kein Gespräch Zustandekommen, wenn aus keinem andern Grunde, dann deswegen, weil Madam Balling mit streng wachsamem Gesicht im Zimmer Platz genommen und ihre beiden ungezogenen kleinen Jungen um sich herum hängen hatte. Sie sagte kein Wort. — Der einzige, der etwas sagte, war der Pfarrer; doch nur die allergleichgültigsten Dinge oder auch: hä, hä, hä. Das dauerte ungefähr eine Stunde. — Plötzlich erhob sich Gjatrid— und wurde im selben Augenblick bläh:— dann sagte sie mit ihrer ziemlich tiefen Stimme:„Ich möchte gern mit Anders Hjarmsted reden. Könnten wir nicht hier- hineingehen?" Sie zeigte auf die Tür nach der Stube des Pfarrers. Anders erhob sich, um ihr zu folgen. „Da drin ist gewiß keine rechte Ordnung." sagte Madam Balling eifrig und ging nach der Tür hin. „O, das macht sicherlich nichts, meinte der Pfarrer,„eL ist ja nicht—" „Ja. aber was glauben Sie, werden die Leute dazu sagen?" erwiderte sie flüsternd, aber ausgeregt dem Pfarrer. Anders und Gjatrid waren an ihr vorüber in das Zimmer geschlüpft, doch jetzt ging sie ihnen nach.— Sie fing an, rings herumzutasten, die Sachen auf dem Schreibtisch zu „ordnen". Anders legte die Hände auf den Rand des Tisches, beugte sich vor und starrte sie an. Sie ging zum Sofa hin, an den Ofen, mit ordnenden Handbewegungen, und er folgte ihr beständig. Plötzlich drehte sie ihm das Gesicht zu, sandte ihm einen blitzenden Blick und ging dann zur Türe hinaus, die sie angelehnt lieh. Anders schloß sie. Im selben Augenblick hatte Gjatrid die Arme um seinen Hals geschlungen und drückte ihr Gesicht gegen seine Wange.— Er hatte noch nie ein Weib in seinen Armen gehalten,— sie war ja nicht groß, und doch füllte
sie ihm so seltsam die Arme, schloß sich ihm so schmiegsam an; da war gar nichts Eckiges, wie wenn man mit Burschen rang. Und da war sie so unruhig, sie schluchzte, sie wandte ihr verweintes Gesicht zu ihm auf und ihre Augen waren bewegt wie daS Meer im Sturme. Anfangs konnte er nicht unterscheiden, was sie sagte, aber nach und nach hörte er: „damals könnt ich nicht anders, denn ich meinte, es wäre, als ob ich alles verlieren sollte,— aber das kannst Du ja nicht verstehen. Doch jetzt muht ich nein sagen,-- denn ich merkte, daß eS jetzt erst recht schlimm geworden war—* „Wann hast Du nein gesagt, Gjatrid?" „Dem Adjunkten-- gestern abend." „Bist Du nicht länger mit ihm verlobt?" „New, ich Hab mit ihm gebrochen, als er bei uns war." „Wenn Du von Hause fortgehn und mich heiraten willst, Gjatrid.— mögen die Alten nun Lust dazu haben oder nicht—" „WaS denn?" sagte Gjatrid,„willst Du denn dann mit den Prozessen und all dem aufhören?" „Nein, dann werd ich schon gewinnen,— dann werd ich'S ihnen zeigen I— denn jetzt denke ich zuviel an Dich, daran, daß Du da drüben bist—" „Ach, aber kannst Du das denn nicht fahren lassen?— Vater ist es doch mal gewohnt, zu schalten—" „Ja, gewohnt, zu stehlen und zu plündern und zu be- trügen— nein, dann wärst Du die Aergste, die ich heiraten könnte, Gjatrid!"— Aber Du willst mich doch haben, willst Du nicht?" „Doch, doch,— ich will Dich haben, was auch geschehn mag!"— Die Türe ging auf, einen Augenblick, ehe sie es hörten, und sie sahen Madam Balling darin stehen. Sie unternahm einen schleunigen Geschäftsmarsch zu der Kommode drüben, die Augen auf eine Tasse geheftet, die sie dort holen zu wollen schien. Anders war mit einem Sprunge bei ihr, ergriff sie fest bei der Schulter, drehte sie herum und führte sie nach der Tür zu:„Wollen Sie ivohl Ihrer Wege gehn?" zischte er ihr ins Ohr.„sonst werd' ich Ihnen zeigen—!" Sic kam in so großer Hast zur Tür hinaus, daß eS in der Wohnstube drinnen schwerlich unbemerkt bleiben konnte.
Anders wurde ganz aufgeräumt über diesen kleinen Vor- geschmack davon, selber Hand anzulegen, und ein über- strömendos Glücksgefühl packte ihn, als er Gjatrid drüben am Fenster stehen sah, verlegen und gleichsam ängstlich; er lief zu ihr hin, nahm sie wieder in seine Arme und preßte sie an sich.— dann setzte er sich WS Sofa nieder, mit ihr auf dem Schöße, und küßte sie, fuhr fort, sie zu küssen--- „Willst Du denn das nicht, Gjatrid— an einem von den nächsten Tagen— wir können gewiß den Pfarrer dazu bringen, unL zu Hause auf dem Bjerrehof zu trauen?" flüsterte er. „Nicht gleich jetzt für die erste Zeit." sagte sie:„es ist, wie wenn ich keinen Kopf hätte, seit ich es gestern abend Mutter gesagt habe, und ich weiß auch nicht. was mit Mutter geschehen könnte, wenn ich eS jetzt täte.— aber schließlich wird es ja gewiß nicht anders werden."--- AuS der Wohnstube hörte man ein ziemlich lautes und eifriges Gespräch, das kein Ende nehmen zu wollen schien; eS beruhigte sie, so daß sie sich Zeit ließen,— aber als sie endlich hineingingen, stellte es sich heraus, daß nur der Pfarrer und Madam Balling sich in der Stube be- fanden; sie begriffen nun, wer sich die lauten Worte ge- leistet hatte. „Wo ist Kirstine geblieben?" fragte Gjatrid. „Ich denke, sie ist genau da. wo Ihr Bruder ist," sagte Madam Balling.„Ja, ich muß wirklich sagen, tvcnn das Herauskommt, wozu Sie den Pfarrhof gebrauchen,— dann kann Pastor Steffensen ebensogut seinen Abschied nehmen,— und dann stehen wir da--" „Aber könnten Sie nicht hinausgehen und sie suchen und sie wieder herbringen, Madam Balling?" sagte der Pfarrer. „Und dann soll man es obendrein ertragen, von den Fremden behandelt zu werden, wie wenn--" Auch beim Abendessen wurde anfangs nicht gerade viel gesprochen. Aber die Stimmung war doch überaus verschieden gegen früher. Es war nicht schwer zu merken, datz die meisten der Teilnehmer dieser Mahlzeit in der Zwischenzeit Dinge erlebt hatten, die von der größten Bedeutung für sie waren.-- lLoxtj. folgt.)