Hr. 270— 1917
Unterhaltungsblatt öes vorwärts
Dienstag, 2. Oktober
Der Drief.
Von Alice Fliege!. Peter, der Kriegsjunge, kam auf die Welt, als fein Vater draußen im Felde die schlimmste Zeit durchzumachen hatte. Tag und Nacht dröhnte da§ Trommelfeuer, und keiner konnte mehr einen Ilaren Gedanken fassen. ES gab keine Erinnerungen mehr aus der Vergangenheit und keine Träume für die Zukunft. DaS Augenblick- liche erdrückte alles. In der ersten ruhigen Stunde nach dem Höllenlärm kam der kleine Brief in die Hände des jungen Soldaten, dem die letzen Tagen so viel grauenvolles Erleben gebracht hatten. Vor ihm schrie ein junger Russe in dem Drahtverhau, in dem er blutend und zerfetzt hängen ge- blieben war. Keiner hatte ihm helfen können, denn der Feind hörte nicht zu feuern auf, trotzdem er erkennen mußte, daß eS seine eigenen Verwundeten waren, die man bergen wollte. So schoß man auf beiden Seiten ununterbrochen weiter, und c§ hörte alles auf. was Menschen bkS jetzt geglaubt und gewollt hatten. Die Augen des Soldaten waren weit aufgerissen und starr vom Grauen des Krieges, als er den Brief las. Er enthielt nur wenige Werte, aber zwischen ihnen klangen FeiertagSglocken und jauchzten fröhliche Lieder... »Peter, der Kriegsjunge ist angekommen! Und er steht ganz auS wie Du!' So viel zurückgedrängte Sehnsucht— so viel Seligkeit hielt der kleine, helle Brief! Ein leuchtender Traum war auf die Erde nieder- gestiegen und Fleisch und Blut geworden. Hatte ein blondes Schöpf- chen und blaue Kinderaugen und trug im winzigen, roten Kinder- fäustchen eine Welt voll Glück. Aber das Glück ging vorbei an der Seele des Soldaten. In das Jauchzen des kleinen Briefes sprang von der harten Erde, auf der die todwunden Menschen lagen, ein Schrei und erstickte es. Mechanisch murmelten des Mannes Lippen die Worte, die er las. Aber sie blieben I�er für ihn. Ein schwerer, dunkler Vorhang war über die Bilder aus der Heimat gefallen. De§ Mannes Hände griffen hilflos und suchend in die lichtlose, kalte Nacht. Er wollte den Vorhang wegziehen, damit er wieder Licht und Freude sah. Er konnte eS nicht. Schlaff sanken seine Arme nieder. Wie ein Leb- loser stand er unter stöhnenden Menschen und sah mit brennenden Augen auf den kleinen Brief, der sich wie etwas Lebendiges zärt- lich in seine Hände schmiegte. Dann schüttelte er den Kopf und ein irres, ungläubiges Lächeln zuckle um seinen Mund. Irgendwo in der Welt gab es Menschen, die hüteten junges Leben, betteten es in freundliche, blumengeschmückte Räume und hielten bei jedem Atem- zuge heilige Wacht. Der Mann begriff eS nicht mehr. Kopf an Kopf waren die Menschen vor ihm niedergestürzt— wie woggemShl. Er sah das Entsetzen in den jungen Augxn und hörte den Schrei, der sich gegen grauenvolles Sterben wehren wollte. Des Mannes Hände waren müde von dem blutigen Werk, das sie Tag und Nacht und Nacht und Tag getan hatten. So müde, daß sie den kleinen Brief nun nicht mehr halten konnten. Haltlos flatterte er in die Nacht hinaus.... Schwer neigte der Soldat das Haupt auf die Brust. Unauf- haltsam stürzten die Tränen aus seinen Augen. Er fühlte eS nicht— hob auch keine Hand, den davonfliegenden Brief zu fassen oder üher sein tränennatzes Antlitz zu streichen. Als seien Leib und Seele in einem Krampf erstarrt— zusammengepreßt von dem eisernen Ring, den der Krieg geschmiedet hat.
Im lichten Raum schaukelte eine junge Mutter zu der gleichen Stunde ihres Kindes weiße Wiege. Unermüdlich dienten ihre Hände der weichen, zärtlichen Bewegung. Mit halbgeöffneten Lippen summte sie ein leises, feines Lied. Dann beugte sie sich nieder, küßte ein blondes Schöpfchen und zwei blaue Augen, die denen des Vaters so ähnlich waren.
.Peter!* dachte sie glücklich,„nun bat er wohl schon den kleinen Brief und weiß, daß du da bist! Wie wird er sich freuen---* Und die sehnsüchtigen Gedanken der Frau tasteten aus dem hellen, warmen Raum hinaus in den Krieg, de» sie doch nie erfassen können..,
�us Tolstois Tagebüchern. Soeben ist das erste der Tagebücher Leo Tolstois, die Ludwig Berndl aus dem russischen Manuskript übersetzt hat, bei Georg Müller(München) erschienen. Die Auszeichnungen, die eine bis in die Jünglingsjahre zurückreichende, fortlausende Chronik oller inneren und äußeren Erlebnisse Tolstois darstellen, bilden in ihrem Zu- sommenhang eine großangelegte Selbstbiographie von unschätzbarem Wert. Hat doch hier Tolstoi das Intimste seines Geisteslebens zu- sammenqefaßt. Ter�zorlicgende Band umfaßt die Aufzeichnungen der Jahre Z89ö— gg und enthält eine Fülle von Gedanken, die auch dort unser tiefstes Interesse erregen, wo die Dinge unter dem ein- seitigcn Winkel einer Weltbetrachtung gesehen werden, die alles der- wirft, was sich nicht in den streng begrenzten KreiS der Tolstoischen Anschauungen einfügen läßt. Das führt besonders in der die Kunst verwerfenden Kunstbetrachtung Tolstois zu Absonderlichkeiten, die sich hier und da geradezu bis zu der Idee verschärfen, daß alle Kunst, die nicht vom Volke kommt, schlecht und abzulehnen sei. Am schroffsten stellt Tolstoi sich gegen den Autoritätsglauben, der ihm die Quelle aller Uebel scheint. So verzeichnet der Tagebuchschreiber an einer Stell« seines Tagebuchs: „Nichts trägt mehr zur Verwirrung aller Begriffe bei, als der Glaube an die Autorität, das heißt eine auf unfehlbare Wahrheit und eine untadelige Schönheit von Menschen. Büchern, Kunstwerken. DaS grellste Beispiel einer solchen Verwirrung und ihrer schrecklichen Folgen, durch die auf Jahrhunderte hinaus die Entwicklung der christlichen Menschheit ausgehalten wurde, ist die Autorität der Heiligen Schrift und des Evangeliums. Statt daß man sagt: das und das ist dumm, und man bat eS fälschlich Moses , JesaiaS, Christus zugeschrieben und falsch wiedergegeben, heben die absurdestn Erwägungen und Erklärungen an, auf die man nie gekommen wäre, wenn jene leidigen Bibelvcrse nicht als heilig und daher als ver- nünftig gegolten hätten. Dasselbe gilt von den griechischen Tra- gikern, von Virgil , Shakespeare , Goethe, Bach, Beethoven , Raffael und neueren Autoritäten." Shakespeare ist Tolstoi besonder? daS Schulbeispiel einer über- schätzten Autorität, die man. wie er sagt,.erst zu schätzen begann, als man das moralische Kriterium verloren hatte". Zur Erklärung und gleichsam als Milderung für die auf einen Selbstbetrug hinaus- laufende Ueberschätzung der sog. Kunstgrößen schreibt er:„Die Leute glauben von Shakespeare , Beethoven entzückt zu sein, sind aber nur von ihren Träumereien entzückt, die Shakespeare , Beethoven in ihnen wachgerufen haben, wie die Verliebten nicht den Gegen« stand ihrer Liebe, sondern die Gefühle lieben, die er in ihnen er- weckt. Ein solches Entzücken hat keinen wirklichen Grund, keine Realität in der Kunst: dafür ist es aber vollkommen grenzenlos." Das Allheilmittel zur Kunstgesundung von der Vcrirrung, in in die uns der Autoritätsglaube gesübrt bat, sieht Tolstoi allein in der Rückkehr zur Volkskunst..Die Volkspocsie", schreibt er,„die Musik, die Kunst überhaupt ist versiegt, weil man alle Begabteren durch Bestechung verleitet hat.HanswürslederReichen undVornehmen zu werden. Die Volkspoesie hat immer die großen Volksbewegungen, Kreuzzüge, Reformationen im Liede wiederholt und nicht bloß wieder« holt, sondern vorausgesagt und vorbereitet. Was könnte die Poesie unserer parasitären Gesellschaft wohl voraussagen, vorbereiten? Liebe, Sittenlosigkeit, und nochmals Sittcnlosigkcit, Liebe. Die Kunst ist Nahrung, aber noch besser ist es, zu sagen, sie ist Schlaf, der zur Erhaltung des geistigen Lebens nötig ist. Der Schlaf ist nützlich, notwendig nach getaner Arbeit; der künstliche Schlaf aber ist schäd- lich, erfrischt nicht, kräftigt nicht, sondern schwächt."
Das Pilzpulver. Da über den Nährwert der Pilze, besonders über die bestmög- lichste Ausnutzung der Stickstoffsubstanz unserer heimischen Pilzarten bisher noch immer nicht genügende Klarheit herrschte, verdienen gerade in jetziger Zeit die von den Forschern P. Schmidt, M. Klosiermann und K. Scholta im Hygienischen Institut der Universität Halle unternommenen AusnutzungSversuche in weitesten
Kreisen Beachtung. Die Versuche, für die Scholta sich selbst zur Verfügung stellte, wurden auf b— 7 Tage ausgedehnt. Besonders fruchtbringend war es, daß zwei getrennte Versuche vor- genommen wurden, nämlich der eine mit Nahrungsmengen, die ungefähr den Ernährungsverhältnissen der Gegenwart cnt- sprechen, der andere mit Friedensmengen. ES tvurde festgestellt, daß die Pilze nicht nur vorzügliche Ei- weißspender sind, sondern daß sie auch hinsichtlich der Kohlenhydrate eine größere Beachtung verdienen, als dies bisher der Fall war. Gerade jetzt sind die Pilze daher als ein Nahrungsmittel ersten Ranges zu bezeichnen.„Wenn man die in unseren deulichen Wäldern," so heißt eS in der Schlußfolgerung,„massenhaft wachsen- den, weniger geschätzteir, aber ungiftigen Pilze mit berücksichtigt, so kann man wohl sagen, daß in dem Pilze unserer Wälder eine nicbt hoch genug einzuschätzende Eiweißquelle vorhanden ist. die zur menschlichen Ernährung, vielleicht auch der tierischen. als hochwertiges Kraftfutter herangezogen iverdeu sollte.' Um dieser Forderung auf großzügige Weise zu entsprechen, sollte das ganze heimische Pilzgebict toxikologisch genau durchforscht Iverden, damit endlich einmal die Giftigkeit oder Ungiftigkeit der einzelnen Arten festgestellt wird. Auf diese Weise würde man eine außer- ordentlich reichhaltige Stickstofiquelle der Gesamtheit des Volkes zugänglich machen können. Daher sollten staatliche und städtische Körperschaften Pilzberatungsstellen einrichten und das Einsammeln und Trocknen der Pilze regelrecht organisieren. DaS End- ergebnis der fraglichen, in der.Deutschen Medizinischen Wochenschrift' wiedergegebenen Versuche gipfelt aber in der Erklärung, daß der Nährwert der Pilze am besten ausgenützt wird. wenn man sie in Pulverform genießt. Tue Versuchsnahruug bestand daher auch auS Keks, die zu einem großen Teil aus einem Pulver feingemahlener Pilze hergestellt waren. Die bisher übliche Zubereitung der Pilze, nach welcher sie am liebsten wie Fleisch in Fett geschmort werden, ist snr die Ausnutzbarkeit unvorteilhaft. Das Pilzpulver allein läßt den höchsten Grad der Ausnutzung er- reichen. Man kann daraus Suppen machen, man kann es zu allen Gemüsen und Saucen zuseyen und überhaupt mit bestem Erfolg die Rolle des Fleischextrakts übernchmeu lassen.
Notizen. — Soldatengrab, da? im.Sonntag" abgedruckte Gedicht Oskar Philipps, ist aus seinen.Liedern von» Wege", die im Anzen- gruber-Verlag(Wien und Leipzig ) erschienen. — DaS Metropoltheater kommt unS mit seiner neuen AuSstattungSoperette.Die Rose von Stambul " diesmal türkisch. Die Einkleidung gibt Gelegenheit zu allerlei hübschen Bildern aus dem Orient. Tie Musik Leo Falls ist die allbekannte im guten und schlechten Sinne geblieben. Treffliche Anläufe zu Höherem, die zum Schluß im regelrechten Operettenschlager endigen, gute Arbeit in der Instrumentierung, aber die Hauptsache bleiben die Tänze. Die LiebeSgeschichle, die natürlich allerlei Einblicke inS Haremleben eröffnet, setzt sehr nett sin. Die junge Türkin geht in der Hochzeils- nacht ihrem ihr aufgenötigten Gatten durch, weil sie eine,» Mann eigener Wahl, einen' Dichter, liebt. Gatle und Dichter sind aber... dieselbe Perion. nur hätten die Texiversaffer es besser verstehen sollen, die Spannung rege zu erhalten und statt des verbrauchten.Hotels zu den drei Flitterwochen", Ivo schließlich sich alles einfindet und harmonisch vereinigt, etwas Neues zu er- finden. Ueber all diese Einwände führt die Darstellung siegreich chiu- weg. Fritzi Massary entfaltet so viel Temperament, weiß{hfe hochgeschulte Stimme so gut auszunutzen und ist im Spick med Tanz so anziehend, daß sie ihr Publikum immer wieder entzückt. Ihr zur Seite steht als Dichier-Gatte Albert Kutziier, ausgezeichncl in Spiel und Gesang. Für komische Wirkungen sorgt Eugen Rex . Die Ausstattung war wie immer— blendend. Im Metropol herrscht noch kein Surrogat! — Die gefährliche Theo sop hin. Die vielgenannte englische Romaudichterin Annie Besaut, die seit längerer Zeit in Indien weilt, ist dort in Haft gesetzt worden. Nicht wegen ihrer theosophischen Ideen— aus ideologischem Gebiete ist England immer tolerant, d. h. gleichgültig gewesen— sondern weil sie für indische Selbstverwaltung eingetreten ist. Der indischen Bewegung scheint dieser Gewaltstrcich nur Nutzen zu bringen.
4, Der Weizentönig. Von Otto R u n g. (Schluß.) »Sie können bezahlen, was Sie wollen." erwiderte der andere,„wenn die Lektion zu Ende ist. Es wäre unbillig, Sie früher bezahlen zu lassen. Wir schwenken nun an jenem schmalen Seitenweg scharf ab. Es wird Sie vielleicht wun- dcrn, daß ich von der Hauptroute ablenke, aber Sie werden sich erinnern, vor einem Monat den Weizenmarkt auf einen ähn- lichen Seitenweg geführt, zu haben. Sie verstehen micb wohl, wenn ich Ihnen nun sage, daß dieser Hohlweg eine Sackgasse ist, die bloß zum Arbeitstransport zu und von einem Steinbruch dient. Der Weg, den wir jetzt eingeschlagen haben, endet stumpf an einer lotrechten Felswand, einem oul äs sac ohne irgendwelchen Ausgang. Es ist eine Ecke, wenn Sie so wollen, ein Corner, in den wir uns mit unverminderter Fahrt- geschwindigkeit tiefer'und tiefer einkeilen. Vielleicht verstehen Sie, welches Ihrer Manöver ich Ihnen hiermit handgreiflich demonstrieren will! „So haben Sie uns in einen Winkel gedrängt, uns zwischen die Mauern Ihrer zermalmenden Kurse geklemmt und gequetscht. Sie haben das Brot aller Welt, die Ernte des Jahres in einen Sack gestopft, wie dieser es ist, und ihn zugebunden, die freifließenden Werte, den Strom der Ernährung in einen Winkel gestaut und alle Schleusen gesperrt. Sie haben Hunger und Not, Verbrechen und Wahnwitz als Helfer herbeigerufen. Sie haben all den Kauflustigen, all den Hungernden die Daumschraubcn Ihrer Preise angelegt und so lange zugepreßt, bis sie Ihnen Ihren Gewinn bezahlten. Sehen Sie, genau so, wie ich Sie jetzt, zwischen unerbittliche Felswände gezwängt, einem Ziel zu- treibe, das selbst eine Mauer ist, einer Lösung, die Vernichtung, Stillstand, Tod bedeutet!" Hotkins sah den Chauffeur sich erheben und durch die geschliffenen Gläser vorwärts starren, die Hände um das Rad geklammert, grau von Staub, unbeweglich wie ein bron- zener Dämon. Er sah den Weg sich verengern. Und auf dem ge- schlosfenen Hintergrunds erhob sich lotrecht und turmhoch der Felsen, die fürchterliche gelbfahle Sandsteinloand, die gleich- sam den Rücken krümmte, um den Stoß zu empfangen. Er fühlte unter seinen Händen und Knien, die auf dem Wagen- boden lagen, den Grund weichen. Ein heftiges Zucken durch- fuhr seine Brust, ließ seilte Nerven stocken, und alles ver flüsterte sich« Bewußtlosigkeit �
Als aber der Motor wenige Meter von dem Felsen ent« fernt war, bremste der Chauffeur, die Maschine erhob sich in jähem Bäumen, zischend und geifernd, auf den Hinterrädern, fiel dann vornüber und taumelte seitswärts; aber die Räder gruben sich ein und mit einem Ruck stand sie. Erst ein wenig später kam Hotkins soweit zu sich, daß er sich aus dem Wagen wälzen konnte. Er schielte nach der mächtigen Sandsteinmauer, die keinen Meter entfernt von dem Steven des Wagens sonnenbeschicnen quer über den Weg stand. Noch schien die Fahrbahn unter seinen Füßen dahinzusausen, aber sein Gehirn gewann bald seine Klarheit zurück. Er fühlte sich ein wenig ermüdet, aber sonst ungemein behaglich zumute. Am Ausstieg zu einem kleinen Pfad, der sich rechts voni Hohlweg den Felsen hinanschlängelte, stand der Chauffeur. Er hatte Maske und Kappe abgenommen, und HotkinS sah ein starkgebautes bärtiges Gesicht, daS die dunklen Augen auf ihn richtete. Augenblicklich erhob er� seine Pistole und zielte. Der Mann bot eine prächtige Scheibe, wie er sich von dem hell- beleuchteteil Felsen abhob.. Zeugen waren nicht zugegen und das Recht der Notwehr ließ sich amvenden. „Jetzt schieße ich Sie nieder," sagte HotkinS,„so wie ich es Ihnen versprochen habe. Der Mann lächelte. Sein Blick wurde fern und träumend. „O nein," sagte er.„Sie schießen nicht.. Sie schonen mein Leben aus demselben Grunde, aus dem ich vor kurzem das Ihrige schonte, als ein Zucken meines Zeigefingers über Ihr Dasein gebot." „Was sollte mich verhindern?" fragte Hotkins.„Welchen Grund meinen Sie?" Der andere hielt seine dunklen ernsten Augen unverwandt auf ihn gerichtet.„Den Grund, daß Sie jetzt dasselbefühlen, was ich fühlte, als ich Sie nicht tötete, das einzige, was ich Sie auf dem Wege, den ich Sie heute führte, lehren wollte: daß wir Brüder sind!" Hotkins lich vollständig gelähmt und in sprachloser Ver- wunderung die Pistole sinken. Er hatte nie in seinem Leben etwas auch nur annähernd Aehnliches gehört. Am allermeisten wunderte es ihn, daß er nicht schoß. Er sah bloß in fort- gesetzter Verblüffung den Fremden den schmalen Steig hinan- klettern und seinen Blicken für immer entschwinden. Hotkins pflegte dieses Erlebnis später im Börsenklub mit wesentlichen Aenderungen zu erzählen. Den Schluß liebte er folgendermaßen zu gestalten: .„Wie Sie sehen, war eS lediglich meine sin vielerlei 1 Situationen geschulte Ruhe und Kaltblütigkeit, tzie jv
jenen kritischen Augenblicken ihre stille Autorität übte und den verrückten Menschen zur Disziplin zwang. Wer er übrigens lvar, habe ich nie erfahren, und es kümmert mich auch nicht. Ebensowenig habe ich die Polizei nach ihm in Bewegung gesetzt. Ich sehe keinen Vorteil in einem Racheakt; ich habe ja bewiesen, daß ich meine eigene Polizei sein kann. Mein Leben ist wichtig ge- nug, um sich selbst in jedweder Situation zu behaupten. Die Geldstrafe von zwanzig Dollars wegen ungesetzlicher Fahrt- geschwindigkeit habe ich ohne Murren hingenommen. Mein Chauffeur Mach und der Portier, der damals meine Abfahrt verschlafen hat, wurden natürlich mittels eines nachdrücklichen Fußtritts aus dem Hause befördert.— Und meine Spekulation in Weizen? Nun denn! Als ich an jenem Tage mein Automobil allein zurücklenkte, wohl Ivifsend, daß ich meine Kontors erst lange nach Börsenzeit erreichen konnte, schwitzte ich bitteren Angstschiveiß, denn ich wußte, daß die Börse sich an diesem Tage uneingeschränkt in Wilsons Gcwaltshändeu befinden würde, und erwartete, von meinen Kontoristen so feierlich empfangen zu iverden, wie man.einen ruinierten Prinzipal empfängt. „Nun hören Sie aber und beachten Sie die Wunder- baren Wege der Vorsehung! Mein Ausbleiben bon der Börse zu jenem kritischen Zeitpunkte erzeugte eine Panik, wie Chikago und damit die übrige Welt sie selten erlebt hat. Die wildesten Gerüchte von meinem Konkurs, Sturz und Selbst- mord waren im Umlauf. Was weiter? Wilson, der mich nicht auf meinem Platze fand, ward von einem unbändigen. wahnsinnigen Ucbcrmut ergriffen. Er betrachtete sich' als unumschränkten Tyrannen des Marktes und stürzte sich in einen Coup, in ganz desperate und lebensgefährliche Auf- kaufe, die seine überanstrengten Kapitalökräste bei weitem überstiegen. Und als ich folgenden Tags zur grenzenlosen Verängstigung und Verwirrung der gesamten Börse auf meinem Platz zu finden war—(Sie erinnern sich wohl. meine Herren!)—, da stand Wilson da, mit Millionen von Bushels belastet, die er niemals bezahlen konnte und über deren Preis ich gebot. Ich zerdrückte ihn, wie ich diese Zigarre zwischen zwei Fingern zerdrücke. Von. da ab war der- Markt mein." Und Hotkins spaltete sein Jndianergesicht in einem liebens- würdigen Lächeln, das die gierigen Hauzähne entblößte. „Sehen Sie, meine Herren, so wachen die ewigen Mächte über dem heiligen System des GroßkapitalismuS! Selbst einen verrückten sentimentalen Phantasten, ein himmelstünnendös umschlciertes Gehirn machen sie zu ihrem willigen Werkzeug. Ja. sogar der Idealismus hat seinen Wert— unter r?:-.