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Unterhaltungsblatt öes vorwärts
Mittwoch, IS. September
Die Entdeckung der Herbstfthönheit. Von Dr. Paul Landau. Die Geschichte des Naturgefühls ist ein? Geschichte der Eni- deckungen und Eroberungen, die die Menschenseele in unbekannte Länder der Schönheit unternimmt. Obgleich die Augen der Söhne des Altertums und Mittelalters nicht minder scharf, ja sogar schärfer als wir Heutigen die Einzelheiten der sie umgebenden Natur erschauten, so haben sie doch nicht die innige ästhetische Be- ziehung zu der Natur besessen, die wir heute haben. Für uns gibt es nichts mehr in der Natur, das wir nicht als Schönheitswert empfinden könnten; der Schreck vor den hohen Gebirgen, die Angst vor der Winterkälte sind längst geschwunden, und selbst Regen oder Nebel, vor denen man früher besonders starkes Grauen empfand, sind auf Bildern zu bezaubernden Farbensinfonicn gestaltet wor- den. Ten besonderen Reiz einer jeden Jahreszeit haben wir ent- deckt, freilich die naheliegenden Wunder von Frühling und Sommer früher, als die sprödere Pracht von Herbst und Winter. Doch stehen diese beiden Jahreszeiten bei uns jetzt in einem nicht geringeren Ansehen als der Lenz und die Sommerszeit. Ja, der Herbst ist der besondere Liebling unserer Tage geworden, dessen späten Glanz und reife Vollendung uns so tief ergreift, wie wohl kein anderes Bild im Monatskreis. Zuerst gewinnt der Frühling, der„holde Knabe", im Fluge alle Herzen, und als das Gefühl die starren, im Mittelalter er» richteten Schranken durchbricht, als die Vaganten und Minnesänger ihre ersten Lieder singen, da feiert man nur den„minniglichen Lenz". Erst im Gegensatz zu diesem ewigen Preis der Maien- freude entstehen in der Spätzeit des Minnegesanges die ersten Lob- lieber auf den Herbst. Doch weih man keine seelischen oder ästhe- tischen Werte zu seinen Gunsten anzuführen, sondern nur derb- finnliche Vorzüge. Bezeichnend für diese Auffassung des Herbstes ist der erste Verehrer dieser Jahreszeit, der in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts lebende thurgauische Minnesänger Stein- mar. Ihm ist der Herbst ein reichlich austeilender Gastgeber, der ihm Wem in Strömen in den Schlund gießen und eine große Gans an den Spieß bringen soll. Dazu verlangt er vom Herbst„Fische, mehr denn zehnerlei, und einen fetten Schweinebraten". Ihm folgen dann andere Sänger, denen diese nahrhafte Jahreszeit eben- falls die„wahre Grundfeste" menschlicher Freuden ist. Ein dem Neithart fälschlich zugeschriebenes Herbstlied, das den Namen „Neitharts Freßerei" führt, singt von den Würsten und Schinken als den wahren„Blumen des Herbstes". Die schöne Freiheit des Erntelebens, der Reisen auf dem Stoppelfeld im fröhlichen Wind, sie werden geschildert, und die Dtädchen rufen:«in Kranz von Stroh beim Erntefest sei ihnen lieber als eine Krone von Rosen im Mai. Auch in den frühesten Werken der bildenden Kunst, die den Herbst schildern, in den Miniaturen der Stundenbücher und Kalendarieu finden wir den gleichen Ton: Erntefest und Weinlese, Jagd und Fischzug sind in bunten Szenen dargestellt, ohne daß der Herbstcharakter der Landschaft stark empfunden würde. Die höchste Leistung dieser ersten Herbstmalerei bietet das Wiener Hetbftbild des Pieter Bruegel . Trotz guten Essens und reichlichen Trinkens im Herbst ist dem Deutschen des Mittelalters dies« Jahreszeit doch im tiefsten Herzen unheimlich und beängstigend. Er ahnt das Ende alles Lebens, das hinter dem bunten Gewände schlummert; er fühlt das Heran- nahen jener wilden Naturmächt«, des Sturmes und der Kälte, die ihm als böse Dämonen das Leben erschwerten. Diese Angst vor dem Herbst hat Gestalt gewonnen in den Herbstsagen, in dem Bilde des wilden Jägers, der mit den ziehenden Wolken über das kahl werdende Land braust, in der Vorstellung von den Hehren der Toten, die im Herbst durch die Lüste eilen und die Lobenden in ihren grausigen Wirbeltanz hineinzerren wollen. Dem Grausen gesellt sich die Schwermut über das Sterben der Natur, und diese melancholischen Stimmungen erklingen im Volkslied, in den Toten- tanzen, in den wehmütigen Jäger- und Ernteliedern, in denen der Schnitter Tod das Messer wetzt und die Blümlein alle nieder- mäht. Die Herbstestrauer wird dann später von frommen Dichtern ins Religiöse gewandt, und dieser trübsinnigen Andacht bei der Betrachtung des Vergehen? und Verlöschens in der Nawr begegnen wir noch im 17. Jahrhundert, bei einem Simon Dach und Paul Gerhardt . In der Zeit der Renaissance aber hat das deutsche Ge- müt doch schon wieder eine andere Haltung dem Herbst gegenüber gewonnen. Wie im absinkenden Mittelalter bilden die sinnlichen Genüsse des Essens und Trinkens die Grundlage. Aber über die materiellen Freuden hinaus erhebt man sich zu einer Stimmung des Rausches und UeberschwangeS, die dieser vollsaftigen, bcgeister- ten Zeit genehm ist.
�Nietzsche , der der stärkste Verkünder unseres modernen Herbst- gefühls geworden ist, hat das reine, klare Herbstglück der Seele unter allen Werken der Malerei am schönsten in den Bildern des Claude Lorrain gefunden, der sein Äieblingsmaler war. Dieser lothringische Landschafter ist wohl der erste, der über all« stoffliche und inhaltliche Schilderung des Herbstes zu einer seelischen Er- gründung dieser Jahreszeit gelangte. Das matte Sonnengold, die kühle Harmonie und die zarte, mud« Innigkeit seiner sehnsüchtigen Landschaftsphantasien umschließt jene Mischung von reifer Lebens- fülle und süßer Sterbensahnung, die als das eigentlich Herbstliche im deutschen Naturgesühl entdeckt wird. Auch die Dichtung lernt nun die zarte Schönheit der Herbstfarben, den silbrigen Ton der Herbstluft erkennen. Der alte Hamburger Dichter Brockes , dessen liebevolle Kleinkunst dem Naturgefühl so viele bis dahin unbekannte Feinheiten gewonnen hat, ist in Deutschland der erste, der der „Herbstfavben buntes Glänzen" liebt, während noch die späteren Rokokodichter diesem Verbleichen von Gras und Laub keinen Reiz abgewinnen können. Die objektive Freude an Farben und Formen des Herbstes findet ihre allseitige Ausgestaltung in den Herbstdich- tungen Goethes, der die schwellende, quellende Reife, den wärmenden Schcideblick der Mutter Sonne, das süße Wehen eines mildklaren Himmels in den wundervollen Rhythmen seines Gedichtes„Herbst- gefühl" ausdrückt. Eine tiefere subjektive Beziehung zum Herbst hat der Weimarer Olympier freilich nicht gehabt; er ist ihm die Jahreszeit der Entsagung. Der Mensch der Romantik erst fühlt sich dem Herbst verwandt; er entdeckt diese Jahreszeit als einen Spiegel der Seele, in dem er sein eigenes Ich und Schicksal wiederfindet. Schon Jean Paul fühlt so den Herbst im„Hesperus", und Lenau findet mit der ganzen Kraft seiner naturbeseelenden Phantasie sein eigenes zerrissenes Ich in dem Welken und Nicdertaumeln der Blätter wieder. Aber nicht nur die Weltschmerzdichter suchen für ihre Zerrissenheit ein Echo in der Herbstnatur, sondern auch abgeklärte, ganz reif ge- wordene Lebensmenschcn, wie Stifter und Rückert. Diese bei- den. Dichter sind die eigentlichen Beseeler der bisher in ihrer Schönheit noch nicht erkannten Jahreszeit. Stifters„Nachsommer", eins der stilistisch reinsten Werke unserer Dichtung, ist ein einziger Hymnus auf die sanfte Stille und innere Ruhe, das Spätglück und die milde Seligkeit, die der Herbst in die Herzen gießt. Nietzsche hat diese Stimmung aus tiefstem eigenen Erleben verfeinert und zu dem Hintergrunde seiner ganzen Weltanschauung gemacht. Der Genuß des Herbstes ist ihm die letzte, reinste„gül- dene Heiterkeit und des Todes heimlichster süßester Borgenuß". Diese Stimmung geht durch unsere ganze moderne Kunst; sie lebt in den Herbstbildern Böcklins und LeistikowS' sie hat ihre dichterische Vollendung in den schönsten Herbstgedichten unserer Literatur ge- funden, in Stefan Georges „Jahr der Seele ', in denen jeder leiseste Zug der, Natur, SaS Fließen des Lichts und das Fallen der Früchte zu einer Bereicherung des inneren Menschen ge- worden ist._ vle �Aauberflöte�. Als ein Musikinstrument der Zukunft wird wegen ihrer eigen- artigen Vorzüge von vielen die„Zauber flöte" angeseben, die der holländische Gelehrte Dr. H. A. Naber konstruiert Hai ; Dr. Alfred Gradenwitz beschreibt es in der Zeitschrist„Ueber Land und Nteer": Es handelt sich um eine Durchbildung des Prinzips der Sirene, die als Spielzeua und in der modernen Technik für Signal- zwecke benutzt wird. Aus der Schulzeit ist vielen der Kasten mit durchlöchertem Deckel bekannt, über dem sich eine gleichfalls durch- löcherte Scheibe drehen kann: beim Durchblafen von Luft beginnt die Scheibe schneller und schneller zu rotieren und gibt einen Ton von sich, der imnier stärker wird. Diese alte Sirene hat Naber nun zu einem Musikinstrument ausgebildet. Während die Sirene schräg zulaufende Löcher hatte und daher durch den Luftstrom selbst in Umdrehung verfetzt wurde, dient bei der neuen Sirene ein geräuschloser Motor zum Antrieb. Auch hier dreht sich die auf. gesetzte Scheibe über den Kastendeckel; so oft die Löcher der Scheibe sich gerade über denen des Kastendeckels befinden, kann die ein- gehlasene Luft entweichen; im nächsten Augenblick wird ihr Weg wieder versperrt, und so folgen die Luststötze regelmäßig aufein- ander, so daß das Ohr einen Ton hört, der umso höher wird, je höher die Anzahl Luftftöße in der Sekunde ist. ES kommt nun darauf an, die Tonhöhe, die Tonstärke und die Klangfarbe beliebig abzuändern. DaS ist zunächst durch Regulierung der Geschwindig. keit deS Motors möglich. Ferner aber erfolgt die Uebertragung der Umdrehung vom Mowr auf die Sirene durch einen Faden, der als Treibriemen dient und über eine Achse der Sirene läuft, die in genau bestimmtem Maße immer dünner wird. Je mehr der
Faden nach dem dünnen Ende zu verschoben wird, umso schneller wird die Umdrehung der«sirene und umso höher der Ton. Die Regulierung der Tonstärke erfolgt in einfachster Weise durch Abänderung der Stärke des Luftstroms. Durch Fadenver- schiebung und Gangbeschleunigung des Motors kann man auf der- selben� Sirene vier Oktaven spielen. Durch Veränderung der Form der Sirenenöffnungen sind die verschiedensten Klangfarben, von Trompete, Flöte usw., zu erzielen, ja man kann in dieser Hinsicht eine bisher unerreichte Vielseitigkeit und Abwechslung herstellen. Mit solchen Instrumenten, die durch Feuchtigkeit und Wärme nicht beeinflußt werden und deren Klangfarbe beliebig verändert werden kann, läßt sich ohne Mühe«ine Orgel von besonders schönen Wir- kungen zusammenstellen: man kann auch ohne große Kosten ein ganzes Orchester einrichten, bei dem die Sirene der einzelnen Spieler von demselben Motor getrieben wird, nach dessen Achse sämtliche Antriebsfäden zusammenlaufen. Neuentüeckte Höhlenmalereien. In der Pariser Akadamie der Inschriften wurden Mitteilun- gen über die Erforschung einer bisher völlig unbekannten Höhle gemacht, die Graf Begouen mit seinen Sühnen unternommen hat. Die Höhle liegt in seinen Besitzungen von Montesquieu-Avantes im Departement Ariege im südlichen Frankreich . Die Wände dieser Höhle, die die„Höhle der drei Brüder" genannt wurde, sind mit mannigfachen Zeichnungen bedeckt, die auf die Aurignac - und Magdalenien-Periode zurückgehen, in der am Ende der paläolithi- schen Zeit die ersten bemertenswerten künstlerischen Aeuherungen in der Urgeschichte der Menschheit zu verzeichnen sind. Graf Be- guen hatte bereits das hervorragendste Denkmal dieser primitiven Kunst, eine Gruppe von Bisons, in einer Höhle, die in demselben Hügel liegt wie die neuentdeckten, aufgesunden. Die neuen Dar- stellungem zeigen Bisons, Renntiere, Pferde, Steinböcke und Bären; tvas aber seltener in dieser Zeit vorkommt, sind Darstellungen von Menschen, ferner ein Löwe und einige Vögel. Der Löwe ist von kleinen Pfeilen durchbohrt, was die Annahme zu bestätigen scheint, daß es sich bei diesen Malereien um Zauberhandlungen handelt, die der primitive Mensch vor dem Aufbruch zur Jagd vornahm. Die Darstellungen des Menschen sind, wie es auch schon in den früheren Entdeckungen festzustellen war, sehr seltsam und schlecht gezeichnet, während die Tierzeichnungen von einer überraschenden Aehnlichkeit sind. Einige Einzelheiten schein«» anzuzeigen, daß eine mit schwarzer Farbe Hervorgehobene Zeichnung ein maskiertes menschliches Wesen darstellen soll, das mit einer Tierhaut bedeckt ist und vielleicht einen rituellen Tanz ausführt, Notizen. — Kunstcbronik. Glasfenster des Frankfurter ProfcssorZ O. Linsemann, die für eine Kirche bestimmt find, werden im Kunst- gewerbemusenm gezeigt. — Zentratlheater. Kräfte des MetropoltheaterZ spielen jetzt auf der Bühne in der Kommandantenstraße Leo Fall's „Rose von Stambul ". Der orientalisch gewandete Spaß dieser Operette, der nach reichster Buntheit der Aufmachung verlangt, findet, wie sich zeigte, auch bei schlichterer Fassung ein Publikum, das frohgelaunt mitgeht. Die Spieler— wir nennen Bert Deetjen sals Kondja Gül), Melitta Ferrow sals Midili Hanum), Felix Bäsch(Achmed Beh)— warben nicht vergebens um Beifall. — Eine irische Oper. Ein« neue Oper„Erin", die eine Episode des irischen Leidenskampfes am Anfang des letzten Jahr- Hunderts behandelt, wird am 28. September im Theater des Westens zur Uraufführung gelangen. Der Text der neuen Oper, bereits vor Ausbruch des Krieges entstanden, ist von Axel Delmar . Die Musik stammt von Leopold Hassenkamp, dem Schüler HumperdtnckS, der bisher mit dem.Tanzverbot" hervorgetreten ist. — Das Drama.Arbeit" eine» jungen Schweizer Archi- tekten S. Giedion kam mit unbestrittenem Erfolge im Leipziger Alten Theater zur Uraufführung. DaS gleiche Stück wird am Sonnabend von Reinhardt gegeben werden. — General und Musiker. Der russische General Tesar Cui ist, wie erst jetzt bekannt wird, gestorben. Er war ein be- kannter Komponist der jungrusfischen Schule. Einige Opern ldarunter Ratcliff) und Lieder von ihm sind sehr bekannt geworden. Besondere Eigenart bewies er als Komponist von Masienchören. — Tolstoi in Ehrenl Die Verwaltung der Auftlärungs« Gesellschaft.Jasnaja Poljana" zum Gedächtnis Tolstois hat sich an das Komilee für Staatsbaiävesen gewandt mit der Bitte, ihr llt Million Rubel zu überlassen zum Bau einer guten Fahrstraße zum Grabe L. Tolstois und zur Anlage zweier Terrassen, von denen eine als Freiluit-Hörsaal dienen soll.
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Das gelobte LanS. Roman von W. St. R e y m o n t. Der Mond schien so hell, daß er die taufeuchten Blätter mit einer silbernen Schicht überzog und die Nebel jetzt wie silberne Schleier sich erhoben. „Du bist romantisch veranlagt," erklang wiederum die Männerstinime mit ärgerlichem Tonfall. „Deshalb tztwa, weil ich dich liebe? Deshalb etwa. weil deine kleinste Sorge mir so tief ins Herz dringt, tiefer als alle meine Sorgen, deshalb, weil ich nur den einen Wunsch habe, dich glücklich zu sehen?" „Nein, nicht deshalb, aber weil du Lust hast, ohne Rück- ficht auf die Möglichkeit eines Katarrhs, dich mit mir durchs Fenster zu unterhalten." „Gut Nacht." „Gut Nacht, Fräulein Anka." Das Fenster klirrte, eine weiße Gardine verdeckte das Innere des Zimmers, das jetzt erhellt wurde. Karl ging anscheinend nicht vom Fenster weg, denn man hörte das Zischen eines Streichholzes, und eine dünne, blaue Rauchwolke drang aus seinem Zinimer und zerriß an den Traufen des Strohdaches. Er hatte sich eine Zigarette an- gesteckt. Max steckte sich ebenfalls eine Zigarette an, aber ganz leise, damit man nicht merkte, daß er zuhörte. Er wahr sehr gespannt, ob Anka noch einmal ans Fenster käme. Sein Zorn gegen Karl wuchs immer mehr. Ankas Fenster blieb aber geschlossen. Max bemerkte bloß, wie hinter der Gardine ihr Schatten immer wieder auftauchte und am Fenster stehen blieb. Er hätte vielleicht sogar ihre Schritte vernehmen können, aber die Nachtigallen schlugen immer lauter und der Wind störte, der sich von den Wiesen und den Sümpfen er- hob; über die Kornfelder kam er herangeschlichen, drang rauschend zwischen die Bäume, schüttelte an den Flieder- büschen, raschelte im Dachstroh und warf Max seinen warmen, feuchten, mit Kornduft gesättigten Atem ins Gesicht. „Karczmarek wird morgen da sein, der das Gut kaufen will," erklang wiederum die Frauenstimme. „Vater verkauft's ja doch nicht." „Du brauchst aber vielleicht das Geld." „Ja. Millionen brauche ich," raunte höhnisch die Männer- stimme.
„Karczmarek will's eventuell auch pachten. Er will es für seinen Schwiegersohn haben." „Werden ja morgen sehen." „Nimmst du die Wagenpferde nach Lodz mit oder der kaufst du sie?" „Wozu sollte ich diese alten Biester mitnehmen?" „Großpapa ist aber so an sie gewöhnt," sprach die Fraue» stimme traurig. „Dann wird er sich'S eben abgewöhnen. Für diese kindischen Sachen hast du stets was übrig. Dann könnte man vielleicht auch gleich den halben Garten nach Lodz hev überpflanzen. Vielleicht möchtest du auch die Kühe und die Hühner und die Gänse mitnehmen?" „Wenn du dir einbildest, dein Spott könnte mich hindern, daS mitzunehmen, waS ich nicht entbehren kann, dann irrst du." „Vergiß nur ja nicht die FamilienportraitS. Die Sena- toren des polnischen Reiches sehnen sich da oben in der Boden- kammer sicher nach Lodz ." Die Männerstimme klang immer höhnischer. Keine Antwort. Nur ein ganz leises Schluchzen ließ sich vernehmen, so leise, daß es wie das Flüstern deS Baches hinter dem Garten klang. „Verzeih, Anka! Ich wollte dir nicht weh tun. Ich bin so nervös. Verzeih, Anka, weine nicht." Max sah, wie Karl in den Garten sprang und wie sich zwei weiße Arme aus dem Fenster ihm entgegenstreckten. Er schaute nicht mehr hin und hörte nicht mehr zu, schloß das Fenster und legte sich schlafen. Der Schlaf kam aber nicht. Die Nachtigallen sangen so laut in den Fliederbüschen. und immer kani es ihm vor, als hörte er Ankas und Karls Stimmen. „Was können die sich nur so lange erzählen?" dachte er, sich immer mehr aufregend, und stand auf, um sich zu über- zeugen, ob sie noch da seien. Karl stand an Ankas Fenster, sie sprachen aber so leise, daß man nichts hören konnte. „Nicht mal schlafen kann man ja bei diesen romantischen Geschichten," brummte Max ärgerlich und warf das Fenster laut zu. Einschlafen konnte er aber nicht. Die von der glühenden, pochenden Macht des Fiühlings erfüllte Juninacht störte ihn. In die Fenster schien der Mond, der hoch oben in den Wolken hing, er erhellte das Zimmer mit einem bläulichen Schimmer. und Ströme milden Lichtes ergossen sich über das schlafende Städtchen, über die leeren Gassen und über die weiten, mit
sacht schwankendem Korn bedeckten Felder, auf denen schim mernde Nebel schwammen. Ueber den Wiesen und Sümpfen stiegen wie aus Räucherfässern weiße Dünste auf und schlugen wie Rauchsäulen in die blauen Fernen empor. Und aus den Nebeln und den schlaftrunken rauschenden, taufeuchten Korn- feldern erhob sich immer mächtiger das Zirpen der Feld- grillen, das in gedämpftem, zitterndem Rhythmus dahinfloß und die Lust mit Millionen Klängen erfüllte; in Chören er- widerten ihnen die Frösche, die in den Sümpfen quakten und schrill riefen. Von allen Seiten erklangen die trunkenen Stimmen dieser Frühlingsnacht, ganz erfüllt von berauschten Rufen, Gesängen, kaum wahrnehmbaren Schauern, Liebe und un- geahntem Zauber. Dann verstummte für einen Augenblick die ganze Welt, und eine so dumpfe und gewaltige Stille trat ein, daß man die Tauperlen von einem Blatt aufs andere sickern hörte und das Plätschern des Flüßchens hinter dem Hause und den tiefen Atem der Erde. Nach dieser kurzen Stille brachen wieder alle Stimmen los in noch mächtigerem Chor. Alle Bäume, Gräser und Geschöpfe sangen eine trunkene Liebcshymne, und es schien, als ob sich die Aeste umschlangen und die Blumen, und in einer erschauernden Verzückung sich Hingaben. Die ganze Erde schwoll an unter all diesen Stimmen und Gesängen, von all den Düften, die die Luft durchsättigten— sie schwoll an zu einem riesigen, von Liebesgier brausenden Strudel, der von dem Rausch der Frühlingsnacht und nagender Ewigkeits- sehnsucht gepackt raste; blind warf er sich in die Arme des von allen Seiten offenen, finsteren, von dem kühlen Tau der Sterne und den Milliarden Sonnen und Planeten schimmernden, dumpfen, geheimnisvollen und fürchterlichen Schlundes. Max konnte nicht einschlafen. Eine Nachtigall, die vor seinem Fenster sang, ärgerte ihn so, daß er aufstand, um sie zu verscheuchen. „Der Teufel hole dich mit deinem Gepiepse I" rief er er- regt und warf mit einem Schuh nach dem Busch. Der Vogel flog auf einen anderen Strauch; als Max das Fenster wieder geschlossen und sich hingelegt hatte, kehrte er auf seinen früheren Platz zurück und sang weiter. Mit Ausnahme des alten Borowiecki schlief heute nie- mand gut im Kurower Herrenhaus. ffiorts. folgt.)