Nr. 263 ♦ 36. Jahrgang
Seilage öes Vorwärts
Sonnabend, 24. Mal 1914
Prozeß Leöebour. Das Gericht beschloß nach halbstündiger Beratung, den erneuten Antrag der Verteidigung auf Haftentlassung abzulehnen, weil ohne Rückficht auf da« Verbalien des Angeklagten der fflucht- verdacht weiterbestehen bleib», denn eS müsse mit der Möglichkeit einer hoben Strafe gerechnet werden. Nachdem dieser Beschluß verkündet war. kam Rechtsanwalt Rosenfeld durch Abgabe einer Erklärung auf folgenden Vor« gang in der Vormittagssitzung zurück. AI » der Staatsanwalt eine Ungebührstrafe gegen Rechtsanwalt Liebknecht beantragt hatte, meldete sich Rechtsanwalt R o f e n f e l d zum Wort, was ihm der Vor- sitzende ablehnte. RechtSanw. Rosenfeld beantragt« hierüber einen Gerichtsbeschluß zu fassen.— DaS Gericht beschloß, dem Rechtsanwalt R o s e n f e l d das Wort nicht zu erteilen, weil die Ungebührstrafe gegen Dr. Liebknecht weder eine Sache de? Angeklagten, noch seiner Mitverteidiger sei. In der Nachmittagsfiyung erklärte Rechtsanwalt R o f e n f e l d namens der Verteidigung, daß die Strafprozeßordnung nach der Anficht der Verteidiger der StaatSanwaltichaft nicht da? Recht gebe, eine Ungebührstrafe gegen einen Verteidiger zu stellen. Die SitzungSpolizei stehe nur dem vorfitzenden zu. DaS habe er— Rechtsanwalt Roi'enfeld— sagen wollen, als er sich vorhin das Wort erbeten habe. DaS Gericht nahm die Erklärung zur Kenntnis und vertagte die Verhandlung bis Montag S Uhr. Dann soll die Zeugen- Vernehmung fortgesetzt werden.
preußißhe Lanöesversammlung. (Fortsetzung au» dem Abendblatt.) Da« Haus setzt die Beratung über da« Ministerium für VolkSwoblfahrt fort. Abg. Held(D. Vp.), wendet sich gegen die Bestrebungen der welfischen Partei auf Gründung eine« selbständigen Hannovers. Minister de« Innern Heine: Mit Beschämung muß ich fest stellen, daß eS Männer in Deutschland gibt, die in dieser Zeit de« Unglücks ihre erbärmlichen Parteiinleresien und lokalen Wünsche in den Vordergrund stellen.(Beifall.) Sie suchen Sondervorteil« für fich herauszuholen und setzen ihre Hoffnung auf den Feind.(Pfuirufe.) Solche Partei gänger haben eS gewagt. Herrn Leinert zu beauftragen, in Versailles für die Herstellung eine« selbständigen Hannover « zu wirken.(Pfui- rule.) Unsere Versuche, die FriedenSbedingungen zu mildern, werden dadurch durchkreuzt. Unterstützen Sie die Regierung in ihrem Be> streben«in einiges demscheS Volk zu erhallen.(Beifall.) Abg. Biester(Welke): Dieser Borstoß ist weiter nicht» al« ein abgekartetes Spiel. Wir werden weiter kämpfen, solange bi« von Hannover die schwarz-weißen Fahnen heruntergeholt find, wir kämpfen«eiler trotz Preußen und gegen Preußen.(Große Unruhe und Pfuirufe.) Der Nachtragsetat geht an den HauShaltSausschuß. Die Regierung sucht unterm S. April die Genehmigung der Notverordnung vom AI. September ISIS über die Verlängerung der Amtsdauer der Handelskammermitglieder durch die LandeSbersamm« lung al» die RechtSnachfölgerin der Kammern de» bisherigen preußi- scheu Landtage» noch. Abg. Stöcker(U. Eoz.) will die Genehmigung versagen. Da« Handelskammergesetz sei erzreaktionär. Seine Fraktion be- antragt, die Vorlage abzulehnen und die Regierung zu ersuchen, binnen vier Wochen ein anderweitige« Wahlgesetz für die Handel«- kammern vorzulegen., Abg. Lüdemann(Soz.): Dieser Antrag entspricht nicht der heutigen Zeit. Es muß untersucht werden, wie man die Angestellten und Arbeiter in den Handelskammern beteilige« kann, in welcher Weise den Arbeiterräten eine Einflußnahme zuaestanden werden kann, in welchen Formen ein paritätisches Zusammenwirken von Arbeitgebern und Arbeitnehmern bei den gemeinsamen Angelegenheiten des Berufe« zu ermöglichen wäre. Erst dann könnte man über ein neue» Wahlverfahren reden. Abg. Dr. Hager(Z.) beantragt, die ganze Angelegenheit dem Ausschuß für Handel und Gewerbe zu überweisen. Ab«. Dr. Leidig lDnat. Vp.) ist sür Annahme der Vorlage und für Ueberweiiung de« Antrags der Unabhängigen Sozialisten an den AuM'chnß. Nachdem noch die Abga. Hammer(Dnat. Vp.) und Dr. Friedberg
<Dem.) fich für die Vorberatung der ganzen Angelegenheit in dem HandelsauZschuß erklärt haben, wird demgemäß beichlosien. Es folgt die Beratung mehrerer Anträge wegen Erhöhung der Bezüge der Altpenfionöre und Rentenempfänger. Abg. Dallmer(Dnat. Vp.) befürwortet den Antrag seiner Partei, durch den die Regierung ersucht wird, die besonders schwere Notlage der Altpensionäre, Witwen und Rentenempfänger un- verzüglich durch geeignete Maßnahmen zu beseitigen. Abg. Ehristange<U. Soz.) empfiehlt leinen Antrag, daß 1. die Teuerung« mlagen der Bezieher von Invaliden- und Hinterbliebenen- renten erhöht, 2. die Zulagen zu den Unfallrenten schon bei einer 60 prozentigen Rente erhöht werden und 8. der ungeheueren Notlage eer Rentenbezieher infolge der Teuerung dadurch etwa« gesteuert wird, daß ihnen der Satz von mindestens einer Jahresrente al« Enl- schuldung schnellstens gewährt wird. Abg. Ricdel-Cbarlottenburg(Dem.) begründet die Anträge seiner Partei, den Alivensionäreu der Penfionskasse für die Arbeiter der preußisch«bessischen Eiseiibahngemeinschaft wegen der Leistung«- säbigkeit dieser Kasie eine Teuer ungSbeihilfe auS gesetz« lichen Mitteln zu gewähren, sowie im StaatenauSschuß dahin zu wirken, daß baldigst ein Entwurf zur Reform der Reicks- versicheruitg ausgearbeitet wird, welcher insbesondere berück- sichtigt u) die anderweitige Feststellung des JahreSarbeitSverdiensteS bei Berechnung der Unfallrente, d) die Erweiterung der Alters- und JnvaliditätSversicherung bi« zu einem versicheriinaSpflichiigen Einkommen von bOOO M., o) die Errichtung von BersicherungSämtern für die Arbeiter der Staatsbetriebe, ci) die Einbeziehung der Erwerbslosenverstcherung. Mit einer DurckschnittSpension von SO M. monatlich könnten die Altpensionäre ihr Dasein nicht fristen, und manche hätten nur Penfionen von 25 ii« 40 SR. (Hört! hörtl) Die Ausdehnung der BerficherungSpflicht fei f o» fort spruchreif und lönne durch eine Novelle zur Reichs- Versicherungsordnung erledigt werden. Nach kurzen unterstützenden AiiSführunflen der Abgg- Horsch (Z.), Brandenburg (Soz.). Dr. Mvldenhauer(D. Vp.) und Werner (Dnat. Bp.) werden die Anträge dem StaaiShauShaltSauSschuß über- wiesen. Ein Antrag Dr. Friedberg(Dem.) auf Räumung der Schulen und anderer öffentlichen Gebäude von Truppen wird vom Abg. DvminicuS(Dem.) zur Annahme empfohlen. Abg. Lukaffowitz(Dnat. Vp.) weist darauf hin, daß in der Stephanstraße in Berlin in einer Schule geschlechiskranke Sol- daten untergebracht find, während in einem anderen Teile noch Unterricht erteilt wird. Major v. dem Bergh erklärt, daß die Truppen aufgefordert find, die Schulgebäude zu räumen. Anträge der Gemeinden in dieser Hinficht werden nach Möglichkeit verfolgt werden.(Unruhe und Zurufe: Wa« heißt da» t) ES folgt die erste Beratung des Gesetzentwurfs über die Auf« Hebung der O r t S s ch u l i n f p e k t i o n e n. Danach erlischt mit dem Inkrafttreten dieses Gesetzes die AmtSbesugniS der bisherigen Lokalichulinspeltionen. Die SchulauffichtSbebörden find befugt, die bisher den Lokalschulinspektoren obliegenden Geschäfte anderweil auf Behörden oder einzelne Fachleute zu übertragen. Kultusminister Haenifch: Die OrtSichlilaufstcht hat früher zweifellos ihr Gute« gebabt. Fetzt ist ihre Zeit aber abgelaufen. Auch die nebenamtliche KreiSfchulinfpektion wtrd in die Hände von Fachleuten gelegt werden. Der Minister bittet um schnelle Berab- schiedung der Borlage. Abg. Baumeister(Soz.): Die volk«schuUehrerschaft hat auf« geatme», als der Erlaß de» Kultusminister« erging. Mit der Auf- Hebung der OrtSschulaufstcht wird sie von einer unerträglich gewordenen Fessel befreit, die nur für sie. nicht für die höhere Lehrer- schaft bestand. Politisch suchte der Geistliche de« Lehrer z» unterjoche«. Bon dieser Vormundschaft muß man die Schule endlich erlösen. DaS Zentrum muß zugeben, daß auch die katholische Lehrer- schaft damit unzufrieden ist. Die Schule muß eine Ver- anstaltung deS Staates fein; dieser Grundsatz muß endlich zur Durchführung gelangen. Abg. Herold<Z.>: Dem Danke de« Minister« an die geistlichen Schulinspektorcn schließt sich das Zentrum an. Gegen die-Forderung, daß die Schule ausschließlich in die Obhut des Staates gelegt werden soll, erheben wir Einspruch. Zur Borlage habe ich folgend« Erklärung abzugeben. � Die Zentrumsfraktion hat schon seit langem ihr Einverständnis mit der Beseitigung der geistlichen OrtSschulaufsicht und mit der Einführung der Fachaufsicht erklärt, aber immer nur unter der Bedingung, daß dann der Einfluß der Kirche
auf die gesamte religiöS -sittliche Erziehung der Jugend anderweit sichergestellt werden müßte. Dir ZentrumSpartci steht rückhaltSlo« auf dem Bode« der konfessionellen Schul«. Die Bezeichnung des NeligionSunlerricht« als.wahlfrei� be- deutet nur, daß Schüler nicht gegen den ausdrücklich erklärten Willen der Erziehungsberechtigten durch staatliche Zwangsmittel zum Besuche de» Religionsunterrichts angehalten werden dürfen. Wo« den vor- liegenden Gesetzentwurf angeht, so werden wir im Ausschuß ver- iuchen, dem Gesetz eine für uns annehmbare Fassung zu geben und behalten uns unsere endgültige Stellungnahme vor. Ich beantrage die V e r w e i s u n g der Vorlage an die auf 27 Mitglieder zu verstäikende Unterrichtskommission. Hierauf wird die Beratung nach 2 Uhr auf Dienstag 12 Uhr vertagt. Außerdem Beantwortung von förmlichen Anfragen.
GroßGerün SiedlungSgeseNschaften für den Kleinhausbau. Für die Verwertung und Bebauung der vom Wohnungsverband verkauften fiskalischen Ländereien in Größe von rund SOv Morgen sind folgende gemeinnützige lokale SiedlungSgeiellschaften gegründet worden bezw. in der Bildung begriffen: In Johannisthal : die gemeinnützige Baugesellichaft m. b. H. JohaniiiSthnl mit zu- nächst 120 Einfamilienhäusern; in Cöp.enick eine Gesellschaft unter Führung der Stadt Cövenick mit zunächst IVO Einfamilienhäusern; in AdlerShof eine solche unter Führung der Märli- scheu Heimstätte mit zimächst 10V Einfamilienhäusern; in Eich- kamp die Märkische Heimstätte mit zunächst 120 Einfamilien« Häusern, während für das Gelände am Bahnhof Heerstraße eine Gesellschaft unter Führung des Kreises Teltow mit zunächst 150 Einfamilienhäusern in Bildung begriffen ist. Die Gelände in Nowawe« und Friedrichshagen werden durch Gesell- schaften unter Führung dieser Gemeinden gebaut. DaS Gelände in Niederschönewerde wird mit zunächst hundert Wohnungen in Ein- und Bierfamilienhäusern durch den BeamtenwohnungS- verein in Verbindung mit der Gemeinde Niederschöneweide bebaut werden. Für da« am P I ö tz e n s e e gekaufte Gelände entwirft zurzeit die Stadt Berlin einen Plan für eine größere KleinhauS- fiedlimg. Anfragen AnsiedlungSlustiger sind an die lokalen Gesellschaften bzw. Gemeinden zu richten. Infolge des Mangels an Baustoffen wird in diesem Jahr nur eine beschränkte Zahl von Kleinhäusern errichtet werden können._ Regierung und kommunale Arbeiterräte. Auf die Anfrage der Gemeinde Friedenau hat da« Ministerium de« Innern zunächst mündlich erklärt, daß es Sache der Gemeindevertretungen, die die gesetzmäßige Kontrolle der Gemeindevertretung ist, darüber zu entscheiden, ob sie neben sich selbst noch eine andere Kontrollinstanz bestehen lassen will. Der Minister könne in diese« Recht der Selbstverwaltung nicht eingreifen. Inzwischen hat man auch in Zehlendorf beschlossen, dem A.- u. S.-Rat nichts mehr zu zahlen._ Kommunale Arbeiterräte! Freitag, den 80. Mai. nachmittag» 2 Uhr: Bollversammlung der Kommunalen Arbeiterräte im Herrenhause, Plenar-SitzungSsaal. Tagesordnung wird noch bekanntgegeben. Der BollzugSrat. I. A.: 81 Lang«. Kommunale Arbeiterräte S. P. D. Sonnabend. 2 Uhr, Festfaal des Herrenhauses: Sitzung. T.-O.t Da« Fortbestehen der kommunalen Arbeiterräte und da» Verhalten der Gemeindeverwaltungen.— Ausweis mitbringen! Der FrakrionSvorstand. _ Haas«. Tost. Gegen da» Liebln ech!. Urteil und die Erscheinungen um die Flucht Bogel « wenden sich weiter die Funtlionäre der Deutschen Telephonwerke. Akademiker-Bund Groß-Berlin. Der Bund ist eine Zweig« organisation des ReichSauSschusseS der akademischen BerufSstände. Di« Mitglieder versammelten sich am Freitag im großen Hörsaal der Universität. Nach dem Bericht des Borsiyendcn sprach Dr. Pin- kerbeil, Vorsitzender des ReildSauSichusseS akademischer Berussstände, über die Lage des akademischen Arbeitsmarktes. Handelte e« sich in diesen Ausführungen um rein praktische Fragen, io fügten sich in
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Heimkehr.
Nach den Tatsachen erzählt von Franz Werner. Henry Borkmann ging es gut, schr gut, in dem alten Rußland vor dem Kriege. Alle Härten deS Lebens ertrug er in einer immerfrohen Laune. Humorvolle Menschen sind immer glücklich.— Da kam das Weltelend.— Er hatte gute russische Freunde. Aber als die Bemühungen großer Gönner vergeblich geblieben waren, ging auch er rnlt, mußte auch er sich anschließen an die langen, großen Trupps Germanzy, die auS den Baltischen Ländern abgeschoben wurden in die fernen Quartiere der Internierten Wodl ihm aber, er war fertig im Russischen, überhaupt ein halber Russe. Ein Schatz, eine wertvolle Rüstung, eine mächtige Existenzhilfe war ihm in seiner neuen Zwangslage geblieben.�'-- Gouvernement Wologda ? Ganz, ganz fern an der Lst- lichen Grenze. Sein Humor blieb ihm ein treuer Kamerad, auch da im Osten, auch unterwegs dahin. Ter Weg war keine Vergnügungsreise. Für viele ein Vorgeschmack der kommenden Dinge.— Henry aber blieb unverdrossen. Ar- beiten sollte er. wie alle anderen Gefährten auch. Was er verstand und leisten konnte.— O. Henry verstand zu arbcr- ten. Er verstand sehr viel. Und Wasilij Petrowitsch, sein Ouartierwirt. der wohlhabende Viehhändler, hatte bald einen Höllenrespekt vor dem geschickten und alles machenden Häft- ling, diesem deutschen Allerweltstausendsassal Und Wasilij ward alle Tage froher über seinen Zwangsssast. War guter Rat vonnöten, so half Henry. Ganz gleich, ob sichs um Haus- und WirtschaftSfragen, um ärztliche oder um Familien- dinge bandelte. Ein Techniker vom Schlage Henrys war aber nicht nur Techniker, er war einfach alles, alles das. was ein halb Schock anderer Spezialisten zusammen ausmachten. Man sprach im Ort bald und viel von ihm. Und Wasilij war froh und stolz. Und auch die Mächtigen im Orte und dar- über hinaus, sie wußten von dem Allerweltsdeutschen, dem Genrich Antonowitich Borkmahn. —„Siehst Du, Djadjenka Wasilij. nun nimm Deine vielen Hundertrubelnoten und tu sie in den sicheren Geld- koffer hier. Glaub mirS, sie liegen darin besser, alL wenn
Du sie in Zeitungspapier wickelst und sie ewig bei Dir im Kittel herumschleppst. Du bist ja ein wandelnder Geld schrank. Mensch, Du bist reit fürs Berliner Panoptikum,' „Hast recht, Genrich, hast recht. Hast fein gemacht, �n Geld koffer. Das ist deutsch und ist gut. Alles deutsche ist gut. Nim leg aber auch Dein Geld rein."„Gewiß, da hast es. Zähls aber auch, was mir gehört." Und der Kasten war fortan ein Heiligtum. � Gar viele Schein? tat Wasilij da hinein. Und Sonja, seine Frau, sie tat das gleiche. Beide waren stolz darauf. Und manches andere Schöne schuf Genrich noch im Hause. Wasilij und Sonja zerbrachen sich den Kopf darüber, wie es möglich war, daß ein junger Mann von siebenundzwanzig Jahren, dazu noch ein gewöhnlicher Gefangener, so vielerlei gelernt hat. Und manchmal fragten sie Henry wißbegierig und verwundert, ob denn in Deutsch - land alle jungen Männer soviel lernen müssen. Und scherz- hast spottend, aber mit überzeugenden Worten und Gesten erklärte ihnen Henry, daß alle Russen Kamele seien und daß es in Berlin alleine soviel« Gelehrte gebe, wie in Rußland Bauern und' Viehhändler. Die Monate verstrichen, die Jahre auch. Der harte Winter. Der kurze Sommer mit den hellen Nächten. So anders, so viel anders, wie zu Hause in Berlin . Aber doch auch schön. Venry war vollkonimen eingewöhnt in seine Lage. Er war der Freund des HauseS, und er hatte dieses Haus und seine- Bewohner so durch seine ordnende und kluge Beratung innen und außen umgewandelt,.daß der alte Wasilij aus seinem naiven Erstaunen gar nicht heraus konnte und bei jeder Gelegenheit betonte, daß es gut, sehr gut so war. Das Deutsche war immer gutl Und bald glaubte er kaum noch, daß es jemals anders gewesen war oder hätte sein können in seinem Hause.— Wenig und meist nur Falsches drang von den blutigen Ereignissen draußen in diese friedliche Welt. Von Berlin kamen nur selten Postkarten, die. vorschriftsmäßig, nur „Gutes" meldeten und manchmal stark orakelhafte Sätze ent- hielten, bei denen der Absender sich etwas Bestimmtes wohl gedacht haben mochte. Ueber solche Orakel sann dann Henry monatelang nach, bis er endlich glaubte, den Sinn erraten zu haben.— Wenn Henry nicht gelegentlich in die nahege- legene Munitionsfabrik zu gewissen Spezialarbeiten gerufen worden wäre und wenn er nicht manchmal das traurige Los
vieler anderer Internierten in der Gegend gesehen und er- fahren hätte, so hätte ihn wahrhaftig nichts an den großen Krieg da draußen erinnert. Nur die häufig kaum zu bän- digende Sehnsucht nach Hause, an den langen Winteraben- den, ließen ihn seine Gefangenschaft fühlen. Aber alle quälenden Fragen und Gedanken suchte er von sich zu lenken durch seine Arbeit, an der Verbesserung des Hauses, und son- stigen Besitzes seines Ouarticrwirtes. Das Gelingen jeder Sache war ihm noch mehr als dem alten Viehhändler eine Freude. Sogar das Kochen, Brateg und Backen nahm er der alten Sonja ab und kopfschüttelnd, staunend sahen die Alten seine Erfolge auch als Küchenmeister. Nun, es war ja auch nicht gar zu schwer, das alles zu vollbringen. Tjotjenka Sonja hatte stets wohlgefüllte Kammern. Und doch gelangs dem Genrich besser als der Sonja. Seine Rezepte waren sein, sie waren deutsch und deshalb gut. Nur der Samokur, der heimlich Selbstgebrannte, er mußte russisch bleiben, für ihn gabs kein deutsches Rezept. Dabei hatte Genrich nichts zu reden. Und Wenns beim Brennen zehn Werst gegen den Wind stank,— der Schnaps bleibt verschont von Genrichs Veredelungsverfqbren nach deutschem Rezept. Die Polizei war scharf hinterher, und wo es nur leise roch nach Selbst- gebranntem, erschien gar bald der Gorodowoy(Polizist). Nur schwache, wirklich schwache Spuren des scheußlichen Gestanks lagen noch in der schwülen Sommerabendluft beim Hause Wasilijs, nachdem er in dem von Henry neu gebauten Brennkessel am Morgen wieder reichlichen Vorrat bereitet hatte. Und trotzdem, trotzdem— Tschort wosmi! Da war er, der dicke Saufsack, der Wronnin, der Gorodowoy. Und dazu noch nicht mal allein. Auch der Pristaw(Kommissar). Ho hol Wozu auch der?—„Guten abend, Wasilij Petra- witsch. Wo ist Genrich Antonowitsch Borkmahn, Dein deut- scher Freund? Ah, schon gut, da kommt er."„Was gtbts?" fragt Henry mit einem leichten Gefühl der Bangigkeit. Denn er hatte den famosen neuen Brennkessel selber gebaut, gerade gestern. Und Wasilij war so stolz darauf, auf den Kesie! und auch auf den Genrich— gewiß, und mit Recht. Solchen Kessel und solchen Gefangenen gabs im ganzen Orte nicht mehr. Und Tjotjenka Sonja räumte alles beiseite, w.'s den Verdacht des heimlichen Brennens hätte bestätigen können. Auch den Kessel. Im übrigen nahm sies nicht gar io tragisch. (Forts, folgt)