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Nr. 16.

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Erscheint täglich außer Montags. Preis pränumerando: Biertel jährlich 3,30 Mart, monatlich 1,10 Mt., wöchentlich 28 Bfg. fret in's Haus. Einzelne Nummer 5 Pfg. Sonntags- Nummer mit illustr. Sonntags- Beilage Neue Welt" 10 Pfg. Post- Abonnement: 3,30 Mt. proQuartal. Unter Kreuz band: Deutschland   u. Desterreich­Ungarn 2 Mt., für das übrige Ausland 3Mt. pr.Monat. Eingetr. in der Post- Zeitungs- Preisliste für 1895 unter Nr. 7128.

Vorwärts

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12. Jahrg.

Insertions- Gebühr beträgt für die fünfgespaltene Petitzeile oder deren Raum 40 Pfg., für Vereins- und Versammlungs- Anzeigen 20 Pfg. Inserate für die nächste Nummer müssen bts 4 Uhr Nachmittags in der Expedition abgegeben werden. Die Expedition ist an Wochen: tagen bis 7 Uhr Abends, an Sonn und Festtagen bis 9 Uhr Vor­mittags geöffnet.n

Bernsprecher: Amt 1, Nr. 1508. Telegramm- Adresse: Fozialdemokrat Berlin  !

Berliner   Bolksblatt.

56168

Zentralorgan der sozialdemokratischen Partei Deutschlands  .

Redaktion: SW. 19, Beuth- Straße 2.

Drüben und Hüben.

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Sonnabend, den 19. Januar 1895. Expedition: SW. 19, 33euth- Straße 3.

Staatsruder und daß der Kurs des Reichsschiffes fest vor- tein Parteimann sein werde; und während der neugewählte gezeichnet sei. Und als anderen Morgens das Volk auf Cafimir Perier mit dem Gebrüll blinder Leidenschaft und Am Dienstag Abend kündigte der französische   Präsident wacht, ist der Steuermann über Bord geschwemmt, und mit Aufrufen zum Bürgerkriege begrüßt ward, waren die feinen Rücktritt an; am Mittwoch begründete er seinen treibt das Schiff steuerlos auf den Wellen. Und wer hat ersten Worte, die Faure gestern aus dem Munde des Entschluß in einer Botschaft an die Kammer und den den Steuermann von seinem Posten gestoßen? Warum Senatspräsidenten begrüßten, Worte der Freiheit und des Senat; und am Donnerstag Abend hatte Frankreich   einen wurde er von seinem Posten gestoßen? Wir können es Friedens. neuen Präsidenten. Die Präsidentenkrisis, gleich der wohl vermuthen, allein wir wissen es authentisch bis zum Nicht, daß wir uns Illusionen hingäben! Das goldene Ministerkrisis, die ihre Einleitung gebildet hat, vollzog sich heutigen Tag nicht. Ein dichter Schleier des Amts- Beitalter der Freiheit und des Friedens ist noch lange nicht im Lichte der Deffentlichkeit, unter den Augen des französischen   geheimnisses bedeckt bis auf den heutigen Tag die gekommen. Der Kapitalismus ist in Frankreich   noch Volts und der Welt. Und nicht blos unter den Augen des Ereignisse und Personen, die diesen jähen System- zu mächtig, um ein ruhiges Hineinwachsen der Bolts, sondern mit dessen Mitwirkung. Die französischen   und Personenwechsel herbeiführten. Das Volk wurde Gesellschaft in den Sozialismus" zu gestalten. Wäre Bürger, die der Wahl des neuen Präsidenten im alten nicht befragt, über den Kopf des Volkes hinweg wurde über dem anders so würde nicht Faure, sondern Rönigsschloß zu Versailles   beiwohnten, waren nicht uns das Schicksal des Volkes verfügt- ganz als ob wir in China Brisson zum Präsidenten gewählt worden sein Brisson, thätige, ohnmächtige Zuschauer- fie waren mitthätig bei lebten, oder in Rußland  . Ganz wie es weiland in der der zwar nicht Sozialist ist, aber die Nothwendigkeit des der Handlung, denn sie sind Wähler und Auftraggeber der Türkei   war, ehe die bittere Noth zu Reformen zwang; oder Sozialismus, wenigstens die Nothwendigkeit, ihm freie Bahn Deputirten und Senatoren, die im Namen und Auftrag des in dem Reiche des Kalifen zur Zeit von Tausend und Eine zu lassen, begriffen hat. Faure   wird den Einflüssen des souveränen Volks den obersten Beamten der Republik   Frant- Nacht, wo eine Laune des Herrschers den Großvezier zum Kapitalismus nicht auf die Dauer zu widerstehen vermögen, reich zu ernennen haben, welcher der erste ist unter Gleichen. Hausknecht, den Hausknecht zum Großvezier machte. und wohl oder übel in das Parteiregiment und die Kampf­Das französische Staatswesen mit seiner uneingeschränkten Fürwahr, nur mit tiefster Beschämung kann der Ver- politik hineingerissen werden. Aber er verfügt nicht mehr über Deffentlichkeit gleicht jenen Bienenstöcken von Krystallglas, gleich unserer zahmen"" Ordnung" mit der wilden Un- die gleichen Kampfmittel wie Casimir Perier  ; und selbst die den vollsten Einblick in das Leben und die Arbeit des ordnung" dort drüben in Frankreich   uns erfüllen. Und ein wenn im Laufe der Weiterentwicklung der Dinge, die offene Bienenvolts gestatten. Es duldet keine Heimlichkeiten. gar flägliches Schauspiel bieten wir den übrigen Völkern. Diktatur proklamirt würde, so hätte der neue Präsident doch Hämisch bespricht unsere deutsche   Polizei- und Philister- Freilich, es giebt ja auch einen Bedienten stolz, und je auch nicht annähernd die Macht seines Vorgängers. presse die Vorgänge in Frankreich  , und ergeht sich wieder niedriger die Bedientengesinnung, desto höher ist sprichwört- Wer immer von dem Kongreß- den vereinigten in der pharisäischen Litanei: Bei uns ist es doch anders! lich der Bedientenstolz; aber der Sklave, der mit seinen Deputirten und Senatoren zum Präsidenten ge­Ja, das ist ausnahmsweise einmal nicht gelogen. Ketten prahlt, hat auch stets für den verächtlichsten der wählt wird schrieb unser Genosse Fourniere un­Ja! Bei uns ist es anders. Menschen gegolten. Und mit Recht. COD mittelbar vor der Präsidentenwahl in der Petite Bei uns zahmen" Deutschen   ist das öffentliche Leben" Noch ein anderer Punkt fordert zu Vergleichen auf. Casimir République"- wer immer zum Präsidenten gewählt wird, tein öffentliches wie bei den wilden" Franzosen   und anderen Perier ist gefallen, weil er die Staatsregierung als Bartei- er fann nur der Liquidation, nicht einer Partei, wilden" Nationen, die so wenig polizei- politische Erziehung sache auffaßte und persönliches Regiment übte. Für Frank- sondern eines Regierungssystems präsidiren. Die Revo= haben, daß sie sich selbst regieren wollen. Bei uns herrscht für reich hat das Barteiregiment und das persönliche Regiment in lution ist im Marsch; nichts wird sie auf das öffentliche Leben" der möglichst hermetische Ausschluß der Person Cafimir Perier's Schiffbruch gelitten. In halten." der Deffentlichkeit. Deutschland   haben wir, seit der Gründung des Reiches, das Parteiregiment und das persönliche Regiment in der ausgeprägtesten Form. Nach dem Sturze des Fürsten  in einem

Das Deutsche Reich   ist keine Republik   und wir haben feinen Präsidenten. Dafür haben wir einen Reichs

tanzler, der, die Verschiedenheit in der Stellung eines

obersten monarchischen und eines obersten republikanischen Beamten in Rechnung gebracht, eine ähnliche Stellung ein­nimmt, wie der französische   Präsident, und eine noch stärkere Regierungsgewalt darstellt, wenn er auch nicht die nämliche politische Gewalt besitzt.

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Feuilleton.

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Bismarck versuchte deſſen Nachfolger, Caprivi, Politische Leberlicht.

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Anfluge von staatsmännischem Verständniß, dieses Re- dig Berlin  , den 18. Januar. gierungssystem zu durchbrechen und die Regierung über die Aus dem Reichstage. Die Debatte über die Aende Parteien zu stellen. Bei den anormalen Berhältnissen des rung der Strafprozeß- Ordnung wurde heute noch während Deutschen Reichs, das noch in den Windeln des militäri- der ganzen Sigung fortgesetzt und trotzdem nicht zu Ende schen Polizei Absolutismus   steckt, konnte der Versuch gebracht, so daß der Gegenstand auch morgen an erster Auch bei uns hat ein Wechsel des obersten Beamten aber nicht gelingen, und mußte Caprivi zu Fall kommen. Stelle auf der Tagesordnung steht und das parlamentarische stattgefunden. Und die Umstände, unter denen er sich voll- ezt ist das System der Parteiregierung und des persön Tagewerk dieser Woche wohl mit ihr abgeschlossen werden zog und die Umstände, unter denen der Wechsel in Frank- lichen Regiments in Deutschland   schärfer zugespißt als je. dürfte. reich sich vollzog, fordern zu einer Vergleichung heraus. Die Franzosen sind schneller als die Deutschen  . Sie, Als erster Redner ergriff heute der Abgeordnete Dort feine Regung, kein Att, ja man fann sagen, die Wilden", haben sich das System der Parteiregierung Lenzmann das Wort, der besonders in dem ersten Theile Teine Geberde der Regierung, die nicht von jedem Staats- und des persönlichen Regiments vom Halse geschafft. Wie seiner Rede auf die Verhältnisse bei unseren Gerichten, die angehörigen beobachtet, kritisirt und kontrollirt werden lange werden wir, die Zahmen", das Joch noch tragen? sogenannte Unabhängigkeit der Richter, den übermäßigen tönnte. Der neue französische   Präsident der Republik   Frank Einfluß der Staatsanwälte, die Versuche, die Vertheidigung Hier Heimlichkeiten und Geheimnißkrämerei. Hinter reich hat die Bedeutung seiner Wahl wohl erkannt; er brach zu beschränken und den Vertheidiger selbst als überflüssige verschlossenen Thüren, dem Volfe verschlossenen Thüren feierlich mit dem Prinzip des persönlichen Regiments, und lästige Beigabe zu behandeln, recht interessante Streif wird über die Geschicke des Volkes verfügt. Eines und während Casimir Perier   im Juni des vorigen Jahres lichter fallen fallen ließ. Der freisinnige Redner hob Abends legt das deutsche Volt sich Volt sich zu Bett in sein Amit als Kampfpräsident gegen die Sozialdemokratie besonders auch hervor, wie der Reservelieutenant" und das dem Glauben, daß der Steuermann fest stehe am angetreten hatte, betonte sein Nachfolger gestern, daß er Interesse an der militärischen Rangliste auch in den richter­mußte er sich fast heiser schreien, um mit seinen Antworten Durchschnitt derer, die er zu Erfolgen gelangen sah, anzus durchzudringen. dull sehen. Warum war er denn dazu verurtheilt, unaufhörlich Glücklicher Weise brachte ein Neuankömmling eine nur ein Pflanzenleben zu führen? Er fühlte, er sah es: er [ Nachdruck verboten.] Ablenkung. Es war der Verleger der jungen" Schule. war das Opfer seiner Ideen. Er besaß eine Seele, die Man stieß und drängte sich um ihn. Cayrolaz benutzte erst morgen oder übermorgen auf Verständniß hoffen durfte. diese Pause, um René vom Kampfplaz fortzuziehen, und Wehe denen, die zu früh geboren sind, die ihrer Zeit voran Roman von Georges Renard. Autorisirte Uebersehung faum war er auf der Straße, als er ihn auch freund schreiten, die so durch den Zufall ihrem wahren sittlichen schaftlich ausschalt. Klima ferngehalten werden! René gehörte einer dem Unters gang geweihten Vorhut an, er war einer von denen, welche die militärische Sprache so treffend als verlorene Posten" bezeichnet..... Indeß, was sollte er thun? Man kann nicht glauben, was man will; und dazu zu sagen, was er nicht dachte, fehlte René die Dreistigkeit. Ach, wenn er doch zehn oder fünf­zehn Jahre warten konnte! Dann war er vielleicht von der großen Masse der Armen eingeholt, dann hatte sich die Gunst des Publikums den Wahrheiten zugewandt, die er hochhielt. Allein, würde er diesen späten Glückstag noch erleben? Er hatte düstere Vorahnungen, er empfand Furcht davor, zu sterben, bevor dieses zweite Exil, das ihn in seinem eigenen Lande traf, sein Ende erreicht hatte.... Dann wurde er wieder ruhiger.... Besaß er nicht noch Kräfte zum Kampf und sein fast gesichertes tägliches Brot? Und mit einer heftigen Bewegung, ähnlich der, mit welcher ein muthiger Renner den Kopf wirft, verbannte er die feige Muthlosigkeit weit von sich und wiederholte hartnäckig entschlossen: Es gilt auszuharren! Es gilt auszuharren! XII Sho

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Am Exil.

von Marie Kunert  .

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Und wie wird sie beschaffen sein, die Kunst der Zukunft, Herr Prophet? unterbrach Frau Désaubiers ihn. Darf man es wissen? Nimm Dich in Acht, jetzt bist Du verloren! flüsterte Cayrolaz seinem Gefährten zu. Aber René zuckte die Achseln und erwiderte tapfer, von der Diskussion fort­geriffen:

Sie werden verzeihen, Madame, wenn ich Ihnen das, was noch nicht existirt, nicht mit vollkommener Genauigkeit schildern kann. Aber ich weiß wenigstens, daß diese Kunst einfach und gesund, klar und maßvoll, von Gerechtigkeit und Wahrheit gesättigt, von hochherzigen Sympathien für alles, was leidet und lebt, beseelt sein wird. Und sie wird auch, weil alles dies daraus folgt, in dem Besten, was sie hatte und hat, die Seele des alten und des neuen Frankreich   vereinigen.

Ich werde Dich noch einmal in Gesellschaft führen! Du bist ja der reine Wilde, geh! Du hattest es wohl sehr nöthig, die Theorien und Prätentionen dieser guten jungen Leutchen unbarmherzig zu zerpflücken!

zutreten.

Die Hauptsache war für Dich, in ihren Kreis ein­Vom Feuer des Kampfes noch erhitzt, nahm René Cayrolaz' Worte ganz ernst.

Du findest es nicht erbärmlich, daß man die Kunst zum Hebel der Décadence erniedrigt, daß man die jungen Leute auffordert, den Todtentanz anzuführen?

Cayrolaz schnippte mit den Fingern und antwortete lachend:

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Ach, ich! Du weißt doch, wie ich auf alle ihre literarischen, philosophischen und sonstigen Aufschneidereien pfeife. Worte! Worte! Worte! Vorausgesetzt, daß meine Literatur mir nur genug Pépetten einbringt! Dieses Glaubensbekenntniß wurde mit einer Verblüfft- In dem Jargon Cayrolag' bedeuteten Pépetten Gold­heit angehört, der gleich darauf ein wildes Gewirre von und Silberstücke. René, der dadurch wieder auf den Boden Ausrufen, Gelächter, entrüsteten oder spöttischen Be- der Wirklichkeit versetzt wurde, hatte nicht die Judiskretion, merkungen folgte. René, der von allen Seiten angegriffen seinen Kameraden zu fragen, was ihn denn zwang, soviel und mit Argumenten bombardirt wurde, wußte nicht mehr, Pépetten zu verdienen, ihn, der fast nur gut bezahlte Artikel wohin er hören sollte. Im Fluge griff er den Gedanken auf, schrieb. Er seufzte und schwieg. red bis den zwei seiner Geguer geäußert hatten: Wenn man Nach Hause zurückgefehrt, faßte er seine literarischen so absonderliche Ansichten hat, gründet man eine Revue für Erfahrungen zusammen, und er mußte sich gestehen, daß das veröffentlicht, die bemerkt worden waren und erhielt fich allein und er dachte später daran, daß die Jugend" Resultat kein glänzendes war. Er war nicht so leitel, sich nun das Recht zu zeichnen, die Ehre, seinen Namen auf dem nach diesem hitzigen Streit seine Broja nicht sehr gast für ein neuerstandenes Genie zu halten, aber er hatte auch Hauptblatte zu sehen. Da sein Gehalt erhöht worden war, freundlich aufnehmen würde. In dem wachsenden Tumult nicht die Demuth, sich für weniger intelligent als den so zog auch wieder etwas Wohlstand in das kleine Heim

Um diese Zeit schien das Leben, das auch den am meisten vom Mißgeschick Verfolgten zuweilen zulächelt und sanfte Launen zeigt, gütiger gegen René. Seine Stellung bei dem Unparteiischen" wurde besser. Er hatte einige Artikel