Nr SIS �Sy.Iahrgattg
Silvester im hi Psannkuchen und Punsch waren immer schon, und nich! bloß in Berlin , die Wahrzeichen der Silvesterfeier. Aber früher war alles dieses harmlos genug, Pfannkuchen und Punsch kosteten«in paar Mark, und auch Arbeiterfamilien konnten, sosern sie Berlangen danach trugen, auf diese Weife Silvester seiern. Daneben freilich war es gerade in Berlin außerordentlich beliebt, den Silvesterabend oder besser gesagt die Silvesternacht im Restaurant zu verbringen. Es gab Familien, die im ganzen Jahr nicht in ein öfsenttiches Lokal gingen, die es aber Silvester nicht zu chause hielt. Es mar das indessen lediglich eine Angelegenheit des braven Bürgers. Der Lohnempfänger konnte sich ein solches Vergnügen nicht leisten. Ein- mal weil es sein Geldbeutel nicht erlaubte und ferner aus dem Grunde, weil viele am Neujohrsirtcrgen wieder pünktlich zur Stelle fein mußten, während der Bürger, an diestnn Tage befreit von Bureau und Beruf, bis in den hellen Mittag schlafen und den Kopf vom Alkohol auerauchen lassen konnte. Unterwegs anS Zu Hause. Aber es muß anerkannt werden, daß es bei diesen Silvester- feiern im Restaurant im allgemeinen nicht zu hoch herging. Wesent- lich geändert hat sich dieses Bild bald nach dem Kriege und hat heilte ekelerregende Ausmaße angenommen. Je toller der Tanz um das goldene Kalb tobt, je rücksichtsloser von einer breiten Schicht von Schiebern nur�as rein Materielle beirieben und für wertvoll genug gehalten wird, je mehr eine andere Schicht der Bevölkerung immer mehr in Armut, Verelendung und Verzweiflung versank, kaum noch nxiß, wovon sie das Notwendigste zum Lebens- unterhalt bezahlen soll, um so schamloser machte sich der Schlemmer- betrieb in den vielen Dielen Berlins bemerkbar. Seit Tagen ist in diesen„feinen' Lokalen dein Platz mehr für Silvester zu haben. Die billigste Flasche wein kostet hier SUvester 5000 M.. einFlasche Sekt 30 000 bis dOiOOO M., ein Abendessen(etwas Fisch, ein paar Kartoffeln und ein« Wenigkeit Käse) 3000 AI. , ein Likör 200 bis 300 M.l Aber auch die SUvesterfeier in den Familien kostet in diesem Jahre kein kleines Geld. Wer, wie das schon an diesem Abend so üblich ist, in die Zukunft schauen und aus den Formen des geschmolzenen Bleis herauslesen will, was leiner im nächsten Jahre wartet, muß für dieses Vergnügen viel Geld bezahlen, kleine Dieifiguren zum Schmelzen kosten 15 bis 20 M. das Slllck. ein Löffel zum Erhitzen des Bleis I 0 M. Wer sich feinen Punsch selbst zu brauen beabsichtigt, muß für«ine Flasche RmrwerschnHt 3000 21t. bezahlen. Eine Flaich? Punschessenz kostet 2500 bis 3500 Mark. Zu diesen Preisen muh man den teuren Zucker und das nicht billige Gas rechnen, so daß heute der Punsch in der Familie ebenfalls nur ein Genuß für Leute mit dicken Brieftaschen ist. „Kkufer-Pirnfth'. In den Zeiten der Monarchie mag es bei manchen Leuten eine Empfehlung für Warm gewesen sein, wenn diese in ihrer Auf- machung das Bild oder den Namen irgendeines gekrönten chaupies führten. Patenksofas, Zigarrenetuis, Spargeldofen, Stiefelwichse, Tafchentücher und noch viele andere nützlich« und angenehm« Dinge wurden mit derartigen„patriotischen" Zutaten ausstaffiert, von denen die Fabrikanten und die Händler sich eine wirksame Reklame versprachen. Als die Revolution kam und die Monarchie wegfegte, wird mancher geglaubt haben, daß es nun auch mit der Reklame- Herrlichkeit der Gekrönten vorbei fei. Aber wie wenn das Zeiten- i ad nach auf 1914 stände, bringt Ende 1922 ein Spirituosenfabrikant aus Düsieldorf � seinen Pmrschextrakt als„Kaiser- Punsch" auf den Markt. In Berlin kann man in der Mauer- straße bei einem Feinkosthändler die Punschslerschen im Schau- fenster sehen, ausstaffiert mit dem Bild des Exkaisers Wilhelm II. und der Bezeichnung„Deutscher Kaiser-Punsch�'. Einen Kaiser gibt es nicht m«hr im Deutschen Reich, doch zum Silos st er wollen die trauernden Monarchisten ihren„Kaiser- Punsch" nicht entbehren. Wer sich in„Kaiser-Punsch" be-
Die Welt ohne Sünde. Der Roman einer ZNinuke von Ricks Daum. (Schluß.) Anselm steht und starrt. Die Jagd läßt ihn zurück. Er blickt hinauf und findet den Himmel nickst über der Stadt. Es funken drehende Lichter über allen Dächern. Inschriften aus Licht lausen die Mauern entlang. Bernwards Hotel. Bern - wards Kaufhaus. Bernwards Fabrik. Bernwards Kraft- »ort Die Stadt gehört Bernward. Da Anselm noch steht und müde Fäuste ballt, hört er Bsrnwards Stimme selbst, die hohe, gelle, fast vergessene. Sie rasselt im Ausrusertvn: „Bitte einzutreten, meine Herrschaften, immer herein. Hier sehen Sie dargestellt die große Revolution, von ersten Künstlern und mit größten Mitteln. Es ist nichts gespart. worden. Eine Million Eintrittspreis. Keine Trickauf- nahmen. Sämtliche Explosionen und Unglücksfälle sind echt: ebenso sämtliche Leichen— wovon ungefähr achtzigtausend vorgeführt werden. Bitte einzutreten. Spannend. Jnter- essant. Lehrreich. Für die Darstellung der Hauptrolle ist ein berühmter Massenmörder gewonnen worden. Eine Million Eintritt." Neu spürte Anselm das Zittern feines nackten Oberkör- pers. Dicht vor ihm war Bernwards Gesicht, ganz deutlich hing es da. mit aufgerissenem Mund seine Lobpreisungen krähend. Gleich darauf wurde es dunkel und Anselmus fand sich zwischen Menschen gepreßt in einem großen Raum, dessen gvalmige Lust er kannte wie eine ferne Erinnerung. Ein viereckiges Stück Weiß ward aus dem Dunkel geschnitten, Dann kamen Bilder. Da sieht er sich selbst. Der Führer, schreit die Ausrufer- stimme, und es ist Hohn dabei. Des Führers Frau! schreit die gelle Stimme und lacht un- verbahlen. Da ist Isabell. Sie steht im Badeanzug an ein Holz- Geländer gelehnt und winkt. O!Duft der alten Sommertage, süßes Figürchen, ganz aus einen Grund von Gold und Eni- zücken gemalt... Das Bild belebt sich, gewinnt Regung, Farbe, blickt mit Menschenangen— Das Kirch des Führers! sagte die Ausruserstimme: der Saal ahnet. Da steht Konrad, so klein, so alles Künftigen unwissend av- der Brücke, und füttert Möwen und lacht fein Kinder- ka-G?. BSO Lübrers Freunde! wird verkündigt. Und Anselmus
tutigen Serlin. trunken hat, grölt doppelt forsch sein„Heil dir im Siegcrkranz"— zu Ehren des Helden, der Silvester in Holland feiert. Was kosten öie Scherzartikel! Bei den Siloefterfeiern im lauten Jubel und Trubel haben die manrngfachsten Scherzartikel immer eine große Rolle gespielt. Sie sind auch diesmal wieder außerordentlich zahlreich auf den, Markt erschienen. Nach Neuem, Originellem und»och nie Dage- wesenem sucht man aber vergebens. Man kann das Originelle allen diesen Tands höchstens in d«n hohen Preis«,, erblicken. So kostet z. B. eine Maske aus Gaze 8 9 M., ein kleiner Beutel mit Kon fett! 25 21k., eine Lärmkrompete 175 M., eine ulkige Mütze oder kappe ans Papier 30 bis 50 211., ein Karton mit sechs Knallbonbons 75 M, Luftschlangen 75 PI. Daneben hat man, noment- lich in den Waren häujirn, auch ein paar billigere Artikel für be- scheidenere Gemüter Man sieht in diesem Jahre viel kleine Blumen und Sträuße aus Papier, von denen das Stück 8 M. kostet. An einer anderen Stelle wieder hcct man kleine Männer aus Pappe mit dem Hut in der Hand und mit einen, unglaublich dummen Gesichtsausdruck, die schon für 10 M. zu haben sind. Symbol und Sinn dieser Figuren aus Pappe sind unbekannt. Viel- leicht aber sollen sie das dumme Volk bedeuten, welches sich noch immer gefallen läßt, daß viele Tausende in einer Silvesternacht mehr ausgeben als es im ganzen Jahre verzehren darf. Viel ge- kauft wurden goldene Zehnmarkstücke aus Poppe, zumal diese S6)erzartik«l für ein« Mark zu haben waren. Sei öen Straßenhänölern» Ebenso wie in den Weihnachiswochen erscheinen auch vor Jahresschluß die Stroßenhändler auf dem Plan und bieten auf dem Potsdamer Platz und an anderen belebten Stellen mit lauter Stimme und vielen schönen Reden allerlei Silvestcrartikel an. Hier findet man auch originelle und neue Scherzartikel. Da ist z. B. die militärische 2tlaus. Sie ist noch aus dem Krieg übriggeblieben, sogt der Händler. Durch einen kleinen Trick, uN- sichtbor für den Nichtemgeweihten, führt sie auf dem Handrücken alle möglichkn militärischen Exerzitien auf Kommando aus: Kehrt! Rechts um! Links um! Marsch! Halt!„Wer den Militarismus nicht vergessen kann, der kaufe sich diese Maus für 10 0 Mar k," ermuntert der Ausrufer. Und der Mann kennt das Herz der Men- sehen, denn er wird seine Ware reißend los. Ein anderer Händler, nicht weit von dem ersten entfernt, hält einen merkwürdigen Musik. apparat feil, der mit dem Mund und unter gleichzeitige? ZuHilfe- nähme der Nasenlöcher gespielt wird. Er besteht aus Blech und hat zwei Teile. Der eins Teil wird zwischen die Lippen gesteckt, und das obere Stück, das sich in zwei kleine Rohre gabelt, wird in die Nasenlöcher eingeführt. Und nun geht eine wunderliche Musik los. Durch den Atem aus dem Mund wird vermittels dieses Apparats irgendein Lied oder Couplet geblasen, und durch den Hauch aus der Nase wirg gleichzeitig dazu melodisch und im Takt gepfiffen. » Dieses und die lieblichen Töne vieler anderer geräuschvoller Instrumente werden die Silvesternacht erfüllen, und es ist nur schade, daß sie in den Bars und Dielen gerade von jenen Leuten gespielt werden, die selbst verdienen, daß man ihnen die Flötentöne bei- bringt.
Gräfliche Freigebigkeit. Auf dem Lande ist es bei den Gutsherrschaften üblich, zu Weihnachten ihren Leuten ein Geschenk zu geben. Hierzu wird uns aus Blankenfelde im Kreis Teltow(gemeldet, daß die Arbeiter und Arbeiterinnen der Gräfin von Wartensleben diesmal folgende Geldbeträge erhalten haben: Männer.50 M., Frauen 20 M., Jugendlich« 5 M. Es scheint, daß auf dem Gut der Gräfin von Wartcnsleben die Entwertung des Geldes noch unbekannt ist. Anderswo weiß jeder, daß man für 6 M. heute nicht viel mehr als früher für einen halben Pfennig und für 50 M. heut« nicht mehr als früher für einen ganzen Sechser kaufen kann.
sieht sie noch einmal wie sie Barrikaden bauen, er sieht ihre mutigen, entschlossenen Gesichter wieder, ihr tapferes Lächeln, ihre Hände, deren Druck ihm oertraut ist. Roch ehe er alle gesehen hat, rollen die Bilder weiter. Dann marschierende Armeen, die sich am Fuß des Klosterberges über den Fluß wälzen. Die Feinde kommen vom Süden: sagt die bohn- volle Ausruferstimme. Erinnerung. Erinnerung. Jeder Pulsschlag bringt em neues Bild. Der Führer flüchtet. Toumellauf durch die zerstörte Stadt. Die Straßen aufge- rissen. Die Mauern schief und wankend. Schüsse aus Win- kein. Wurf der Treppen zur Kirche aufwärts. Drinnen die Menschen. Drinnen der Führer, der spricht. Auf Gesichtern ist seine Rede gespiegelt. Lauf eines Revolvers auf seine Stirne gerichtet. Ausstand. Und wieder Flucht. Da geschah etwas. Da brach etwas in den Raum ein. Da hellte ein Fressen von Schein die Dunkelheit. Da war ein Feindseliges, ein mordendes Näherkommen. Da brannte es jäh und peitschend in Anselmus Augen. Der Raum schreit auf. Er steht in Flammen. Ruf: die Brandreflektorenl Sie kommen. Die Feinde. Die Feinde. Feuer. Flamme. Sausen. Brechen. Fressender sin- gender Einsturz wie nachts im Wald- Zuckender Schein über Wände hin und riesenhafte Schatten. Die Feinde. Die Feind.e. Und nochmals Raserei der Flucht. Nochmals alles Er- lebte. Die Stadt' brennt. Jenseits des Flusses steht eine Wand von Flammen und spiegelt sich im Wasser. Schreie: die Brücke! Rettung! Flüchten! Aber die Brücke ist fort. Inmitten des Flusses ist Dunkles getürmt, Berg von Trümmern, Leichen, Kranken, Sterbenden. Und weißer Lichtkegel über die Stadt peitscht Feuer und Un- tergang hinwerfend über Dacb und Haus. Dazwischen takt- fester Schritt der nähernden Feinde. Dazwischen leiser Ge- sang, irgendwo, nicht wirklich. Dazwischen furchtbarer langer Schrei. Untergang. Und inmitten des furchtboren Letzten sieht Anselmus noch einmal einen Mann, der einen Verwundeten über den Schul- tern trägt, und lächeln kann, obwohl ihm das Blut von den Schläfen und über das stillt? Gesicht rinnt. Anselmus streckt seine Hände aus, in eine Ferne und slüstert: Bruder: ewiger Bruder. Es geschieht dicht vor seinen Augen und doch uner- reichar weit, daß Egidius sanft den Wunden bettet und dem Gestorbenen die Augen schließt... Da steht Anselmus noch einmal auf der Kanzel und unier ihm ist Gewühl von Menschen, Augen, Händen, Stimmen. Sie sind ihm fremd. Er versieht sie nicht. Es ist, als würden sie da unten handeln, feilschen nnd verkaufen. Bernwards Stimme ruft aus und bietet zugleich. Wvrtfetzen schlagen an
Lustige Neujahrsweisheit. Wie Glastbrenncr eine Jahreswende bcgrüfttc. Silvester und Neujahr galten dem Berliner von jeher als eine willkornmene Gelegenheit, auf Kosten eines mehr oder minder lieben Mitmenschen seinen Witz zu üben. Geschah dos auch nicht immer auf die feinste Art, so war doch in den Reden und Wünschen, mit denen das olle Jahr verabschiedet und das neue bewillkommnet wurde, der Grundzug ein gutmütiger Humor. Der Vergessenheit entrissen zu werden verdient eine Betrach- tung, die Adolf G l a ß b r c n n e r, der witzig« Humorist und treffsichere Satiriker des vormärzlichen Berlin , vor jetzt drei Viertel- jahrhimderten beim Anbruch des Jahres 1848 als„Silvester- rede und Neujahrswunsch" veröffentlichte. Sie ist lustig im Ton, aber die in ihr enthaltenen Anspielungen auf die politischen und kulturellen Zustände jener Zeit lassen erkennen, daß hinter den Scherzworten des lachenden Spötters der bittere Ernst und das heiße Sehnen eines Freiheitskämpfers sich verbirgt. Nach einer Einleitung sagt Glaßbrenner: „Neues Jahr 1848 sei uns gegrüßt! Bringe den Menschen die Krone des Lebens und lasse die Kronen dieses Lebens menschlicher werden. Mache die Arbeiter reich und zwinge dafür die Reichen zur Arbeit. Gib den Glücklichen mehr Erbarmen und nimm dagegen den Erbärmlichen das Glück. Setze dem lleberfluß Grenzen und lasse die Grenzen überflüssig werden. Nimm den Wucherern das Getreide und laß dagegen das Getreide wuchern. Laste uns leichter Brot finden und mache das Brot schwerer. Schicke den Kranken Gesund- heit und lasse dagegen die Arzneikunst kurieren. Bringe den Möd- chen Ehemänner und nimm dagegen den Ehemannern die Mädchen. Nimm den Ehefrauen ihr letztes Wort und erinnere dagegen die Ehemänner an ihr erstes. Gib allem Glauben seine Frcihe-t und mache die Freiheit zum Glauben aller. Verwandle unsere jetzigen Helden in Bürger und unsere Bürger in Helden. Gib den Schwind- süchtigen«ine feste Konstitution und nimm dagegen unseren Konsti- tutionen die Schwindsucht. Gib den Völkern Prcßfteihcit und nimm dagegen die Preßfreiheik den Gewaltigen. Mache aus den stolzen Kammerherren stolze Herren der Kammern. Nimm uns die einzelnen Freiheren und laß uns dagegen alle freie Herren werden." Wir müssen es uns versagen, hier die ganze Liste der Wünsche wiederzugeben, die Glaßbrenner dem«»ziehenden Jahr 1848 vor- trögt. Vollständig ist die Rede abgedruckt in der von Franz Diederich zusammengestellten Auswahl Glahbrennerscher Satiren, dem vor jetzt zehn Jahren im Vorwärts-Verlog erschienenen Buch„Unterm Brennglas". In dieser Silvesterrcde müssen neben den Kronen- träger» und Freiherren , den Glaubenscifercrn und Dunkelmännern, den Ausbeutern und Brotwucherern auch harmlosere Leute dem Spötter als Zielscheibe seines Witzes dienen. Den Freunden eines guten Tropfens, die sich zum Siloestcrpunfch rüsten, gilt sein ge- wiß nicht böse gemeinter Wunsch: Laß die Menschen Mäßigkeits- Vereinsmitglieder werden und sorge dafür, daß es nicht so viele sein müssen." Uebcrmiitigste Laune sprudelt aus den Schluß' ätzen: „Schenk« den Fröhlichen Wein und den Weinenden Fröhlichkeit. Schenke uns Ablaß unserer kleinen Sünden und einige Gelegenheit zu neuen. Und schenke uns endlich langes Leben und kurze Weile, ewigen Durst und augenblickliches Löschen, junge Frauen und ab- gelagerte Zigarren, geduldige Gläubiger und ungeduldige Vertreter, billige Feinde und teure Freunde, ansprechende Cousinen und an- spruchslose Verwandte, sanfte Ehefrauen und schäumenden Eham- pagner, lustige Tage und ruhige Nächte, ruhige Tage und lustige Nächte, ungebundene Laune und gesesselte Herzen. Sorge dafür, daß wir olle in den Himmel kommen, aber noch lange nichi!" Invalidenversicherung. Vom 1. Januar 1923 ab gelten neue durch Gesetz geschaffene Lohnklasien. Auf die Bekanntmachung der Landesversicherungsanstalt Berlin in dieser Nummer unserer Z«i- tung, in der auch noch weitere Aenderungen in der Jnvalidenver- sichermig erwähnt werden, weisen wir unsere Leser besonders hin.
die Kanzel: In letzter Stunde— höchstes Angebot— Günstigster Moment— Jeder ist sich selbst der Nächste— Nur Schatten von Menschen. Nur Gespenster. Un- lebende. Der Brand zuckt an den Kirchenfenstern hin, malt Entsetzen auf die Mauern: Sprünge zerreißen Wölbung und Bogen, Schaft und Säule. Anselmus will sprechen und ist erstickt. Er schreit es aus sich heraus: Brüder! Brüder!! Hört mich! Brüder. Aber er ist stumm, ohne Stimme, aus dem gequälten Mund stöhnt Unhörbares. Da erblicken sie ihn und wenden verzerrte Gesichter zur Kanzel, und die Gesichter zerrinnen, sind wesenlos. Nur ein Antlitz bleibt starr und dicht vor ihm, hohnvoll, Gesicht des Feindes und Verräters. Bernward hebt den Revolver und sein Lauf ist schwarz und dicht vor Anselmus' Augen, zielt zwischen seine Brauen. Nichts ist auf der Welt, als Bernwavds Gesicht und dieser Lauf— Und dann, erlösend, Lindes Stimme, die leise sagt:„Das ist ja nicht möglich; wir haben vertraut—" Dann, noch fern, das Lied von den Wipfeln. Fern Egi- dius' sanfte Gestalt, Trost und Licht einer dunklen Welt. Fern. eine Verheißung, Bruder Namenlos, mit gefalteten Händen in die Ruhe gebettet. Fern ein Duft: Erde... Da denkt Anselmus: Unter der Erde sind Menschen. Da sieht er unter der Erde einen Mann stehen, der die Hand am Hebel hält, bereit, alles zu zerstören. Da schreit er in das Feindesgesicht hin, in die Kirche hin:„Im nächsten Augen- blick sterben wir alle!" Da geschieht unermeßlich ein Einsturz, begräbt die Kirche, begräbt Menschen, Stadt und Welt. Da ist noch eine Se- künde der Feind vor ihm und der Revolverlauf: und hinter ihm steht Linde, endlich Linde, die ihre Arme um seinen Hals legt, wie zum Zlbschied. Da hebt er die Hand... 4. Nachspiel. Dies waren die Bilder, die Anselmus in der letzten Mi- nute zwischen Leben und Sterben sah. Dies war die Existenz, die er in seinem letzten Augenblick durchraste. Er wachte ans und begriff. Im dunklen Gang zuckten Lichter zu i>M her. Vor ihm stand Bernward mit der Wasse, die.zwischen seine Augen zielte, und hinter Vernward dräng- ten die Feinde heran, die der Verräter geführt hatte. Anselmus begriff und begann zu lächeln. Er wandte langsam den Kopf und traf Lindes Augen. Bist du bereit? fragte sein Blick und der ibre antwortete: Ja. Sein Herz sagte: im Traum babe ich dich verloren. Jetzt bist du mir wiedergefunden. Aber dies war kein Gedanke mehr. Er spürte ibren Herzschlag groß in seiner Hand und mit dem letzten Wimpernregen sangen die Wipfel vom Klosterberg weitab von der verdorbenen Welt. Und ohne die Augen noch � c!— ml zu offnen, ohne noch einmal die Feinde anzublicken, drückw er den Hebel nieder.