Einzelbild herunterladen
 
Nr. 379 40. Jahrgang
Beilage öes vorwärts
donnerstag, 10. �ug«st 1923
SLuöenten in Not. » nicht eigentlich schon eine alte Angelegenheit: Studenten in Not. Das wissen wir ja. Es ist«in Zeichen der Zeit. Es geht dem Mittelstand ja auch bitter schlecht, und den Studenten, Donner- wetter, damit haben wir uns ja schon abgefunden. Wirklich, haben sie sich damit abgefunden? Wissen wir, wie diese jungen Männer leben? Ihr« Not kann man nicht schaue». Sie tragen ihre Not nicht offen zur Schau, weil sie sich schämen über dio Kulturlosigkeiten pnserer Zeit. Die Couiearbrüöer. Doch wenn man von der Not der Studenten spricht, dann meint man ja gor nicht die Studenten, denen es wirklich schlecht geht, son- der» sieht nur die sogenannten völkischen, �satisfakttonsfähigen" Stu- dsnten mit ihren bunten Mützen und buntfarbigen Bändern, die st« stolz wie Pfingstochsen tragen. Das sind nicht die notleidenden Stu­denten. Doch gerade diese Verbindungsstudenten werden oft als die »arme leidende Jugend" angesprochen. Diese Studenten find reaktio­när, weil sie fast ohne Ausnahme Mitglieder nationaler Dermigun- gen sind, die sich wieder zugehörig fühlen der Organisation Roßbach und ihren Machenschaften. Das macht uns diese Burschen nicht sym- pathisch, und lernt man zudem noch etwas von ihrer Lebensweise kennen, so muß man zu dem Resultat kommen: bei ihnen ist nicht die Not. Sie erhalten auch heute noch von reichen Vätern große Monats- Wechsel. Kostet doch allein der Derbindungsrummel heute mehr als eine halbe Million Mark monakllch. Was aber in diesen Verbindun- ge» getrieben wird, war dem Kulturmenschen der ganzen Welt schon immer ein Äeeuel. Die Mensur, eine Sitte, die die vorangegangene Epoche schon längst hätte verschluckt haben müssen, wird bei ihnen als ..körperliche Kühnheit" über geistige Regsamkeit gestellt. Alles in ihren Verbindungen geht na«b militärischen Gesetzen: sogar das Saufen  ". Doch sie merken nicht die Blödheit dieses Lebens, haben sie es borf)_ für die spätere Carriene und für ihren Stammtisch als Nimbus nötig. Aber gerade diese Burschen machen von dem Mit- leid, das den armen Studenten zuteil wird, Gebrauch. Münzen dieses Mitteid um, damit sie getrost über die scheußliche Zeit der Nachrevolutton schimpfen können. Die darbenden. Wo aber ist die wirkliche Rot der Studenten? Studenten mit ausgehungerten Gesichtern trifft man überall, nur weiß man nicht, daß es Studenten sind,vermißt" Couleurband und Mütze und die mit Schmissen zersetzte.Visage". Doch diese Studenten mit ihrem vorzeitig gealtertem Gang, mit Kleidern aus den Jahren 1917/18, mit abgemagerten Wangen sind die wirklich regsam Arbeitenden und Darbende». Mehr alz 99 Vroz. von ihnen arbeiten tagsüber auf Banken»der in kaufmännischen Betrieben, um nachts noch ihrem Studium nachgehen zn können. Aber wer achtet dieser Zugend? Ihr Will«, zu arbeiten, ist ungeheuer, doch die finanziellen Mittel dazu fehlen ihnen gänzlich Der Werkstndenl, 1922 »och eine Seltenheit, ist 1923 ein« allzubekannt« Erscheinung. Nicht nur in Fabriken und Bergwerken arbeiten sie, um in den Ferien für die nächsten Semester ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Nein sie nehmen Stellungen an, die ihnen zwar weltvnschauungsmoßig später einmal nützen können, sts aber jetzt in ihrem Studium unge- Heuer hemmen. Nicht weniger als ZZll Studenten haben in Berlin  allein den Sellnerbernf ergriffe«. Unzählige machen in Kinos und Cafes Musik. Wieder andere sind in Bergnügungsstätten als Bortiers oder Platzanweiser angestellt. Noch andere aber bewachen nachts Häuser oder Luubenkolomen. Tausend« aber mühen sich noch um eine Stellung, die ihnen nur einen ganz kleinen Zuschuß ge- währt. So ist ihre Not bi» aufs äußerste gesteigert. Hunger und lein Geld ist ihre tägliche Klage. Essen   ist ihnen Seltenheit. * Do» kst dl« Rot der heromvachs enden Märroer Deutschlands  . Ihnen zu helfen, ist Pflicht. Sie leben einsam, ohne die Mittel zu besitzen, tn einer Stadt wie Berlin   Kunst genleßen zn können. Bücher sind ihnen schon lange Ding«, die man in Schaukästen ansteht, die man aber nicht besitzen kann. So leben nun diese jungen Leute, früh htneingezerrt in den bittersten Existenzkampf. Srhöhmtg der Stadt», Ring» und Vororttarife. Die Fahrpreise des Berliner   EtoM-, Ring- und Vorortder- lehrs, sowie de» Hamburg  -Altonaer Stadt» und BorortverkebrS werden vom 20. August ab um 900 Proz. erhöht. Für Inhaber von Wochenkarten ist es von Bedeutung, daß sie ihre nächste Wochenkarte bereit? am Sonntag und nicht erst am Montag lösen, um so noch.billig" zu fahren.
Ein Wohnungsneubau--- 7V- Milliaröen. Die katastrophale Entwertung der Mark wirkt sich überall aus. Nicht zuletzt im Bauwesen. Die Preise der Materialien halten mit der Geldentwertung fast gleichen Schritt. Di« Baustoffindustrien, ob- wohl sie fast ausschließlich vom Inlandsmarkt abhängen, haben nun- mehr die Berechnung ihrer Preise aus den Dollar, oder Sterllngs- turs eingestellt. Aber auch die Lohnzahlungen müssen mit der Der- teuerung der Lebensbedürfnisse mitgehen, so daß es nicht zu ver- wundern ist, wenn die Baukosten immer mehr und mehr anschwellen. Bei Neubauten, bei denen der Bauherr sich das Baugeld in wert- beständigen Werten gesichert hat, ist diese Anschwellung der Bau- losten in Papiermark zu überwinden. In dieser glücklichen Lag« sind aber mir wenige unseres Lölkes. Anders ist es bei der großen Menge der Wohnungsbauten, bei denen die Finanzierung, wie bei dem mit Zuschüssen bedachten Kleinwohnungsbau, auf die Papier  - wart eingestellt ist. Di« Finanzierung dieser Bauten wird im allgemeinen durch Zuschüsse aus der Wohnungsbauadgabe und durch das eigene Geld der Bauherren sowie durch ein« Hypothek in etwa fünf Prozent der Baukosten gedeckt. Noch im Frühjahr d.J.   konnte eine Klein- wohnung von 70 Quadratmetern Wohnfläche mit dreißig Millionen Mark Bautosten errichtet werden. Hiervon wurden 22,6 Millionen durch Zuschüsse abgegolten, der Rest durch Hypothek und eigene Mittel des Bauherrn oder Arbeitgebers.   Zurzeit kostet eine solche Woh­nung 1H Milliarden Mark. Di« Erhöhung der Zuschüsse aus eine entsprechende Summe war bisher unmöglich, da die derzeitige Woh- nungsbauabgabe in gar keinem Verhältnis zu diesem Bedarf steht. In manchen Kreisen hofft man, durch die Hergabe wertbeständi- ger Hypotheken das Defizit decken zu können. So wertvoll die Einrichtung wertbeständiger Hypotheken zur Zuführung von Geld für den Baumarkt ist, und so bedauerlich es ist, daß die Schaffung dieser Einrichtung erst jetzt gesetzlich zulässig ist, so wird die Be­messung der Höhe der Hypotlze? immer alchängig fem von der nvr- malen Lerdienstmöglichkeit eines Arbeiters. Im günstigsten Fall« wird durch sie nur ein Bruchteil der Baukosten gedeckt werden können, denn die Berzinsung und Amortisation der Baukosten von 1,5 Milliarden Mark würde allein eine Summe von 90 Millionen Mark ausmachen. Hierzu kamen noch die sonstigen Metslasten, so daß sich ein Mietbetrag ergibt, der selbst bei unserer aus Siedehitze gesteigerten Papierflut von keinem Kopf- oder Handarbeiter aufgebrocht werden kann. Somit bleibt nur übrig, die durch die Miete nicht gedeckte Summe durch ö f f e n t- liche Zuschüsse auszubringen. vis Partie Schlmve. Lrikelkp reife als Wertmesser für gerichtliche Buße. Vor der L Ferienstrafkammer des Landgerichts II   hätte sich in der Berufungsinstanz der Stukkateur Schlawe   mit einer ganzen Reihe von Mitspielern unter der Anklage des gewerbsmäßigen Glücksspiels zu verantworten.' Di« Partie Schlawe   ist in Spieler kreisen als eines der größten der geheimen Spiel- Unternehmungen bekannt. Di« Verhandlung selbst entrollte dos übliche Bild der Spielerprozess«. Demerkenswert ist aber, wie das Gericht«ine Geldstrafe wertbeständig macht. Die Spieler, die sich aus allen Bevölkerungsschichten zusammen- setzen, wurden durch Schlepper und vertrauliche Handzettel zu den Sitzungen bestellt, Rur   selten gelingt es der Kriminalpolizei, der- artig« Spislklubs, die mit dem größten Raffinement vorgehen, aus- zuheben. Am 20. Mörz o. I. wurde das Spielernest in der Bülow- strahe 99 in einer Prioatwohnung im vierten Stockwerk abends 9%' Uhr überrascht. Als die Beamten klingelten, hörten sie ein großes Stimmengewirr und«in Hin- und Herrennen. Es dauerte lange Zeit, bis ihnen geöffnet wurde, und sie trafen 2 4 Per- fönen an. Die Spielgeräi« waren anscheinend über den Balkon weggeschafft. Aber es waren in der Eile noch die Spielyotizen und ein Ships vergessen worden. Es handelre sich um einen Ron- letteklub. Das Schöffengericht hatte Schlawe. der schon in zahl- reichen Fällen verurteilt ist und gegen den noch eine ganze Reih« von Strafverfahren schwebt, zu drei Monnaten Gefängnis und 30 000 M. Geldstrafe verurteilt. Di« Mitspieler hallen Strafen bis zu 10 000 M. erhalten. Gegen dieses Urteil war Berufung«in- gelegt worden. Eine angeklagte Frau Schultz, die im übrigen ihr ganzes Vermögen beim Spie! verloren hat, will der Meinung ge- wescn sein, daß es sich um eine spiritistische Sitzung han- delte. Das Gericht hielt diese und die übrigen Angaben für Aus- reden und verwarf die Berufungen. Dem Angeklagten Schlawe  
wurde jedoch für die Gefängnisstrafe«in« Bewäh- r u n g s f r i st unter der Bedingung einer Geldbuße von etwa fünf Millionen Mark auferlegt, die er bis zum 31. August zu zahlen habe. Um aber«inen Wertmesser sür diese Summe zu haben, setzt« das Gericht als Buße eine Summe fest, die dem amtlich festgestellten Kleinverkausspreis von sechs Zentnern Briketts am Zahlungstermin entspreche.
Steine und Häcksel statt Jett. Gleich einem Vorgänger, der im vergangenen Jahre von einem Betrogenen im Charlottenburger   Park erwischt wurde, als er gerade zwei Margarinefäsfer mi't Sand füllt«, liefert auch jetzt wieder ein Schwindler statt Fett nur S t r o ß enke h r i ch t, Steine und dergleichen mehr. An einer bestimmten Stell, die er gezeichnet hat, befestigt er im Faß einen Pa- vierbeutel mit Margarine oder Schmalz. Er fordert bann die Kauflustigen auf, mit einem Messer hineinzustechen und ein« Probe herauszunehmen. Diese fällt natürlich immer gut aus. Den Deckel zu öffnen, weigerr er sich stets umer irgendeinem Vor- wand«. Meistens hat er die angebotenen Fässer in einer Schank- Wirtschaft untergestellt und läßt sie von dort abholen. Wenn er selbst liefern muß, so kommt er in das Geschäft, das gekauft hat, immer zur Zeit des höchsten Betriebes, wenn die Leute kein« Zeit haben, um gleich gründlich nochzusehen. So erging es auch gestern wieder einer Milchhändlerin in der Choriner Straße, die 10 Millionen zahlt« und statt Schmalz in dem Fasse nur Steine und Häcksel fand. Der Schwindler ist dadurch auffällig, daß ihm das linke Aug« entweder fehlt oder daß es sehr tief liegt. Zuweilen trägt er auch darüber eine Klappe.
IS« Millionen Mark Geldstrafe für Milchpanscher. Einen empfindlichen Denkzettel für Milchverfälschungen erhielt Molkereibefitzer Paul Moldenhauer   und dessen E h e f r a u Frieda M. vom Schöffengericht Berlin-Mitte. Beide wurden über- führt, die von ihnen verkaufte Milch vorher entrahmt und dann als Vollmilch verlauft zu haben. Das Schöffengericht ver- urteilte jeden der beiden Eheleute zu 75 Millionen Mark Geldstrafe. Da? Urteil soll als abschreckendes Beispiel veröffentlicht werden._ Einbruch in die spanische Botschaft. Ein großer Silberdiebstahl wurde in der Nacht zum gestrigen Mittwoch in die Spanisch« Botschaft auf dem Grundstück Regentenstraß« 15 zwischen der Königin-Augusta- und Sigismund- straße im Tiergartenv ertel verübt. Es sah aus, als ob die Ver- breche? durch ein Fenster aus- und eingestiegen wären. Denn zwischen Jalousie und Fenster war ein Stuhl gestellt worden. Ob das jedoch nicht zur Noriauschung eines Einbruchs von außen her geschehen ist, bedarf noch der Untersuchung. Die Verbrecher crbeu- teten ein großes viereckiges Silbertablett mit zwei Griffen, um das ein 1.5 Zentimeter hoher durchbrochener Rand herumläuft. Ferner eine große Anzahl silberner Wirtschaftsgegenstände, als Teekanne, Sahnenkanne, Schalen, Teelöffel usw. Bereits vor einem Jahr war in der spanischen   Botscholi ein großer Diebstahl verübt worden. Auch damals sah es nach einem Einbruch aus. Di« Kriminalpolizei ermittelte jedoch, daß bei diesem vermeintlichen Einbruch ein Diener der Botschaft beteiligt war. Er hatte die Sachen seines Spießgesellen einfach hinou? geräumt und dann Vorkehrungen getroffen, die auf einen Einbruch fremder j Verbrecher schließen keßen. Alle Beteiligten wurden damals er- . mittett, der ungetreue Diener entlarvt und mit den anderen fest- i genommen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß auch jetzt wieder jemand, ' der die Verhältnisse der Botschaft kennt und dorthin Beziehungen hat, seine Hand im Spiele hat.___ Die Hyänen des Fröbelhauscs. Daß auch die Aermsten der Armen vor Räubern nicht mehr sicher sind, ist auch ein Zeichen der Zeit. Erst unlängst berichteten wir über die Festnahme einer Bande, die zur Nachtzeit im Städti­schen Obdach an der Fröbelstraße schlafende Mylisten planmäßig übersiel und ausraubte, Sie heißen in ihren Kreisen dieMord- kommission". Jetzt wurde wieder ein Ajyldieb sestgenommen. Ein alter Rentenempfänger, ein Veteran, war gezwungen, das Obdach aufzusuchen und hatte dort sein ständige? Unterkommen. Er besaß noch ein paar hunderttausend Mark und verbarg diesen Schatz in seinem Betttasten. Während er gestern auf einen Augenblick austrat, wlirde ihm das Geld mit einem alten Jackett, in das er es gesteckt hatte, gestohlen. Zu seinem Glück sah ein anderer Asylist einen Mann mit diesem Jackett hinausgehen und bald
copTrixti« 1823 bj Grelhlein& Co., Q. m.b.H. Leßnlg) ji Kilian. Roman von Iakob Vührer. Er st es Kapitel. Durch das knallige Grün der Gsegnet-Alp aufwärts schritt der Hüterbub Kilian. Einige Schritte hinterher ging Tyras, der Hund. Jetzt lief der Weg dicht am Guggerhof vor- bei. und ehe sich's der Bube versah, tat Tyras ein paar Sätze gegen das Haus zu, und jetzt platschten zwei Schreie in den seierstillen Sommerfrieden der Alp. welche so entsetzlich waren. daß man dachte, der Himmel hätte plötzlich ein Loch bekom- men und Gottvater, der es einzig verstopfen könne, sei zufällig verreist. Jedenfalls waren die Schreie in maßloser Angst aus- gestoßen, und es klang rvieMuatta, Muattal" Gleich daraus erschien in der Haustür« des Guggerhofes eine Bäuerin, machte.Esch, gsch!", bückte sich, hob ein kleines Kind aus dem hohen Gras und verschwand mit ihn? im Haus. Kilian pfiff dem Hund: aber der rannte talwärts. Kilian rief; umsonst. Er pfiff durch die Finger: der Hund war schon bald nicht mehr zu sehen. Kilian wurde sehr traung. Jetzt fxrtte ihn der Hund verlassen. Es wäre gut geaxsen, wenn Tyras auf die Alp mitgekommen wäre. Aber er war halt erschrocken, weil das Kind geschrien hatte,Muatta, ststuatta. Ihm, dem Kilian, war es noch gut gegangen, daß ihm die Guggerhofsbäuerin nicht alle Schande gesagt hatte. Das war eine Böfe. Man sagte von ihr. daß sie die Milch zweimal ab- rahme, und daß si« zwar die fettesten Schweine aufzöge in der gnzen Gemeinde, sie selber aber habe kew Pfündlein Fleisch mehr am Leib, alles fei nur noch Haut und Sebnen, und das Herz das Herz sei ein Tonscherben mit einem Schlitz drin, in den man das Geld bineinrverfe, wie in ein« Kindersparkasse. Ja, so hatte die Meisterin kürzlich zu der Hoteienbäuerin gesagt, und beide hatten ein wenig gelacht, wie eben die Frauen hier oben lachten, ohne Klang und ohne recht dabei zu sein. Denn sie denken immer etwas anderes; man merkt es wohl: sorgen und kümmern sich, ob alles getan werde und ob es vorwärts gehe, ob man zu etwas komme. Und so sind auch die Männer hier oben, schinden und schassen, manchmal oder meistens von früh bis spät in die Nacht und haben immer den einen Gedanken und die heim- liche Angst: Geht's auch vorwärts, kommt man zu etwas? Lud dann usißgönuen sie«nem fast das Stückleiu Brot, das
man ißt, und daß man in der Nacht schlafen muß. Aber manchmal, an einem Samstagabend oder Sonntagnachmittag, gehen sie hinunter ins Dorfwirtshaus, trinken Wein und saufen Schnaps, und wenn sie tage- und wochenlang nichts gesagt haben, jetzt können sie auf einmal reden, man glauot es nicht, wie gut. Aber es ist besser, man begegnet ihnen nicht, wenn sie heimkommen. Sie wissen dann nicht, wohin mit ihrer Kraft. Und sie sind stark, wie die Tiere, und wenn sie nun Unsinn machen, tun sie einem manchmal iveh. Kilian war, ohne es recht zu wollen, vom Wege abge- kommen, nach der tollen Schlucht zu. Ehe jedoch d'e Kletterei begann, setzte er sich in die Felsen nahe dem Bach. Das Wasser tat laut und eilig, als komme es nicht schnell genug den Berg hinunter. Kilian begriff das sehr gut. Er starrte ins Wasser und riß ein wenig Gras ab. Die niedere Erdschicht, die auf dem Felsen aufsaß, kam mit: ein ganzer kleiner Para- diesgarten: die zierlichsten Krautlein, siiß> duftende Blumen und Zittergräser mit silberschimmernden Aehrchen. Der Knabe achtete es nicht und warf das Wunderding in das stürzende Wasser. Er sagte vor sich hin:Muatta, Muatta!" Und dann fiel es ihm ein:Solothurn  !" Das war eine wunderschöne Stadt. Dort war er zum erstenmal Eisenbahn gefahren. Seine Mutter hatte ihn in den Zug getan. Bor zwei Jahren. Die Mutter hatte geweint. Wenigstens mit einem Augs. Denn das andere war gar nicht mehr da. Nachdem der Zug angefangen hatte zu fahren, war die Mutter davongehumpelt mit ihrem steifen Bein. Erst vor drei Tagen hatte er sie damals kennengelernt. Er war doch immer auf der Balde regg und im Kleinberg gewesen, unten im Aargau  , wo's nur Hügel hat und nicht so viel Steine wie hier oben. Auf der Balderegg bei Vetter Julius und bei Tante Ellstab im Kleinberg. Aber der Vetter Justus war mit seinen sechs Kindern nach Amerika.Ich bring'» ja doch zu nichts hier!" hatte er immer gesagt. Das war das Wichtigste, daß man es zu etwas brachte aus der Welt. Das hatte Kilian damals schon gemerkt. Die Tante Ellstab aber hatte ihm eine Handvoll Haare ausgerissen, weil er einen Zehner, den ihm ein Fremder geschenkt, für Honig- täfelchen verputzt hatte. Und dann hatte sie ihm zwei Tage nichts zu essen gegeben.«Sparen muß man, Bub, sparen, sonst kommt man ins Armenhaus!" Wer die Tante war dann plötzlich gestorben, sust in jener Nacht, da es so grausam kalt gewesen und Kilian einfach nicht hatte ausstehen mögen, trotzdem ih« die Tante dreimal ge-i
nifen hatte. Man hatte aber auch so Angst, denn der Wind tat wüst draußen, und in dem alten Haus gab es Geräusche von Mäusen oder Gespenstern, man wußte es nicht genau. Aber am Morgen war die Tante ganz ruhig im Bett gelegen und fast schön anzusehen, so ohne Bewegung und mit ihrer großen Nase. Sie war ober tot. Das lzatie die Zelglivrene gesagt, die gekommen war. um ein wenig Zucker zu leiben. Sie hatte gleich ein Gebet gesprochen und dann in alle Schiebloden uird Kästen und Schränke hineingeguckt. Aber die oberste Kommodenlade war abgeschlossen, und Kilian hatte gelogen: er wisse nicht, wo der Schlüssel sei. Am Abend war dann die Mutter gekommen, eben jene verhutzelte kleine Frau mit dem steifen Bein und bloß einem Auge. Der hatte Kilian gesagt, wo der Kommodenschlüssel liege, und als einmal niemand da war, hatten sie schnell auf» gemacht. Da lag ein Kassabüchlein drin und ein alter Geld- säckel mit fünf oder sechs Fünflibern und sonst noch einem gan- zen Hausen kleinem Geld. Und Kilians Mutter nahm schnell drei Fünfliber in ihren sinterrocksack, schloß die Kommode wieder zu und legte den Schlüssel hin, wo er gelegen.Daß du mir ja niemand von dem etwas sagst!" hatte sie Kilian befohlen. Nachher war gleich die Base Magdlen gekommen, und sie hatten beide getan, wie wenn nichts geschehen wäre. Die Base Magdlen aber und alle, die noch kamen, um, die Tote zu sehen, hatten gesagt, was die Tante Ellstab selig für eine Gut« gewesen sei. lind das war doch gar nicht wahr. Gelt, Büblein," so sagten viele zu Kilian,an dir hat sie auch ein Gotteswerk getan." Und dann bekamen sie nasse Augen und schluchzten.Ach, die gute Tante Ellstab sestg!" Darauf wandten ss« sich an Kilians Mutter mit der Frage: Du wirst auch etwas erben?"... Aber da pfiffen einige Murmeltiere im Gehäng. Kilian erinnerte sich, daß er letztes Jahr von der tollen Schlucht aus oft eine ganze Murmeltierfamilie hatte beobachten können. Das war ein Geschleck und Geliebsel, ein Scherzen und Freuen gewesen zwischen Alten und Jungen. Aber dieses Jahr hott« er kaum einmal ein mürrisches Alltier dort erblickt.Ja," batte ihm der Senn lachend gesagt,ja, die haben halt di« Liebe über den Winter verschlafen." Kilian lief wieder etwa zwanzig Schritte. Doch als er 'anfangen lallte zu klettern, hiell er aufs neue. Wieder fiel ihm eia: So-jo-thura(Fortsetzunz folgt.)