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insgesamt 40 bis 44 millionen gebracht. Nach der ge­naueren Berechnung im ,, andbuch für sozialdemo= fratische Wähler 1924", erschienen Ende März 1924, ist der Gesamtertrag der Landabgabe bis Februar 1924 41586745 Goldmart. Wie sich aus der obigen Aufstellung ergibt, sind von diesem Ertrag bis heute 22 111 694 Goldmart, also mehr als die Hälfte wieder zurückgezahlt worden. Nun sieht aber die zweite Steuernotverordnung vor, daß Rückzahlungen erst in zweiter Linie erfolgen sollen, nämlich erst dann, wenn eine Anrechnung auf die neue Ver­mögenssteuer nicht in Frage kommt. Es ist also zunächst alles, was auf die Vermögenssteuer verrechnet werden konnte, Der rechnet worden, und die 22 Goldmillionen Rückzahlung sind nur der über schießende Betrag. Die Vermögenssteuer hat bis heute insgesamt rund 195 Goldmillionen gebracht. Rechnet man nur ein Viertel davon ais aus der Landwirtschaft stammend, so entfallen auf diese nahezu 50 Goldmillionen. Und bedenkt man, daß der größte Teil gerade der wohl haben den Besizer die Landabgabe überzahlt" hatte, so wird man den zur Anrechnung gekommenen Betrag mit etwa 20 mil lionen nicht zu hoch schätzen. Dann ergibt sich folgende Rechnung:

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Gesamtertrag der Landabgabe, höchstens 42 Millionen Goldm. Anrechnung auf die Vermögenssteuer. Rückzahlung

Bleiben

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00 Millionen Goldm. Danach hätte also die Landwirtschaftihre Land­abgabe, die sie zu ungeheurem demagogischen Sabotage­gefchrei gegen alle Steuern überhaupt ausbeutete, a uf Helter und Pfennig zurückgezahlt bekommen. Und dieser Skandal wird noch größer dadurch, daß diese ,, Rück­zahlung" tatsächlich ein reines Steuergeschenk an die Landwirte ist, die im Herbst 1923 die gunstige Steuer­fonjunktur rechtzeitig erkannten. Die Beträge zu diesen Ge­schenken sind aus dem Aufkommen aus den Steuerleistungen derjenigen vorwiegend fleinen Landwirte ge­nommen, die nicht so ,, flug" waren und die dann später nach täglicher Notierung des Goldumrechnungsfages ihre Abgabe

Monat für Monat zum vollen Goldwerte zahlen mußten! Bevor wir Schlußfolgerungen aus diesem Tat­bestand ziehen, wollen wir abwarten, ob und wie inzwischen das Reichsfinanzministerium eine Rechtfertigung" seines Ver­haltens gefunden hat.

Durchpeitschung der Zollvorlage?

Die auf den Antrag Preußens erfolgte Zurückstellung der Schußzollvorlage im Reichsrat hat die Agrarier schwer ge­tränkt. Die Deutsche Tageszeitung" schimpft deshalb auf den preußischen Landwirtschaftsminister und seinen Staatssekretär, die pflichtvergessen genug sich ausgerechnet jezt, in einem Augenblick auf den Urlaub begeben hätten, in dem die Ver­handlung der so ungemein wichtigen Zollvorlage parlamen­farisch durch die Borlage beim Reichswirtschaftsrat und beim Reichsrat aufs höchste aktuell geworden ist". Sie fürchten, daß die Stimme der Arbeiterschaft die Regierung zur Zurückhaltung veranlassen könnte.

Der bayerische   Landwirtschaftsminister Prof. Fehr hat bereits angekündigt, daß die Schutzollvorlage schleu= nigst, mindestens noch vor der Ernte, unter Dach und Fach tommen müsse. Deshalb wird mit Hochdrud gearbeitet, die Wünsche der Agrarier zu befriedigen. Am Donnerstag findet die entscheidende gemeinsame Beratung des wirtschafts­politischen und finanzpolitischen Ausschusses des Reichswirt­fchaftsrates statt und am Freitag tommt es im Reichsrat zur Behandlung der Vorlage. Zunächst wird die Frage entschieden werden, ob die Wiedereinführung der Agrarzölle auf dem Wege der Verwaltung, wie die Regierung es will, oder auf dem des Parlaments erfolgen foll, da das Ermächtigungsgesetz vom 5. August 1923 außer Kraft getreten ist.

Frank Wedekind  .

( Geb. 24. Juli 1864.)

Bon Alfons Fedor Cohn.

Ein gutes halbes Jahrzehnt nach seinem Tode, zu einem Zeit punkt, da er im Leben erst sein sechstes Jahrzehnt vollendet haben würde, wirkt Frank Wedekind   bereits historisch. Damit sei nicht gefagt: veraltet oder überwunden. Aber sein Lebensbild und sein Wirkungsfreis erscheinen abgeschlossen, sein Wert und seine Stellung faum noch umstritten, weder von verständnislofen Neidern, noch von haltlosen Bewunderern.

Dieses Lebensbild und diese Stellung sind allerdings unter seinen Mitstrebenden und Zeitgenossen einzigartig. Schon mit einigen zwanzig Jahren hatte er in Zürich  , München   und Berlin   persönliche Fühlung mit den jungdeutschen literarischen Kreisen, die sich in der ,, Gesellschaft oder der Freien Bühne" zusammenfanden. Aber sein dichterischer Weg blieb davon unberührt, wie seine bisherige Lebensbahn so durchaus von der des damaligen jungen Deutschland  der Literatur abwich. Der Bater, aus altem hannoverschen Ge­schlecht, hatte, nach Lehr- und Wanderjahren durch ganz Europa  bis in den Orient, als freiwilliger Berbannter vor der nachmärzlichen Reaktion, fich als Arzt in San Francisco   niedergelassen und heiratete dort die vierundzwanzig Jahre jüngere Württembergerin Emilie Kammerer  , die aus Schwesternliebe und äußerer Not in Süd- und Mittelamerika auf kleinen Bühnen und im Varieté als kaum Zwan zigjährige fich das Dasein erfämpfen mußte. Kurz nach der Rück fehr. des Elternpaares aus Amerita fam Benjamin Franklin  , wie seine Vornamen lauteten, in Hannover   als amerikanischer Staats­bürger zur Welt. Acht Jahre später übersiedelte die inzwischen auf acht Köpfe angewachsene Familie auf das Schloß Lenzburg   im Schweizer   Aargau  , das der wohlhabende Bater, nur noch feinen Nei­gungen als politisierender Publizist und dilettierender Sammler lebend, aus Unbefriedigtheit mit den öffentlichen Zuständen der deut fchen Heimat erworben hatte. Dieser naturschöne Sig in dem repu­blikanischen Nachbarlande gibt den Hintergrund zu Frank Wedekinds Schülerzeit. Die Erinnerungen an diesen Schauplatz speisen reichlich seine Prosa und seine Dramatik. Die verschlungenen Quellen seiner seelischen Herkunft aber bestimmten wesentlich die Form seiner inne­ren Entwicklung.

Die internationalen Elemente feiner Abstammung und Entwid­fung verstärkte er selbst nicht nur dadurch, daß er häufig ins Ausland, nach Paris   und besonders nach London  , strebte, sondern auch indem er aus innerstem Drange mit den Internationalften des Rünstlertums, den Leuten vom Barieté und vom Zirtus, Umgang hielt. Sehr be zeichnend sind einige Säße aus Zeitungsartikeln des 23jährigen über den Zirkus in dieser Hinsicht: So oft ich das hohe luftige, leichtge fügte Haus betrete, überläuft mich ein eigener Wonneschauer. Es ist die feftliche Luft, die mich hier umweht, das Prächtige, Groß

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Gegen den Achtstundentag.

Das Programm der kommenden Regierungspartei. Die Deutschnationalen haben im Reichstag zur Frage des Achtstundentages und der internationalen Sozialpolitik einen Antrag eingebracht, der in seiner Kürze und Brutalität eine Fahne der sozialen Reaktion in Deutschland   ist. Der Antrag laufet:

Der Reichstag wolle beschließen, die Regierung zu ersuchen, die Vorlage des Washingtoner Abkommens zur Ratifizierung zu unterlassen und die Mitgliedschaft Deutschlands   im Internationalen Arbeitsamt in Genf   angesichts der dort dauernd geübten Brüstierung der deut­ schen   Sache zum nächstmöglichen Zeitpunkt zu fündigen."

Jetzt gilt es eine flare und rasche Entscheidung der Regie­rung! Sie muß Klarheit schaffen, ob sie das Programm der sozialen Reaktion annehmen will gegen den Willen der Arbei­erschaft, oder ob sie endlich ratifizieren will. Die Deutsch nationalen zeichnen den Kurs vor, den sie als Regierungs­partei von morgen steuern wollen: Unterdrückung der Arbeiter­schaft, Abbau der internationalen Sozialpolitik, Rückschritt inder Sozialpolitit bis hinter das Jahr 1890 zurüd. Das Wesen eines kommenden Bürgerblocks hebt sich immer deutlicher heraus. An der Frage der Ratifizierung des Washingtoner Abkommens werden sich Regierung und Re­gierungsparteien von heute entscheiden müssen, ob sie den Kurs der Regierungsparteien von morgen mitmachen wollen.

Scherl und die Budiker".

Verhöhnung des Gastwirtsgewerbes.

Die Berliner   Rechtspresse hatte dieser Tage eine neue Heze gegen unseren Parteigenossen Severing   eröffnet, weil dieser Mitinhaber einer Schankwirtschaft in Bielefeld  , der Eisenhütte", fein sollte. Daraufhin wurde hier mitgeteilt, daß Severing  , der frühere Bielefelder Maschinenschlosser, der Verwaltung des Biele­ felder   Verbandshauses, eben der Eisenhütte ehrenamtlich angehört hat, in ihr aber seit 1912 nicht mehr aftiv, sondern nur noch Firmenträger ist.

Was macht die Nachtausgabe des" Tag" daraus? Sie bringt ein Bild, wie Severing   mit der Gastwirtsschürze an der Theke steht, unter der Ueberschrift. ,, Innenminister und Ehrenbudiker" und dazu den Text: Der Borwärts" stellt fest, daß Herr Karl Severing  seit 1912 nicht mehr attis tätig, sondern nur noch Mitglied der Handelsgesellschaft und Firmenträger ist." Um Severing   herab zusehen, soll also der Anschein erweckt werden, als ob er bis 1912 Gastwirt gewesen wäre!

Wäre das richtig, so wäre das für Severing   feine Schande. und ebensowenig wäre es eine Schande, wenn einmal ein Gastwirt Minister würde.( Es dürfte allerdings bloß feiner von denen fein, deren Leibblatt der Lokal- Anzeiger" ist, denn die sind hoffnungs­los.) Für die deutschnationale Presse, voran der Scherl- ,, Tag" mit feinem Lokal- Anzeiger", ist aber der Beruf eines Gastwirts, eines " Budifers", offenbar ein entehrendes Gewerbe, das zur Bekleidung öffentlicher Aemter unfähig macht.

Helfferich- Nachklänge.

Ein eingestelltes Strafverfahren.

Raum war der alte Reichstag aufgelöst, da wurde die Welt überrascht durch die befremdliche Mitteilung, der Staatsanwalt habe gegen eine Reihe früherer Abgeordneter, darunter auch die Genossen Bubeil, Dr: Moses und andere, ein Strafverfahren eingeleitet wegen Berbrechens gegen§ 105 des Strafgesetzbuchs.

Was wird ihnen zur Laft gelegt? Sie sollten am Tage des Rathenau  - Mordes versucht haben, den Abg. Helfferich durch Gewalt und Bedrehung an der Ausübung feines Mandats zu verhindern! Die stürmische Entrüstung, die sich am Mordtage gegen den Blumenstrauß- Helfferich richtete, sollte alfo nachträglich in einem strafrichterlichen Urteil gefühnt werden. Das war sehr fein aus­

gedacht, blieb aber doch nur ein frommer deutschnationaler Wunsch. Wenigstens hat jetzt die zweite Straffammer beim Berliner Land­gericht I dem Genossen Dr. Moses mitgeteilt, daß auf Antrag des Etaatsanwalts er aus dem tatsächlichen Grunde des mangelnden Beweises" außer Berfolgung gesezt sei.

werden.

Das

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A

Da die übrigen Angeschuldigten aufs neue Abgeordnete gewor den sind, so kann das Verfahren gegen sie gegenwärtig nicht weiter­geführt Außer Berfolgung Setzen" dieser Beschuldigten wird also noch ein Beilchen dauern. Aber daß sie erfolgen muß, daran wird ja heute wohl auch die Staatsanwaltschaft nicht mehr zweifeln. Sie hätte die Anlage dieser Aftenbände fich wirklich sparen können.

Völkische Revolverhelden.

Roßbach- Terror in Mecklenburg- Schwerin. fest, das am Sonntag in Grevesmühlen   stattfand, überfielen in Schwerin  , 23. Juli.  ( Eigener Drahtbericht.) Bei einem Volks­ben späten Abendstunden völkische Jünglinge in Uniform fingende Arbeiter mit Gummifnüppeln. Als die Arbeiter verstärkt zurück­Arbeiter mit Gummiknüppeln. Als die Arbeiter verstärkt zurück­fehrten, eröffneten die Böllischen aus einem Café ein regelrechtes Feuer. Etwa 30 Schüsse wurden nicht nur aus dem Lokal, sondern auch aus den Privaträumen des Caféhausbesizers blindlings in die Menge abgegeben. Die Polizei verhielt sich zunächst völlig paffio und tat nichts zur Ergreifung der Revolverhelden. Es gelang jedoch, einen 19jährigen unorganisierten Schriftfeßzer, der im Besitz einer Waffe war, der Polizei zu übergeben. Anscheinend auf tele­phonischen Anruf erschienen gegen 12 Uhr nachts auf Lastautomo­

bilen Roßbach- Leute von einem benachbarten Gut, mit deren Unter­stützung die Schießerei in den Straßen abermals begann. Der Ar­beiter Schoof wurde durch einen Brust- und Armschuß und 10 Schrot Schüsse im Rüden schwer verletzt; leichter verletzt wurden eine Frau durch Beinschuß, ein junger Mann durch Brustschuß und zwei Män­ner durch Schrotschüsse. Die Arbeiter haben nicht geschossen. Am Montag weilte die Staatsanwaltschaft in Grevesmühlen   und nahm im Laufe des Tages mehrere Verhaftungen vor.

Strafverfahren gegen den Abg. Fahrenhorst Vor dem erweiterten Schöffengericht Charlottenburg   sollte fich gestern der Führer des Reichsbundes der Deutschvölkischen Kampf­genossenschaften Fahrenhorst wegen Bergehens gegen das Gesez zum Schuh der Republik   verantworten. Die Anklage stüßt sich auf eine Rede Fahrenhorsts in einer öffentlichen Versammlung, in der er sich abfällig über die Regierung geäußert hat. Zur Verhandlung war gestern der Angeklagte nicht erschienen und hatte erklären laffen, daß er als Mitglied des Reichstags nicht erscheinen werde. Das Gericht steht auf dem Standpunkt, daß das Verfahren, falls der Reichstag die Einstellung nicht verlangen sollte, durchgeführt werden müsse. Ein Einstellungsbeschluß des Reichstags ist bisher nicht eingegangen, da jedoch Mitglieder des Reichstags nicht verhaftet oder vorgeführt werden dürfen, so beschloß das Ge­richt, das Verfahren auf unbestimmte Zeit zu vera tagen.

Bemtenfragen im Reichstag.

Der Haushaltsausschuß des Reichstags befaßte fich am Mittwoch mit Beamtenfragen. Nach kurzer Beratung der ihm vom Plenum überwiesenen Anträge auf Aufhebung der Er mächtigung der Regierung zur felbständigen Regelung des Grund gehaltes und der Ortszuschläge der Beamten wurde ein demokratischer Antrag gegen die Stimmen der Deutschynationalen, des Zentrums und der Deutschen Volkspartei angenommen, in dem die Entziehung der Ermächtigung ausgesprochen wird. Auf einen nachträglichen Bor stoß der Deutschen Volkspartei, die Ermächtigung für die Regelung des Ortszuschlages wiederherzustellen, beschloß die Mehrheit, eine zweite Befung dieser Angelegenheit am 24. Juli vorzunehmen. Im Berlauf der Beratung über die Besoldungsfrage stellte Abg. Ben­der( Soz.) die Frage, wieviel von den der Regierung zur Ber­fügung gestellten 71% Millionen eigentlich auf die Grundgehälter der Gruppen I bis IV verteilt worden seien. Er brachte die lebhaften Klagen der Diätare und der anderen Beamten, die vollständig leen

über den Naturalismus hinaus, als ein Appell an ein höheres und stärkeres, naturverwandteres Menschentum gegenüber den ratio­nalistisch analysierten, soziologisch gebundenen Typen des Leidens und Mitleidens. Das war richtig, das war ein Fortschritt oder mindestens eine Bereicherung. Wedefinds dichterische Ahnen waren der ,, Sturm und Drang  " von hundert Jahren früher, war das natur­sehnsüchtige Weltbürgertum Rousseaus, in dessen historischem, land­schaftlichen Dunstkreis der Knabe und Jüngling aufwuchs. Er war der geborene und auch heute noch der stärkste Dramatiker deutscher Bunge des letzten halben Jahrhunderts. Das beweist u. a. seine zahllose Nachahmerschaft, die das Neue und Starle, das sich im 10­genannten Expressionismus birgt, nicht nur der Form des Wede­kindschen Dialogs entlehnt hat, sondern auch seinem typischen und grandiosesten Erlebnis der erotischen Tragit des schönen Tiers", wie er selbst seine. Lulu im Erdgeist- Prolog einmal genannt hat.

artige und in seiner Art doch so unfagbar Kindliche." Damals be-| Erzählungen wie seine Verse als eine Erneuerung, als ein Fortschritt reits wie später noch so oft preist und verklärt er das außerordent­lich Erzieherische der förperlichen Ausbildung und Schaustellung, wie sie der Zirkus, der Tanz, die Pantomime fordern. Damit war er ein vollkommener Frembling in einer Generation von jugend­lichen Erneuerern, die in einseitiger Geiftigkeit und an der Seite der sozialen Kämpfer ihr Wirtensziel erblidten. Bebefind hat das feelische Erbteil beider Eltern ziemlich unvermittelt nebeneinander getragen: das Theaterblut der Mutter, die übrigens die pflicht treueste und verständnisvollste Hausfrau wurde, und den strengen, abstrahierenden und moralisierenden Bedantismus des Baters. Das Wesen der Mutter, noch durch die musikalische Neigung und Be gabung des Muttervaters verstärkt, trieb ihn in die Poesie, zwang feine Phantasie auf die Bühne, in die dramatische Form, zum Ballett wie zur Bantomime. Der Geist des Baters aber fämpfte, je weiter fich dieser aus dem irdischen Dasein entfernt hatte, den üppig wuchernden Sensualismus des Sohnes nieder: Wedekinds Bekennt­nis zur schrankenlosen Sinnesfreude, im Liebesgenuß wie in jeder leiblichen Entfaltung, das durch seine blutvolle, schicksalswehe Ge­staltungstraft die tiefste Rechtfertigung und höchste Weihe erhielt, begann er selbst mit den fortschreitenden Jahren dadurch zu unter­höhlen, daß er es durch gedantliche Schemata und topfstehende Mo. ralsäge zu festigen vermeinte.

Wedekinds Stärke und Schwäche, sein Verhängnis und fein Glück als Mensch wie als Schaffender, war sein Individualismus. Die politischen Freiheitsideen des Baters, die demokratischen Tra­ditionen des Großvaters Kammerer, der als Demagoge der Metter­nichzeit zu Gefängnis verurteilt wurde, Wedekinds eigene Erleb­niffe mit der beleidigten Majestät als Simpliziffimus"-Mitarbeiter blieben völlig wirkungslos, insofern als sie nie ein Pflichtgefühl gegenüber dem Bolfsganzen bei ihm wedten. Sein Intereffe ging immer nur vom einzelnen aus und führte auf ihn zurüd. Und zwar trotz aller scheinbaren modernisierten Kalofagathie blieb das von der persönlichen Leidenschaft bewegte Innere fein Feld. Bede­find war letzten Endes, aller vermeintlichen Kraßheiten und brutal fter Sinnlichkeiten zum Troß, ein Phantast, er sah nicht die Wirk­lichkeit im alltäglichen Sime, als Profaist war er nie Naturschilderer, wurde nie, trotz aller emsigen Versuche, ein richtiger Journalist, und als ihn die Entwicklung seiner letzten Jahre immer weiter ab von der naiv- sinnlichen Gestaltung in religiöse Weltprobleme führte, wäre er auch sicherlich hier bei einer längeren Schaffensdauer, als ihm sein durch ein klassisches Bohemedasein verbrauchter Körper ver­ftattete, in wüstes Brachland geraten, weil ihn einerseits die leben­dige Schöpferkraft verlassen hatte und er andererseits mit den Be­dürfnissen und Sehnsüchten seiner Zeit feinen Konner gefunden hatte.

Den fozialistisch geftimmten jungdeutschen Realisten von 1890 ftand er fremd gegenüber, und darum wirkten seine ersten Werke, die auf ihn aufmerksam machten, Frühlingsermachen", Erdgeist und die als Fürstin Russalta" gesammelten

Zu Wedekinds Bildnis.

Wedekind   war, wie alle echten Dramatifer von je, Schauspieler. Nicht nur in dem Sinne, daß er als Dichter jede seiner Gestalten innerlich nach oder vorlebte, nicht nur, daß es ihn drängte, ptele dieser Gestalten selbst auf den Brettern ins sichtbare Leben zu führen, sondern auch indem er als Bürger ein doppeltes, vielgestal tiges Dasein lebte und liebte. Der herrschenden Gesellschaftsmeral und ihren Vertretern gegenüber war er der rücksichtsloseste, para­doralsie Revolutionär, den Genossen der eigenen Zunft aber suchte er durch übertriebene Korrektheit und geradezu possierliche Würde zu imponieren. fammengetroffen bin, war es merkwürdigerweise mit Wedekind   dem Die wenigen Male, an denen ich mit Wedekind   persönlich zu­Schauspieler. Zuerst 1898 in Leipzig  , da Carl Heines verdienstvolles Ibsen  - Theater" verschiedene Aufführungen Wedekindscher Werte magte. Ich sah Erdgeist", Wedekind   sprach, neben der fleinen Rolle des Artisten Rodrigo im Schlußatt, den Prolog im Kostüm eines Menageriedirettors; rotem Frad, weißen Lederhosen und hoher schwarzen Stulpen, auf dem Kopf eine schwarzbuschige Zoddel­perrüde, in der einen Hand die Beitsche, in der anderen den Revol ver. So grell und marktschreierisch und doch mit dem deutlich ver­nehmbaren Unterton bedeutsamer Tragit war auch sein Sprechen. Sein tiefes Organ mit dem schmarrenden Kehl  - R, sein scharfes Sfan­tieren der Worte und Säße, dabei eine fast unverwandte starre haltung mit diesen Mitteln hat der Schauspieler Wedekind   stets, wenn auch nicht jeden seiner Zuschauer überzeugt, so doch sicher ge feffelt und ihm das Bewußtsein eines persönlichen und vielleicht neuen dekorativen" Stils übertragen. So fah ich ihn später ais Hetman in Hidallah", als Kommerzienrat im Marquis von Keith", so spielte er den Aufschlitzerjad wie den König Niccolo. Für uns andershalb Jahrzehnte Jüngere, die wir Erdgeist" fängst aus der Lektüre fannten, wirfte die Tragödie durch die zwingende und finnenfällige Einführung feines Prologs zum ersten= mat voll verständlich. Tags darauf, in einer Bilsener Stube der alten Stadt, sprachen wir mit ihm über die Aufführung, über seine Auf­

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