Nr. 301 ♦»2. Fahrgang
1. Seilage öes Vorwärts
Sonntag, 28. Funk 1025
Die Erziehung zum öffentlichen&ben.
Wir all«, die wir nicht imstande sind, andere für uns tätig sein zu lassen, um uns dadurch eine goldene Jugend und ein sorgloses Alter zu verschaffen, wir alle müssen uns täglich' und stündlich" dazu erziehen, in der Oeffentlichkeit unseren Mann zu stellen und uns nicht von ihr und ihrem tausendfältigen Gewirre erdrücken zu lassen. Erziehung zur Straße. Der erste Schritt, den wir dabei unternehmen müssen, ist die Erziehung zur Straße, die Selbsterziehung, und, soweit es im Bereich unserer Pflichten und Krästb liegt, die Erziehung anderer. Wir haben dabei die eine Erleichterung, den einen Vorzug, daß die Straße der beste Anschauungsunterricht ist, der sich überhaupt denken läßt. Nur muß man eben, wie bei jedem Unterricht, die Augen offen halten und ehrlichen Willen haben, zu dem es in erster Linie gehört, sich nicht täuschen zu lasten und den Glanz für das Licht, die Er- fcheinung für das Wesen zu nehmen. Geht man mit diesen grund- legenden Erkenntnissen an die Sachen heran, dann entdeckt man aus der Straße das menschliche Leben in seiner fast unergründlichen Vielseitigkeit, dann wird dies Leben Erziehung zur Gestaltung eigenen Lebens, dann schulen wir uns, um vor uns selbst Menschen von Wert zu werden und im öffentlichen Leben einen Plaß der Arbeit und gedeihlicher Entwicklung einzunehmen. Zweierlei Er- kenntnisse sind es, die wir in unserem täglichen Verkehr mit der Straße vertiefen müssen, wenn es uns gelungen ist, sie zu gewinnen: wir müssen die Achtung vor der Arbeit und jeglichem Arbeitenden in uns tragen, und wir müssen andererseits die sittliche Kraft in uns immer mehr reifen sehen, die uns an der Erneuerung einer besseren, edleren, allen Anrecht gewährenden Gesellschaftsordnung teilnehmen und mitwirken läßt. Und noch ein Drittes konunt.zu dieser Selbsterziehung hinzu: nichts nötigt so stark wie die Straße zu körperlicher und geistiger Disziplin, Gefahren an allen Ecken und Enden zwingen uns zu Vorsichl, verlangen von uns Bereitschaft in jeder Sekunde— aber dies Großstadtstraßenleben mit seiner lieber- fülle an Menschen und Wagen, die durcheinander treiben, unsichtbares Verhängnis inmitten ihres Wogens, ist es etwas anderes als das Leben selbst, dessen stärkstes Gleichnis es darstellt? Wer im öfsent- lichen Leben etwas sein und gelten will, der läßt gern erst die Erziehung zur Straße über sich ergehen. Er fühlt dort und fühlt es ganz besonders, daß er ein Glied in öffentlicher Kette, daß er dem Genüge zu leisten hat, daß er auch hier das beste Beispiel geben kann. Menschen der Arbeit sind niemals Bummler, sie lassen sich vom gewaltigen Getriebe erfassen, sie erleichtern es, sie helfen, be- lehren, wo sie können, sie tragen nach Kräften dazu bei, daß die Straße allmählich die Zahl ihrer täglichen Opfer verringert. So wirken sie auch mit erhöhtem Eifer auf dem Gebiete des Geistigen,
wissen sich für die Ehrung der Arbeit einzusetzen, wissen überall für den Gemeinschaftsgedanken, für das Eintreten eines Menschen für alle und alle für einen zu werben. Erziehung zur Gemeinschaft. Wer nicht selbst Disziplin im Leibe hat und wem wir sie nicht in brüderlicher Hilfeleistung beibringen können, der muß aus dem Wege des Ungeistigen, den wir Zwang nennen, zu Selbsterhaltung genötigt werden. Das leichtfertige Spiel mit dem Leben, die Außer. achtlajsung jeglicher vorsichl im Verkehrsgewühl ist ein besonderes Kennnzeichen unserer Zeit: Krieg und Inflation wirken nach, wer
Eine Szene, die Jeder schon verschuldet bat. zu viel Gefahren entrann, wird leichtfertig und übermütig, und wer nur Sorgen hat, dem liegt nicht allzu viel am eigenen und— leider auch— am. fremden Leben. In allen Großstädten setzt mit Recht die Zwangserziehung zur Straße ein, sie scheint wohl zunächst, namentlich in der Regelung des Fußgängerverkehrs, Eingriff in die Freiheit der Straße, aber wer sich nicht selbst meistern kann, der muß eben im öffentlichen Interesse erzogen werden. Es ist kein Ideal,
wir stellen uns die Erziehung zur Gemeinschaft anders vor. Nicht lebhaft genug kann heute darüber geklagt werden, daß Menschen dort, wo sie sich zu irgend einem Zwecke zusammenfinden, nichl aus. einander Rücksicht nehmen, daß jeder sich so benimmt, als sei er allein im Hause. Gewirr und Disziplinlosigkeit der Straße greifen über auf Gemeinschaftsstätten, von hier, von der äußeren Rücksichis- losigkeit, bis zur Zügellofigkeit geistiger Regungen ist nur ein Schritt Wäre die Straße vorher Erzieherin gewesen, so wäre es leichter. dem Zusammenkommen von Menschen" die Freude zu lassen, die sie dabei suchen. Wohin man kommt, nirgends nimmt einer auf den anderen Rücksicht. Was er empfindet, das ist entscheidend, der Nach bar hat keine eigenen Empfindungen oder hat keine zu haben. Wir gehen in ein Kino. Da sehen wir Leute, die in harter Arbeit stehen und nur selten sich hier Zerstreuung gönnen können. Aber es ge- lingt: die Täuschung ist so völlig, daß ein Lächeln über die harten Züge geht, daß man sich weit weg von der schlimmen Wirklichkeil wähnt und eine Stunde Vergessen haben könnte— würden sich nicht Leute laut und ohne jede Scheu lustig über das Gebotene machen. würden sie nicht kalt und herzlos zerstören, was einem anderen um getrübte Freude bereitet.— Das gleiche, wenn irgendwo ein Musikstück gespielt wird, es genügt, daß ein unglückseliges Mcnschenpaar sich, ohne andere zu beachten, unterhält, und viele Leute haben zum Verlust der Freude am Dargebotenen noch Aerger und Unwillen über die Lieblosigkeit von Mitmenschen zu tragen. Man darf es als sicher gelten lassen, daß Leute, die sich so benehmen, nicht Menschen der Arbeit sind. Ja, man ist überrascht, welche Rücksichtnahme aus den anderen dort herrscht, wo Arbeiter unter sich sind. Ist doch die Werkftätte, die Fabrik, das Magazin oder wie immer der Arbeits - räum heißt, ein Erzieher zur Selbstbeherrschung und zur Teilnahme am Mitmenschen. Erziehung in öffentlicher Versammlung. Wer sich von der Straße hat erziehen losten, wem die Werkstättc Vermittlerin zur Erkenntnis war, daß Leben im besten Sinn« Gc meinschaft bedeutet, der zeigt sich in der öffentlichen Versammlung, die oft für einen arbeitenden Menschen die einzige Gelegenheit ist. Erziehung und Erfahrung vor vielen zu bekunden, als der zur Oeffentlichkeit und für die Oeffentlichkeit erzogene Mensch. Wir nehmen oft zum höchsten Erstaunen wahr, wie einfache, ungeschulte Menschen das Leben beherrschen und welche Fülle von Wissen und wegeweisendem Willen sich in ihnen offenbart. Das find die Men schen, die es verstanden haben, immer zu lernen, immer an sich selbst zu arbeiten— nicht ganz aus sich selbst, vielinehr immer aus den: Leben und seinen unscheinbarsten Regungen schöpfend. Diese lasten das eigene Ich zurücktreten, sie keimen den anderen, den sie gelten lassen, und Gemeinschaft bedeutet ihnen das Höchste. Es find die Menschen, die es in der Arbeiterbewegung weit gebracht haben, die ihr Stolz sind und die vom ganzen Volke geachtet werden, wenn sie aus eigenem Bescheidenheit auf Arbeitsposte,� für das Volk ge tragen werden, es sind die Meister in der Selbsterziehung zur Oeffentlichkeit. -i- Es ist noch nichts Frucht geworden, was nicht aus einem kleinen Saatkorn hervorging. Wer heute nicht beim Kleinsten beginnt, der kann es auch nicht zum Mittelmaß bringen— denn Sinn des Lebens von heute liegt in der Stellung des Menschen zum Mitmenschen, in seiner Einstellung zur Gemeinschaft. Wir dürfen das keine Stunde außer acht lasten— und wenn scheinbar der Mensch, umgeben von ewiger Hast der Wellstadt, nie zur Ruhe kommt, so gelangt er wenigstens zum Selbstbesinnen, und es geht ihm keine Minute verloren, wenn er bemüht ist, alles zur Erziehung des Menschen in ihm selbst zu verwerten und damit erst ein sozialer, ein vollwertiger Mensch zu werden. Ungetreue Beamte. Der Polizeiunterwochtmcister Fritz I ä n i ck e, der bei der Dlenststelle für Leibesübungen ini Oberkommando der Schutzpolizei tätig war, hatte sich mehrere Jahre in einer Vertrauensstellung gm bewährt. Ganz plötzlich änderte sich dies, er unterschlug ein für einen Major bestimmtes Monatsgeholt, ihm anvertraute Gelder für zwei Fahrkarten nach Ostpreußen und auch Betrüge, die mit der Post versandt werden sollten, zusammen etwa 350 Mk. Wegen der zuletzt benannten Unterschlagung lieh� er sich von einem ihm be- kannten Postaushelfer, Kurt Reuter, die fehlenden Postabschnitie fälschen, um die Sache zu verdecken. Aber natürlich folgte das Unheil der bösen Tat. Beide Beamte sind entlassen und das Schöffen- gericht Mitte verurteilte Ja nicke zu neun Monaten G e- f ä n g n i s, drei Jahre Verlust der Amtsfähigkeit und Reuter zu sechs Wochen Gefängnis.
Die Baumwollpflücker. 7] Roman von B. Tranen. Copyright 1925 dy B. Tri von, Cohnnbus, Timtulipu, Mexico. Als wir zum Hause kamen, waren Sam und Antonio schon mit den Gütern angelangt. „Eine elende nichtswürdige Schlepperei", sagte Antonio. „Ach, das war nicht so schlimm!" begütigte Sam. „Ruhig, du gelber Heiden söhn, du natürlichjnit deiner Laslträgeroergangenheit, was verstehst du von Schleppen?" rief Antonio, während er sich auf die Kiste hinsetzte, die auch noch unter ihm zusammenbrach und seine Laune durchaus nicht besserte. „Hören Sie, Antonio, warum haben Sie denn nicht Mr. Shine um ein Mula oder einen Esel gebeten?" fragte ich. „Aber das habe ich ja getan. Er hat es abgelehnt. Er sagte zu mir und Sam: Wie kann ich euch denn ein Mula geben? Ich kenne euch ja gar nicht, ihr habt ein paar Tage bei mir gearbeitet, Sachen habt ihr keine. Papiere habt ihr auch keine und wenn ihr weiche hättet, kann ich mir für eure Papiere, die vielleicht noch nicht einmal euch gehören, kein anderes Mule kaufen, wenn ihr es im nächsten Ort ver- schachert und euch dann hier nicht mehr sehen laßt." „Don seinem Standpunkt aus hat er recht." erwiderte ich, „aber von unserm Standpunkt aus gesehen, ist es eine große Niedertracht. Aber was können wir machen?" „Und gerade jetzt, wo wir schön im Zuge waren, das Lieblingsthema aller Arbeiter der Erde anzuschlagen und uns den ungerechten Zustand in der Welt, der die Menschen in Ausbeuter und Ausgebeutete, in Drohnen und Enterbte teilt, nnt mehr Lungenkraft als Weisheit klar zu machen, kam Abraham an mit sechs Hennen und einem Hahn, die er an den Füßen zusammengebunden hatte und ihre Köpfe nach unten hängen lassend, an einem Bindfaden� über der Schulter trug. Er warf das Bündel auf die Erde, wo die Vögel sich vergeblich mühten, aufzustehen oder von den Fesseln loszu- kommen. »So, Fellers", grinste er,„setzt könnt ihr Eier von mir haben. Ich lasse euch das Stück für sieben Centavos, billig, weil ihr ja meine Arbeitskollegen seid. In der Stadt kosten hie Eier siebenundeinhalb. sogar acht." i Wir starrten bald das Bündel Hühner, bald den
grinsenden Abraham an. An«in solches Geschäft hotte keiner von uns gedacht und es lag doch so nahe, war so einfach, ver- langte absolut keine besondere Intelligenz: jeder von uns hätte das ebenso gut machen können. Sam Wae empfand keinen Neid, keine Eifersucht, nur Bewunderung für den unter- nehmungslustigen Geflügelzüchter: jedoch er schämte sich, daß er sich von einem Nigger beim Ausdenken einer ehrlichen Nebeneinnahine hatte schlagen lassen. Vor unfern Augen, nicht einmal über Nacht, sondern über drei Nachmittagsstunden war aus einem Enterbten und Aus- gebeuteten ein Produzent, ein Unternehmer geworden. Er hatte sich von seinem Lohn die Hühner gekaust, wir Lebens- mittel. Er hatte keine Lebensmittel mitbringen lassen und wir hatten uns schon vorbereitet, wie wir ihm das Stehlen, auf das er unter diesen Umständen angewiesen war, unmöglich machen wollten. Aber er hatte uns übertrumpft. Er lieferte Eier und tauschte dafür an Reis und Bohnen ein, was er brauchte. Träte nun der Fall ein, daß wir seine Produkte boykottierten, so konnte er ja den Hahn schlachten, vielleicht noch ein Huhn, bis er wieder Lohn bekam. Ain nächsten Morgen hatte Abraham vier Eier. Dos Geschäft konnte beginnen. Eier betrachteten wir noch als größeren Luxus denn Speck oder Fleisch. Aber jetzt, wo die Eier so verlockend nahe zur Hand waren, viel schneller zubereitet werden konnten als irgendeine andere Speise und uns dadurch eine Möglichkeit gegeben war, zum Frühstück etwas anderes und Kräftigeres in den Magen zu bekommen als den dünnen Kaffee und ein schmales Stückchen verbranntes Brot, wollten und konnten wir auf Eier nicht mehr verzichten. Wir'sahen plötzlich ein, daß wir ohne Eier noch vor Beendigung der Ernte an Unter- ernährung zugrunde gehen würden und wenn wir je wirklich die Erntc überlebten, so würden wir doch so entkräftet sein, daß uns niemand in Arbeit nehmen würde. Die Sklaven wurden immer, so erzählte Abraham, der es von seinem Großvater wußte, in gutem Ernährungszustände gehalten, wie Pferde: um den Ernährungszustand der freien Arbeiter kümmert« sich kein Mensch. Wenn sie zu schlecht ernährt waren, weil der Lohn für eine bessere Ernährung nicht reichte, flogen sie raus. Solche merkwürdigen Ansichten, die natürlich keine wissen- schaftliche Grundlage hatten und auch ganz und gar unrichtig waren, brachte» Abraham vor, nur um seinen Eiern einen regen und dauernden Absatz zu sichern. Uns leuchtete eine
solche Betrachtung menschlicher Verhältnisse um so mehr ein, als es ja gerade Abraham gewesen war, der uns gestern mitten in jener regen Auseinandersetzung unterbrochen hatte, die uns ohne Zweifel, wenn auch nicht auf dem Wege über Eier, zu genau derselben Schlußbetrachtung der Welt geführt hätte. Außerdem stundete uns Abraham gutmütig den Betrag für gelieferte Eier bis zum nächsten Lohntage. Er tat es nur aus Gutmütigkeit und weil er nicht wollte, daß wir, seine lieben Arbeitskameraden, im späteren Leben, also nach der Ernte, wegen Unterernährung Schiffbruch erleiden sollten. Nach drei Tagen konnten wir nicht mehr verstehen, wie wir es überhaupt jemals fertig gebracht haben, ohne Eier auszukommen. Es gab Eier zum Frühstück, es wurden Eier zum Mittagessen mitgenommen und abends gab es erst recht Eier, wir backten Eier sogar ins Brot, nur um die nötige Arbeitskraft für unser ferneres Leben zu erhalten. Abraham verstand die Geflügelzucht, das muß man ihm lassen. Er fütterte feine Hühner reichlich mit Mais. Jeden zweiten Abend mit Dunkelwerden machte er sich auf den Weg mit einem Sack, um bei den Farmern Mais einzukaufen. Manchmal ging er schon um drei Uljr vom Felde heim, um seine Hühner gut zu versorgen. Vom Mais einkaufen kam er aber immer erst zurück, wenn wir schon längst schliefen. Die sechs Hühner und der eine Hahn, als ob sie unseren Bedarf schon im voraus kannten, taten das Menschenmögliche, nein, Hühnennögliche, um uns vor der drohenden Unter- ernährung zu schützen. Und für den reichlich gelieferten Mais, lieferten sie als gerechte Gegenleistung wehr als sonst ein" Henne zu liefern sich verpflichtet fühlt. Am ersten Morgen hatten die Hühner, wie schon berichtet, vier Eier gelegt, am zweiten Morgen sieben und als wir bezweifelten, daß dies möglich sei, führte uns Abraham am darauffolgenden Morgen zu den drei alten Schilfkörben, die er für den Zweck ausgehängt hatte und gestaltete uns, feldst nachzuzählen. Wir.zählten an diesem dritten Morgen siebzehn Eier, die von den Hühnern über Nacht gelegt worden waren. Da wir die Eier persönlich bei Sonnenaufgang gesehen und persönlich gezählt hotten, zweifelten wir von dem Tage an nicht mehr an der Zahl der von Abrahams Hühnern gelegten Eier, obgleich er uns eines Morgens, freudestrahlend, als hätte er in der Lotterie gewonnen, mitteilen konnte, daß die Hühner achtundzwanzig Eier über Nacht gelegt hatten. ......(Fortsetzung folgt..!