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Abendausgabe

Nr. 603+ 42. Jahrgang Ausgabe B Nr. 299

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Vorwärts

Berliner   Dolksblatt

10 Pfennig

Dienstag

22. Dezember 1925

Beriag und Anzeigenabteilung: Geschäftszeit 9-5 Uhr

Berleger: Vorwärts- Berlag GmbH. Berlin   S. 68. Lindenstraße 3 Fernsprecher: Dönhoff 292-292

Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands  

Anklagen gegen tschechische Minister. Die Rechnung der Unternehmer.

Ein Angriff der gesamten Opposition.

begangenen Ungerechtigkeiten. Im Abgeordnetenhaus fam es bei

Prag  , 22. Dezember.  ( WIB.) Die gesamte deutsche, floma-| Mehrheit stützt, das Leben bis zur Unmöglichkeit schwer zu tische und fommunistische Opposition in Starte von 140 Mann hat machen. Es bedarf feines Nachweises, daß mit Gewalt nichts im Abgeordnetenhaus einen Anklageantrag gegen den Minister- gegen sie auszurichten ist, sondern daß der entgegengesetzte präsidenten und den ehemaligen Eisenbahnminiffer wegen der im Weg, der Weg der Versöhnung beschritten werden muß. Berlaufe des Abbauverfahrens vorgekommenen Gesetzwidrigkeiten eingebracht. Zugegeben, daß das Beschreiten dieses Weges durch das Der Antrag richtet sich nicht nur gegen die an den deutschen   Be- Verhalten der Opposition psychologisch erschwert wird und daß besonders das Abfingen des Deutschlandliedes im amten, sondern auch gegen die an mißliebigen tschechischen Beamten Parlament durch die deutschnationalen Abgeordneten den Extremisten der anderen Seite Basser auf die Mühle leitet. Aber mas psychologisch schmer ist, das ist politisch desto notwendiger. Die Geschichte Deutschlands   in den letzten Jahren liefert ein lehrreiches Beispiel dafür, wie notwendig ein politi­fches Handeln gegen das überhigte nationale Gefühl gerade zu Zwecken der nationalen Selbsterhaltung wer­den kann. Liegen die Dinge in der Tschechoslowakei   auch in vielen Beziehungen anders, so gilt diese Lehre auch für fie. hier scheint uns eine große Aufgabe für die tschechische Sozialdemokratie zu liegen.

Berlefung des Anklageantrags zu Sturmfzenen.

*

Die Neuwahlen in der Tschechoslowakei   und die Vorgänge, die sich seitdem im Prager   Parlament abspielen, lassen starf daran zweifeln, ob durch die Fortsetzung der bis: herigen Koalitionspolitik und damit des bis­herigen Regimes dem Staat auf die Dauer gedient sein wird. Wohl laffen fich für diese Politik, so schmerzlich sie auch von den Deutschen   diesseits und jenseits der Grenzen empfunden murde, für die Vergangenheit allerhand Rechtfertigungs-. gründe anführen. Handelte es sich doch darum, einem neus gegründeten Staatswesen zunächst feste Formen zu geben und zu zeigen, daß es überhaupt lebensfähig war. Im Verhältnis zwischen den Deutschen   und den Tschechen war mancherlei aus­zugleichen, und es ist begreiflich, wenn dabei das Bendel zu ftort nach der anderen Seite schlug. Heute aber liegen die Dinge so, daß die Tschechen tatsächlich das Herren volt in ihrem Staate sind, daß sie aber durch die lleberspannung ihrer vorherrschenden Stellung ihre eigene Schöpfung und ihr eigenes Machtinstrument in Gefahr bringen.

Die Unterdrüdung der nationalen minder heiten kann seit den Verträgen von Locarno   nicht mehr als ein Aft der staatlichen Selbsterhaltung gerechtfertigt werden. Zudem erweist es sich von Jahr zu Jahr als unmöglicher, fie in den Formen der Demokratie durchzuführen. Gegenüber ben Koalitionspolitikern find schließlich die tfchechischen Faschisten die konsequentesten, die auch die Formen der Demokratie zerschlagen und ein mussolinisches Gewaltregiment aufrichten möchten. Nur daß die Minderheiten in der tschecho­flomatischen Republik trog aller Bedrückung, die sie schon er­litten haben und noch erleiden könnten, dank ihrer Zahl eine ganz andere Machtstellung einnehmen als die unglücklichen Südtiroler   in Italien  . Diese Machtstellung nügen sie jetzt dazu aus, der tschechischen Regierung, die sich auf eine sehr schwache

Frankreichs   Finanzkampf.

Die tschechischen Sozialdemokraten können, trotz aller nicht unberechtigten Kritif, die man an ihrem bisherigen Ber­halten geübt hat, das Verdienst für sich in Anspruch nehmen, ihrem Staat und seiner Arbeiterflaffe Nügliches geleistet zu haben. Aber die Lösung des schwierigsten Problems steht noch vor ihnen. Die tschechoslowakische Republik will eine Demofratie fein, andere Formen, in denen fie leben könnte, sind nicht sichtbar, die Demokratie aber gerät mit sich in Widerspruch und begeht Selbstmord, wenn sie nicht lernt, den nationalen Minderheiten innerhalb des Staats­ganzen freie Entfaltungsmöglichkeiten zu gewähren. Das ist ein sehr naheliegender Gedante, der auch den tschechischen Sozialdemokraten nicht fremd ist. Aber noch wartet man auf die Taten, die ihn in Wirklichkeit umsehen und die damit dem tschechoslowakischen Staatswesen die Grundlagen ver schaffen, auf denen es sicher und frei bestehen kann.

Annahme der Regierungserklärung.

Prag  , 22. Dezember.  ( Eigener Drahtbericht.) Das Abgeord netenhaus hat in seiner Nachtfizung zum Dienstag nach einer teil­

reise stürmischen Debatte die Regierungserflärung des Ministerpräsidenten Swehla mit 159 gegen 117 Stimmen ange­nommen.

Das Haus vertagte sich darauf bis Mitte Januar.

lichkeit eines endgültigen Aufbaues des Sozialis mus der wirtschaftlich zurückgebliebenen Sowjetunion   bei der Die Sozialisten für den Sanierungsvorschlag der Juduftrie gegenwärtigen internationalen Lage, welche durch die Berzögerung Paris  , 22. Dezember.  ( WTB.) Die sozialistische Kammer­der Weltrevolution und eine verhältnismäßige Stabilisierung des fraktion hat in der Kammer, mit dem Ersuchen um schleunige Be­Kapitalismus gefennzeichnet sei. Sinomjeff erklärte, daß er ratung, den Entwurf einer Entschließung des Inhalts vorgeschlagen, nicht gegen die neue Wirtschaftspolitik, sondern gegen gemiffe aus dem Anerbieten der Industriellen der Nord- Tendenzen ihrer Erweiterung und Versuche ihrer Ideali­departements zur Stabilisierung der französischen   Währung sollte fierung als angeblich sozialistische Wirtschaftsform ein solidarische Aktion der ganzen Nation gemacht werden. anfämpfe. Sinomjeff mies den Vorwurf der Unterschäßung der Rolle der mittleren Bauernschaft zurück und erllärte feine volle Die Regierung sollte das gemachte Anerbieten annehmen, und durch Gesetz dieselbe Tat weitsichtiger Klugheit von allen vermögen Solidarität mit den Parteibeschlüssen in der durch Gesetz dieselbe Tat weitsichtiger Klugheit von allen vermögen: Bauernpolitit. Er betonte die Notwendigkeit der Entwid­den Kreisen verlangen, und zmar unter Kontrolle einer auto­nomen Amor'isierungskasse, bei der, um jeder Mißwirt- lung der Produktivkräfte des Dorjes, warnte jedoch vor einer Unter­schaft von vornherein zu begegnen, die hauptsächlichsten Drgani sationen der Produzenten, der Arbeiter und der französischen  Sparer vertreten sein sollten.

Gefeßentwurf der Linken über die Einkommensteuer. Paris  , 22. Dezember.  ( BTB.) Die Unterfommiffion für Steuer. und Finanzfragen, die von den das Kartell der Linken bildenden Parteien eingefeßt murde, in der aber die Fraktion Loucheur nicht ver'refen ist, hat sich über einen Gesezentwurf zur Reform der allgemeinen Einkommensteuer durch Verschmelzung des fozialistischen und des raditalen Borschlages ge­einigt.

Widerspruch gegen Doumers Finanzpläne. Baris, 22. Dezember( WTB.) Echo de Paris" will wiffen, daß innerhalb des Ministeriums Briand   sich ein lebhafter Wider= spruch gegen die Finanzpläne Doumers geltend mache. Es feien namentlich die drei radila len Minister Chauptemps, Daladier   und Durafour, die Widerspruch erhoben und sogar jomeit gegangen sein sollen, daß sie ihren Rüdtritt angeboten hätten für den Fall, daß eine Berdoppelung der Wirtschaftszölle norgeschlagen werden sollte; nun werde über ein Kompromiß ver handelt.

Die allein richtige Parteipolitik".

Bucharin gegen Sinowjews Zweifel. Moskau  , 22. Dezember.  ( Telegr. Agentur der Sowjetunion  ) In seinem Rorreferat zum Bericht des Zentralfomitees erklärte Sino wjeff auf dem Kommunistischen Parteitag, er sei weit davon entfernt, die positiven Seiten der neuen Wirt schaftspolitit, die zum raschen wirtschaftlichen Wiederaufbau geführt haben, zu leugnen. Er wies auf die Erfolge des fozia liftischen Aufbaues hin, drückte jedoch 3 weifel aus an der Möge

schätzung der Gefahren, die seitens der wirtschaftlich erstartenden Großbauernschaft wie überhaupt aus den Schwierigkeiten der gegen

wärtigen Weltlage drohten.

Nach Sinowjeff ergriff Buch arin das Wort. Er wandte sich gegen die Ausführungen des Vorredners und erflärte, die Gegner der Auffassung des Zentralfomitees feien nicht imstande, der Bauern politik der Partei, wie sie auf der 14. Parteifonferenz einstimmig beschlossen wurde, irgendwelche prattischen Berbesse= rungsvorschläge und irgendwelche neuen Maßnahmen zur Eindämmung der Erstarfung der Großbauernschaft und zur Befetti gung der Armut auf den Dörfern entgegenzufeßen. Die gegen märtige Bauernpolitit der Kommunistischen Partei sei eingestellt auf ein festes Bündnis mit der mittleren Bauernschaft, deren ausschlaggebende Rolle stets von Lenin   betont morden sei, jedoch von Sinomjeff unterschäßt merde, denn letzterer sehe in diefer Bauernpolitik ein Zugeständnis an die Großbauernschaft. Das Miß trauen Sinomjeffs und Kamenews gegenüber der Möglichkeit eines sozialistischen   Aufbaues in einem Lande ohne internationale Revo­lution verrate Mißtrauen gegenüber den Kräften der Arbeiterflasse. Indem Sinowjeff erkläre, die neue Wirt­schaftspolitik sei ein allgemeiner Rüdzug, widerspreche er den Leninschen Anschauungen, monach die neue Wirtschafts­politif ein strategisches Manöver des sozialisti schen Aufbauessei. Heute fähen Sinomjeff und seine wenigen Gesinnungsgenoffen bereits den Irrtum der fürzlich von ihnen auf gestellten Behauptung ein, als ob die sozialistische Staatsindustrie der Sowjetunion  , die auf der Vergesellschaftlichung der Produktions­mittel beruhe, eine Form des Staatsfapitalismus dar stelle. Lenin und die Partei hielten nur verpachtete und Konzessions betriebe für staatskapitalistische Wirtschaftsformen. Bucharin   for derte diejenigen, die an dem Zentralfomitee Kritit üben, auf, auch ihre übrigen Irrtümer einzugestehen, und drückte unter lebhaftem Beifall des Parteitages die feste Ueberzeugung aus, daß die Abweichung von der allein richtigen Barteipolitit bald einmütig übermunden werden wird.

Wirtschaftsbelastung durch Sozialversicherung?

Die Dentschrift des Reichsarbeitsministers über die So­zialversicherung 1924/25 zerstört endgültig die Unter­nehmerlegende über die unerträgliche Höhe der für die Sozialversicherung aufgebrachten Summen. Phantastische zahlen wurden von den Unternehmern errechnet, um die un­erträgliche Belastung der Wirtschaft durch die Sozialversiche rung zu beweisen. Zweierlei follte und ist mit diesen falschen Bahlen erreicht worden: Verhinderung eines zwedvollen Aus baues der Sozialversicherung und Beeinflussung der staatlichen Lohnpolitik im Sinne der Unternehmer.

Es ist anzunehmen, daß diese Phase des Unternehmer­feldzuges, mit falschen Zahlen zu operieren, beendet ist. Der Kampf um die prinzipielle Seite der Frage geht jedoch weiter. Erledigt sind zunächst nur die Unternehmer- Rechentünstler. Was diese sich geleistet haben, sei furz in die Erinnerung zurückgerufen.

In der ,, Berliner Börsen- Zeitung" vom 21. Oktober 1924 hatte der Generaldirektor Dr. Piatschef die Belastung der Wirt fchaft durch die Sozialversicherung für das Jahr 1924 in Höhe von 4,3 milliarden Mart errechnet. Er hielt 2,6 milliar. den Mart für tragbar und forderte deshalb eine Ein parung von 1,7 Milliarden Mart. Die Denkschrift des Reichs arbeitsministers weist nach, daß der Aufwand für das Jahr 1924 nur 2,016 Milliarden Mart betrug, also viel weni. ger, als was Generaldirektor Dr. Piatschef für tragbar erklärte. In diesen 2016 Millionen Mart steden jedoch noch rund 376 Millionen, die bei den verschiedenen Bersicherungs trägern als Reserven vorhanden sind. Die tatsächliche Aus gabe beläuft sich nur auf rund 1640 Millionen Mart. Das is nicht einmal die Summe, die Generaldirektor Dr. Biatschel mif feinen Reform" vorschlägen einsparen wollte. Rechne man zu den tatsächlichen Ausgaben für das Jahr 1924 nod die Aufwendungen für die Ermerbslosenfürsorge hinzu, dann bleibt die Gesamtsumme noch erheblich unter dem Betrag, den Piatschek für tragbar erklärte.

Die Denkschrift enthüllt also schlagend, in welch beispiel: loser Weise die öffentliche Meinung in Deutschland   durc die Unternehmerpropaganda irregeführ worden ist. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß Biatschef in seinen letzten Berechnungen Mitte dieses Jahres eine Belastung von 2,8 Milliarden Mark errechnete. Mit dieser Selbstwiderlegung ist nur erwiesen, wie unverantwort lich die ersten Berechnungen angestellt worden sind.

Das jetzt veröffentlichte Wirtschaftsprogramm des Reichs verbandes der deutschen   Industrie hat ein neues Stich: wort für den Unternehmertampf gegen die Sozialversiche rung ausgegeben. Mit den falschen Zahlen ist nichts mehr zu machen. Und so verkündet das Wirtschaftsprogramm: Die Aufrechterhaltung einer weitgehenden so zialen Fürsorge ist nur möglich, wenn die Beiträge aller Teile der Wirtschaft für soziale Zwecke fich der tatsächlichen Leistungs fähigkeit anpassen und wenn die Leistungen an die Empfänger fich in solchen Grenzen halten, daß die Empfindung der eigenen Berant mortung des einzelnen für sich und seine Familie nicht zerstört mird. Unter diesen grundlegenden Voraussetzungen befür worten wir eine wirksame soziale Fürsorge."

Die hier gemeinte ,, wirksame soziale Fürsorge" ist eine folche für die Unternehmer. Anpassung an die Leistungs fähigkeit der Wirtschaft und Begrenzung der Versicherungs­leistungen in einem solchen Maße, daß die Empfindung der eigenen Verantwortung des einzelnen für sich und seine Fo milie nicht zerstört wird, heißt in diesem Falle: Niedrig haltung der Beiträge und Tiefhaltung der Leistungsfähigkeit der Bersicherungsträger.

Diese grundsäglich falsche Betrachtungsweise enthüllt die sozialfeindliche Geisteshaltung der deutschen   Unternehmer, er­flärt die Schärfe und Verbitterung der Klassen fämpfe in Deutschland  .

Wir wollen einmal ganz davon absehen, daß nach Ar­tifel 161 der deutschen   Reichsverfassung das Reich die Pflicht hat, zum Schuße gegen die Wechselfälle des Lebens ein um­fassendes Versicherungswesen unter maßgebender Wirkung der Versicherten zu schaffen. Das Wirtschaftsprogramm des Reichsverbandes der deutschen   Industrie fordert, daß hierbei der Selbstverantwortung weitgehender Spielraum gelaffen wird. Die Konsequenz diefes Standpunktes ist, morauf das Reichsarbeitsministerium schon in seiner ersten Veröffent­lichung: Die soziale Belastung der deutschen   Wirtschaft" im ,, Reichsarbeitsblatt" Nr. 24/1924 hingewiesen hat, daß als dann ein Mehr an Löhnen aufzubringen ist, wenn die öffentlich- rechtliche Sozialversicherung fehlt und die Arbeitnehmer sich selbst durch eigene Spartätigkeit oder private Bersicherung für die Fälle von Krankheit, Unfall, In­validität usw. versichern müßten.

Diese Schlußfolgerung ziehen die Unternehmer jedoch nicht. Sie wollen niedrige Löhne und Gehälter und eine leistungsunfähige Sozialversicherung. Betrachtet man das Problem der Sozialversicherung im Zusammenhang mit dem Lohnproblem, dann zeigt sich, daß weder die deutsche  Lohnhöhe, noch die Lasten der deutschen   Sozialversicherung die Schuld an der Konkurrenzunfähigkeit der deutschen   Wirt­schaft tragen. Nach den Berechnungen von Prof. Dr. Herm berg in der Sozialen Praris" vom 12. November d. J. ist das Lohnniveau in den mit Deutschland   konkurrierenden Ländern höher. Die deutsche   Sozialversicherung gleicht das feineswegs aus, da auch in diesen Ländern die Soziallaften