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Abendausgabe

Nr. 610+ 42. Jahrgang

= Vorwärts

Ausgabe B Nr. 302

Bezugsbedingungen und Anzeigenpreife

find in der Morgenausgabe angegeben

Redaktion: Sw. 68, Cindenstraße 3 Fernsprecher: Dönhoff 292-29T Tel.- Noreffe: Sozialdemokrat Berlin  

Berliner Volksblatt

10 Pfennig

Montag

28. Dezember 1925

Beriag und Anzeigenabteilung: Geschäftszeit 9-5 Uhr

Berleger: Borwärts- Berlag GmbH. Berlin   S. 68, Lindenstraße 3 Fernsprecher: Dönhoff 292-297

Zentralorgan der Sozialdemokratifchen Partei Deutschlands  

Ernste Lage in Angora.

Geheime Bündnisklausel im russisch  - türkischen Neutralitätsvertrag?

Condon, 28. Dezember.  ( WIB.) Der Sondervertreter der Westminster Gazette" in Angora, J. A. Spender, telegraphiert unter dem 27. Dezember,

die Lage sei ernst,

wenn auch leine Entscheidung vor der Ankunft Tewfit Ruschdi Bens am nächsten Dienstag fallen werde. Am 28. Dezember werde der Oberste Kriegsrat unter dem Vorsitz Mustapha Remals zu­fammentreten, wobei alle Armeeführer anwesend sein würden. Ein Freund Kemals, der Leiter eines Regierungsblattes, habe ihm, Spender erflärt, der Verlust des Mossul  - Wilajets sei unbe= deutend, verglichen mit dem

Berlust an Prestige für Kemal

und seine Regierung, die noch immer einer starten Opposition in der Türkei   gegenüberständen. Die Regierung fürchte eine Wieder­holung des Aufstandes in Nordkurdistan vom letzten Früh­jahr. Sie könne ihr Ansehen wahren, wenn sie ein Kompromiß statt eines völligen Mißerfolges der türkischen   Sache aufweisen fönnte. Die Regierung werde vielleicht zum Krieg gezwungen werden, um ihr Prestige wiederzugewinnen und eine Revolution im Innern zu verhindern. Eine Anleihe und wirtschaftliche Zu­geständnisse würden nicht genügen. England sollte guten Willen in Gestalt bereitwilligen Entgegenkommens zeigen, um der Regierung zu ermöglichen, ihr Ansehen zu wahren. Spender bemerkt hierzu, er sei überzeugt, daß hiermit die wirkliche Lage geschildert sei.

Sozialdemokratie und Völkerbund.

Kein Schritt in Genf  .

"

Die Tägliche Rundschau" vom Freitagmorgen gibt die Nachricht des Tag" wider, daß sich Zentrum und Sozial demokratie an das Bölkerbundssekretariat in Genf   ge­wandt hätten, um ihm Borschläge für die Aufnahme deutscher  Vertreter zu machen, und fügt hinzu: Wie wir erfahren, ist die Meldung in der Tat zutreffend." Bei den bekannten Beziehungen der Täglichen Rundschau" muß man annehmen, daß sie ihre Erfahrungen" aus dem Auswärtigen Amt  bezogen hat. Dieses wäre dann auch ohne weiteres als die Quelle zu betrachten, aus der der Tag" seine Inspirationen ſchöpft.

Trifft das zu, so ist dazu zu sagen, daß aus dem Aus­ wärtigen Amt   in leichtfertiger Weise Un wahrheiten   ver­breitet werden. Denn die Sozialdemokratische Partei   hat, wie nochmals festgestellt sei, teinen Schritt solcher Art unter

nommen.

Da die Tägliche Rundschau" ausdrücklich von der Sozial demokratischen Partei spricht, die in Genf   wegen der Aufnahme deutscher   Bertreter in das Völkerbundssekretariat vorstellig geworden sei, fann fie fich auch nicht darauf ausreden, sie habe einen Privatbrief gemeint, den dieser oder jener Sozial­demokrat nach Genf   geschrieben habe. Aber auch diese Aus­rede ist unmöglich, da unseres Wissens auch solche Privatbriefe nicht geschrieben worden find.( Obwohl natürlich gar nichts dagegen einzuwenden wäre, wenn ein solcher Gedankenaus­tausch zwischen einzelnen Personen erfolgte.)

Welches Ziel die Attion des Tag" und der Täglichen Rundschau verfolgt, ist flar. Die in Betracht kommenden Bosten sollen für zünftige Diplomaten alten Stils mit mög. lichst verzopften Ansichten gesichert werden. Es soll verhindert werden, daß Deutschland   in den Völkerbund   Vertreter ent­sendet, die dort im Geist der neuen Zeit freudige Mitarbeit leisten. Ein Erfolg dieser Intrige wäre aber für Deutschland  ein Unglück und für Deutschlands   Gegner, die dann wieder einmal auf die ,, deutsche   Unaufrichtigkeit" hinweisen könnten, ein Gewinn.

,, Tag" und Tägliche Rundschau" haben sich wider Willen das Verdienst erworben, auf die außerordentliche Wichtigteit der Postenbesehung in Genf   auf­mertfam gemacht zu haben.

Die ewige Finanzministerkrise.

Ein Weihnachtswettlauf Linkekartell- Doumer.

Ein

Der russisch  - türkische Bertrag enthalte eine geheime klausel, worin der Türkei   im Kriegsfalle die Unterstützung der Sowjet­regierung zugefagt werde.

Dem Belgrader   Korrespondenten der Westminster Gazette" er­flärte Tew fit Ruschbi Bey, die Türkei   könne auf die Souveräni flärte Tew fit Ruschbi Bey, die Türkei   könne auf die Souveräni­Borschläge. Tewfit sprach die Hoffnung aus, daß die englische tät über Mosful nicht verzichten. Sie erwarte neue englische  Borschläge. Tewfit sprach die Hoffnung aus, daß die englische öffentliche Meinung der Türkei   zum Siege verhelfen werde.

Mustapha Kemal reist nach Moskan? Paris  , 28. Dezember.  ( WTB.) Den Blättern wird aus Konstantinopol berichtet, daß Mustapha Kemal Pascha sich im April nach Mostau begeben wolle, um mit Tschitscherin über die durch den fürzlich in Paris   abgeschlossenen russisch  - türkischen Bertrag geschaffene Lage zu verhandeln.

Rückwirkungen in Indien  .

London  , 28. Dezember.  ( WTB.) Nach einer Meldung aus Cawnpore nahm eine Konferenz der indischen Mohamme dander eine Entschließung an, die die Entscheidung des Böllerbundsrates über Mossul   als im Widerspruch mit dem Inhalt des Vertrags von Lausanne   stehend bezeichnet. Wenn die Türken zum Krieg getrieben werden", würden ihnen die indischen Mohammedaner beistehen. Die Entschließung fordert die Inder auf, der Regierung im Falle eines solchen Krieges weber Geld noch Mannschaften zur Verfügung zu stellen.

Briand   ist sich klar darüber, daß sich diese krise auf die Dauer nicht vermeiden laffen wird. Er scheint nur den Wunsch zu haben, thren Ausbruch bis zum außerordentlichen Parteitag der Sozla­liften am 10. Januar zu verzögern, um einen politischen Wirr­warr zu verhindern, der unvermeidlich wäre, wenn etwa fofort eine neue Kabinettstrife ausbräche, bei der sich die Sozialisten, deren Parteitag noch nicht gesprochen hat, auch weiterhin weigerfen, an der Regierung feilzunehmen. Für den Fall einer im Laufe diefer Woche ausbrechenden Kabinettstrife ist zwar in den Kreisen der Sozialistischen Partei schon erwogen worden, den Parteitag eine Woche früher einzuberufen. Das hätte aber den großen Nachteil, daß die meisten Bezirksverbände der Partei die im Parteiprogramm vorgesehenen Bezirkskonferenzen nicht mehr abhalten könnten. Da­durch würde die Entscheidung des Parteitages über die Frage der Beteiligung an der Regierung nicht leichter werden.

Wie die Dinge fich auch entwickeln mögen, die beginnende Woche wird jedenfalls zu den politisch wichtigsten des zu Ende gehenden Jahres gehören. Die sozialistische Fraktion ist entschlossen, die Debatte über das provisorische Haushaltszwölftel, die am Mittwoch beginnen foll, zu benutzen, um ihren Standpunkt zur Finanz- und Sanierungsfrage noch einmal ausführlich darzulegen. Die Genoffen Auriol und Bebouce find von der Fraktion beauftragt worden, die Gründe auseinanderzusehen, weshalb die sozialistische Fraktion den Antrag eingebracht hat, die Anregungen der nordfranzösi­fchen 3ndustriellen einer ernsten Prüfung zu unterziehen. Diese floßen bekanntlich im Lager der Schwerindustrie auf den schärfften Widerstand.

Außerdem wird die Fraktion im Laufe der Debatte über das Haushaltszwölftel von der Regierung noch Aufklärung über Marotto verlangen und vor allem über die Weigerung des Auswärtigen Amtes, den Abgefandten Abd el Krims, den Engländer Cunning, zu empfangen. Da auch der Vorsitzende der Finanz­tommiffion, der Radikalfoziale Maloy, der unter Painlevé eine wichtige Miffion in Spanien   erfüllte, darüber an die Regierung eine Anfrage ftellen will, ist es möglich, daß diese Aussprache einen hoch politischen Charakter annimmt. Je nachdem, fann auch fie zu einer Beschleunigung der Krise führen, von deren Cösung die Weiter­führung der gefamten französischen   Politik bis zu den nächsten Wahlen abhängen wird.

Die Mission Cunnings.

Spanien   will nur einen., Siegfrieden". Paris  , 28. Dezember.  ( Eigener Drahtbericht.) Die spanische Regierung hat zu der Mission des englischen Kapitäns Cunning Borstoß der Linken wegen Marokko.  in einer Berlautbarung Stellung genommen, die von Havas Paris, 28. Dezember.  ( Eigener Drahtbericht.) Die inner- natürlich aus bestimmten Gründen ausführlich verbreitet wird und politische Lage in Frankreich   scheint sich rascher zu flären, als in der es heißt: Nach den Siegen der französischen   und der man vor furzem noch annehmen konnte. Die von der sozialistischen   spanischen   Truppen im Laufe des letzten Feldzuges, und nachdem die Kammerfraktion ergriffene Initiative zur Ausarbeitung eines ge- spanischen Truppen im Abschnitt von Ajbir gelandet sind und dort meinsamen Finanz- und Sanierungsprogramms fefte Stellungen bezogen haben, tann man einen Abgesandten der drei Hauptgruppen des Linkskartells hat Ergebniffe gehabt, deren Abd el Krims nicht ernst nehmen, wenn dieser, wie Tragweite am besten in der außerordentligen Berlegen Kapitän Cunning, die Berpflichtungen, die der Rifführer anzu heit der Regten zum Ausdrud fommt. Heines der Organe des nehmen bereit ist, nur auf die Annahme der religiösen Auto­Tationalen Blod's wagt zu beftreifen, daß die von der Finanzfom- nomie des Sultans beschränkt, im übrigen aber die völlige Unab. miffion des Kartells ausgearbeiteten Finanzentwürfe populärer hängigkeit forbert, die sich unter dem Namen weitgehende Auto find als die von den verschiedenen Finanzministern in den letzten nomie" verbirgt, und wenn er ferner außer anderen Vorteilen für Monaten gemachten Borschläge. Da die Linke fich keine Weihnachts  - die Aufständischen noch die Abtretung von Gebietsteilen verlangt, ferien geftaltete, fondern durcharbeitete, wird es ihr möglich sein, ihre die Frankreich   und Spanien   unter großen Anstrengungen zur Entwürfe früher einzubringen als der Finanzminifter Doumer die feinen. Da Doumer mit seinem Hauptvorschlag, die Umsatzsteuer Sicherung des Friedens beseßen mußten. zu verdoppeln, um das Milliardendefizit zu decken, auf so harten Widerstand gestoßen ist, daß Briand   fich gezwungen gesehen hat, die Enfscheidung noch einmal hinauszufchicben, steht natürlich die Frage im Bordergrund, ob es in der letzten Woche des Jahres 1925 noh einmal zu einer neuen kabinettstrife tommt.

Benn Abd el Krim   etwa 3eit gewinnen will, um sich wieder zu erholen, so darf er nicht vergessen, daß die französische   und die spanische Regierung über ihre Intereffen wachen und nur Be bingungen annehmen werden, die ihrer Lage als Sieger ent sprechen.

London  -

Angora- Moskau  .

Die Mofful- Entscheidung und ihre Folgen.

Eine große weltgeschichtliche Frage zeichnet sich immer deutlicher am politischen Horizont: wird das britische  Imperium das 20. Jahrhundert oder auch nur die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts überdauern? Nach dem Tempo der Entwicklung in den Jahren seit dem Ende des Weltkrieges und besonders seit einem Jahre muß man diese Frage ent­fchieden verneinen. Sogar in den Dominions, die von weiß­raffigen, zumeist aus der Metropole eingewanderten Angel fachsen regiert werden, in Australien  , Neuseeland  , Südafrika  und Kanada  , machen sich Bestrebungen bemerkbar, die eine immer weitergehende Lockerung des Verhältnisses zu Groß­ britannien   erstreben, wenn auch das wirtschaftliche und poli= tische Interesse ihnen gebietet, das gemeinsame Band des britischen   Weltreiches nicht völlig zu zerschneiden. stärker ist die Tendenz derjenigen britischen   Kolonien, die für die Angelsachsen lediglich Ausbeutungsobjekte sind, sich von der britischen   Vormundschaft völlig loszulösen. Das gilt vor allem für Indien   und für Aegypten  .

Es ist besonders das indische Problem, das die englischen Staatsmännern mit Sorge erfüllt. Zeit zwei Jahrhunderten ist es das Bestreben Englands gewesen, den Weg zu dieser reichsten seiner Kolonien strategisch zu sichern. Es hat sich dabei, wie Genosse H. N. Brailsford in einem sehr lehr­reichen Artikel in der neuesten Nummer des ,, New Leader" bemerkt, die verschiedensten Völker zu offenen oder geheimen Gegnern gemacht: die Spanier( wegen Gibraltar  ), die Ita­liener( wegen Malta  ), die Griechen( wegen Zypern), die Aegypter, die Araber( wegen Aden und neuerdings wegen Palästina), die Türken( wegen des Jraks und jetzt außerdem wegen Mossul  ), schließlich noch die Japaner durch die von der ersten Regierung Baldwin eingeleiteten, von der Regierung Macdonald zwar eingestellten, aber von der zweiten Regie­rung Baldwin wieder aufgenommenen Befestigungsarbeiten in Singapore  . Nach allgemeiner Auffassung ist das Interesse Englands an Mofful hauptsächlich eine Petroleumfrage. Aber, wie Brailsford hervorhebt, der Besitz von Mossul   bildet auch eine wichtige strategische Berbesserung der 3rafgrenze, und das Jraftgebiet ist einer von den vielen Schlüsseln auf dem Wege nach Indien  .

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Mag auch nach der Völkerbundsentscheidung die schon deshalb nicht ganz unparteiisch sein kann, als Großbritannien  eine führende Völkerbundmacht ist, während die Türkei   nicht einmal dem Bölkerbund angehört die englische Regierung formell im Recht sein, das Problem ist damit noch lange nicht gelöst. Vorerst ist es noch gar nicht sicher, ob sich die Türkei  kommen aus Angora noch sehr entschlossene friegerische Stim­dem Spruch des Bölkerbundrates fügen wird. Vorläufig men. Im übrigen droht der Mossulfonflikt in indirekter, aber sehr gefährlicher Weise den zunehmenden Riesengegensatz zwischen dem britisch- konservativen und dem russisch- bolsche­wistischen Imperialismus zu verschärfen.

Tschitscherin hat seinen Aufenthalt in Paris   in der vergangenen Woche und seine dortige Begegnung mit dem türkischen Außenminister Außenminister Tewfit Bey benutzt, um einen Neutralitätsvertrag abzuschließen, dessen sofortige Veröffentlichung allein eine ernste Warnung an England bedeutet. Ob neben diesem demonstrativ publi­zierten Neutralitätsvertrag noch ein geheimes Schuh- und Truzbündnis unterzeichnet wurde, ist eine Frage, deren Be­ohne weiteres behaupten, daß dieser Neutralitätsvertrag den weis natürlich unmöglich ist. Mindestens läßt sich aber ersten Schritt zu einem solchen Militärbündnis darstellt. Es ersten Schritt zu einem solchen Militärbündnis darstellt. Es ist nicht das erstemal seit Kriegsende, daß Rußland   und die Türkei   in engere Beziehungen, auch militärischer Art, getreten sind. Schon bei seinem siegreichen Kampf gegen die Griechen, der sich mittelbar gegen England und überhaupt gegen das Sevresdiftat richtete, hatte Mustapha Kemal die moralische Unterstützung Moskaus   und die materielle Hilfe hunderter von russischen Offizieren genossen, die als Instrukteure und Berater. nach Angora entfandt wurden. Später hat fish das Berhältnis Moskau  - Angora zeitweilig erheblich verschlechtert, besonders als sich die Kemal- Regierung gegen bolfchemistische Umtriebe in Ronstantinopel und Angora mit fast russischer Brutalität zur Wehr jetzte. Aber jezt führen die gemeinsamen antibritischen Interessen die beiden Regierungen wieder zu­

einander.

Der uralte englisch   russische Gegensatz ist mit dem Zusammenbruch des 3arenreiches feineswegs ge= mildert worden. Seine Brennpunkte haben sich lediglich ver­schoben. Einst war es der Besiz der Meerengen im Nahen Osten  , der den gefährlichsten Streitpunkt zwischen London  und Petersburg   bildete, wobei die Türken in Rußland   die größere Drohung und, wohl oder übel, in England einen Be schüzer erblickten. Jezt geht es um die wirtschaftliche und politische Vormachtstellung in ganz Afien, um den Besitz Indiens   und den Einfluß in China  . Während der britische  Imperialismus durch das Erwachen der Asiaten zunehmend erschüttert wird, wird der russische Imperialismus durch dieses Erwachen gestärkt, weil er in seiner bolschewistischen Form als Befreier" auftreten fann, während er in seiner zaristi­schen Form als ein noch schlimmerer Unterdrücker denn der britische auf die breiten Massen abschreckend wirkte.

In seinem ,, New Leader"-Aufsatz wirft Brailsford den Konservativen nor, daß sie durch ihre verkehrte Bolitit überall im Often die Bölfer gegen England aufgebrady hätten, indem sie stets Partei für den Adel und die Reiche