Nr. 6943. Jahrg. Ausgabe A nr. 35
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Donnerstag, den 11. Februar 1926
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V. Sch. Paris, 9. Februar.
Paris ist jetzt ganz naturgemäß der Sammelpunkt jener Italiener geworden, die ein freiwilliges Eril lieber auf sich nehmen, als daß sie in ihrem Vaterlande unter der Knute des Faschismus untätig bleiben und schweigen müssen. Wenn auch einzelne Führer der Opposition in der Schweiz oder wie Don Sturzo und Professor Salvemini in London leben, so haben sich doch; die aktivsten Kräfte der italienischen Emigranten nach Frankreich begeben, wo weit über 600 000 Italiener ansässig sind, zum weitaus größten Teil Gegner des Faschismus. Hauptsächlich für sie erscheint jezt seit einigen Tagen unter der Leitung eines linksfatholifchen Journalisten, Donati, und eines sozialistischen Redakteurs, des Genossen Aprato, eine Tageszeitung " Corriere degli Italiani", die ausgezeichnet redigiert ist und sofort eine sehr beträchtliche Auflage erzielt hat. Ihr Verbreitungsgebiet erstreckt sich bereits auf die Schweiz und dürfte demnächst sogar die italienischen Arbeiterkreise er fassen, die in Deutschland leben.
In Paris lebt auch seit einigen Wochen, nachdem er bis her in Zürich anfäffig war, der Mann, der durch seine Vergangenheit von allen Gegnern des Faschismus in Italien und außerhalb Italiens als der gegebene Führer betrachtet und bezeichnet wird: Francesco Nitti . Er selbst lebt sehr zurückgezogen und hält sich absichtlich in Reserve. Er weiß, daß seine Stunde schlagen wird, die Stunde der Befreiung des italienischen Bolkes Dom innerpolitischen Joch. Bor vier Jahren ebnete sein Sturz, durch die Kurzsichtigteit der sozialistischen Magimalisten herbeigeführt, der faschistischen Diktatur die Wege. Heute wird, wenn auch zu spät, dieser Schicksalsschwere Fehler allgemein anerkannt und Nitti ist die Hoffnung aller Gegner des Faschismus. Sein Prestige ist durch die Gewalttätigteiten, die an ihm verübt wurden, als seine Wohnung durch faschistischen Straßenpöbel geplündert wurde, der ihm das Schicksal Matteottis bereiten wollte, nur gewachsen. Es würde nur noch stärker werden, wenn Mussolini die Dummheit begehen würde, das Gesetz gegen die Emigranten auf ihn, den neunmaligen Minister, anzuwenden und ihm, der in den trübften Stunden nach Caporetto den nationalen Widerstand reorganisierte, die italienische Staatsbürgerschaft zu entziehen.
Diesen Mann, dessen Pariser Wohmung in der Nähe des Invalidendoms vorsorglich und zu jeder Stunde von mehreren Schußleuten bewacht wird, da es faschistische Gewalttäter auch in Paris gibt, suchte ich auf. Ich tat es in dem Gefühl, daß es zur Klärung der politischen Atmosphäre hüben und drüben notwendig sei, daß in dieser Stunde der Entfesselung aller Leidenschaften auch die Stimme der italienischen Demokratie, die wahre Stimme Italiens , zum Ausdruck lomme. Und, obwohl Francesco Nitti mir gegenüber betonte, daß er sich grundsäglich und besonders während seines Aufenthaltes in Frankreich zurückhaltung auferlegen müsse, so hatte wohl auch er das Gefühl, daß ihm seine Pflicht dem Friedensgedanken gegenüber gebiete, dennoch zu sprechen. Und so gab er mir für den„ Borwärts" folgende Erklärungen: Für den Frieden zu arbeiten, ist mein größtes Ideal. Gegenwärtig schreitet man auf der Bahn des Friedens vorwärts, gewissen Aeußerlichkeiten zum Trotz; Locarno war ein großer Fortschritt, eine ungeheure Etappe auf dem Wege zum Frieden. Es ist meine Ueberzeugung, daß man niemals den wahren Frieden ohne eine direkte, aufrichtige und herzliche Verständigung zwischen Frankreich und Deutschland erzielen wird. Ist eine solche Verständigung möglich? Ich hoffe es. Ich vermag ihre Bedingungen nicht aufzuzeigen, weil jede Einmischung eines Fremden inopportun sein könnte. Auf den Geist des Friedens fommt es vor allem an. Jede fremde Einmischung, sei es von englischer, amerikanischer oder von anderer Seite, ist von wenig Wert: die unmittelbare Verständigung zwischen Frankreich und Deutschland wird zum Ziele führen. Und im Interesse der euro päischen Zivilisation hoffe ich, daß diese Verständigung zustande
nur
tommt.
Ich bin befrübt, festzustellen, daß zrel Signatarmächte von Locarno , Italien und Deutschland , gegenwärtig Mishelligkeiten auszutragen haben. Italien hat feinerlei nationale oder wirtschaftliche Interessen, die im Widerspruch zu denen Deutschlands stehen. Sogar die Südtiroler Frage ist weniger ernst als behauptet wird. Ich will nicht mitten in dem Konflikt meine Meinung hierzu äußern, aber ich kann dennoch jagen, daß, wenn einerseits Deutschland die Berträge achtet und andererseits Italien eine verföhnliche Politit macht, die Schwierigkeiten sogleich schwinden werden.
Als ich am Ruder war, gab ich dem Gouverneur der neuerworbenen Gebiete Credaro sehr einfache Anweisungen. Ich
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fagte ihm:„ Wenden Sie die italienischen Gesetze an, aber tua Sie zugleich 3hr möglichstes, um nicht das Gefühl der neugewonnenen Bevölkerung zu verlehen!" Und ich habe niemals 3wischenfälle oder Nachleile bedauern müssen. Im Gegenteil, ich entfinne mich jener Zeit, wo ich als Ministerpräsident von den berufenen Bertretern der deutschen Minderheit Versicherungen von Dankbarkeit mir gegenüber und von Loyalität dem italienischen Staate gegenüber erhielt.
In meinem Buch„ Der Friede" habe ich erzählt, wie der österreichische Bundeskanzler Renner, der auf meine Einladung einen offiziellen Besuch in Rom machte, bei seiner Abreise so gerührt war, daß er und feine Begleiter fich mit dem Rufe von mir verabschiede ten: Eslebe Italien !" Ich habe hierzu geschrieben, daß dies das einzigemal in meinem Leben war, wo ich ein Gefühl des Stolzes darüber empfand, an der Spize der Regierung meines Landes zu stehen. Nun, ich muß diese Stelle berichtigen. Dieses Gefühl des Stolzes habe ich auch damals empfunden, als mir die Führer der deutschen Minderheit vom oberen Etschtal ihre Dankbarfeit und Loyalität zum Ausdrud brachten. Ich fann auch hinzu fügen, daß weder der Bundeskanzler Renner noch seine Begleiter bei ihrem Besuch in Rom die Frage Südtirols zu erwähnen brauchten. Ich bin infolgedeffen seft davon überzeugt, daß die Einwohner Südtirols niemals etwas gegen Italien unternehmen werden, wenn man ihnen nur Gerechtigkeit widerfahren läßt. Jtalien ist eins der Länder Europas , deren nationale Bevölkerung am homogensfen ist. Daher könnten feine kleinen flawifchen oder deutschen Minderheiten durchaus mit Wohlwollen behandelt werden, ohne daß dem Nationalgefühl 3taliens dadurch im geringsten Abbruch getan wäre.
Ich hoffe, daß die gegenwärtigen Zwischenfälle, die freund schaftlichen Beziehungen zwischen Italien und Deutschland auf der einen Seite und Frankreich auf der anderen Seite, in feiner Weise trüben werden: denn dies sind die drei Länder, die für die Kultur des europäischen Kontinents am wichtigsten sind.
Es gibt nichts Dümmeres auf der Welt als die deutsche Kulfur zu verhöhnen. Ueber solchen Hohn hat man sich bereits vor mehr als hundert Jahren, zur Zeit der Frau von Sta el, luftig gemacht. Die intellektuellen Leistungen des
Deutschtums stehen in der Geschichte der Zivilisation so hoch da, daß nur Ignoranten sich unterstehen können, eine der großartigsten Erscheinungen des menschlichen Geiftes ins Cächerliche zu ziehen.
Ich dürfte kaum im Verdacht stehen, ein Freund des Faschismus zu sein. Ich halte mich sehr zurück, besonders, seitdem ich im Ausland lebe. Aber gerade deshalb glaube ich befonen zu können, daß ich bezweifeln muß, daß der Faschismus gegenüber der Bevölkerung Südtirols mehr Gewalt anwendet, als gegen feine Widersacher von der italienischen Opposition. Sehen Sie z. B., welche Drohungen gegen mich ausgestoßen werden, obwohl ich mich abseits von den Kämpfen halte; gegen mich, der ich einmal Ministerpräsi dent Italiens und neunmal mitglied einer italie. nischen Regierung gewesen bin; gegen mich, von dem einst einmütig anerkannt wurde, daß ich wesentlich dazu beigetragen habe, mein Vaterland nach dem Zusammenbruch von Caporetto zu retten und dies in einer Stunde, in der manche, die heute meinen Patriotismus zu bezweifeln vorgeben, eher dazu neigten, die Flinte ins Korn zu werfen!
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von Dauer sein wird. Es ist heute Mode, verächtlich von der Demoaber wir werden zur Demokratie zurückkehren. fratie zu sprechen Ich glaube insbesondere, daß, entgegen gewissen Aeußerlichkeiten, Deutschland sich als eine große Demokratie behaupten wird. Ich halte eine monarchistische Restauration in Deutschland für ausgeschlossen. Selbst in Ungarn , wo das monarchistische Gefühl am stärksten war, hat die Sache der Monarchie an Boden verloren und die jüngsten Ereignisse werden nicht dazu beitragen, den Bertretern des monarchistischen Gedankens und der reaktionären Gewalttätigkeit ein stärkeres moralisches Ansehen zu verleihen.
Ich will feineswegs auf innerpolitische Angelegenheiten Deutschlands eingehen, aber ich muß Ihnen schon sagen, daß die Haltung der ehemals regierenden deutschen Fürstenhäuser, ihre maßlosen Entschädigungsanfprüche in einer Zeit, in der Deutschland als Folge des Krieges bittere Not leidet, wahrhaftig standalös sind. Das deutsche Bolk sollte diese Frage, die nur scheinbar rein innerpolitischer Natur ist, auch unter dem Gesichtspunkt des Eindruces be trachten, den sie auf die demokratischen Elemente der ganzen Welt hervorruft.
Arbeilen wir für den Frieden! Schüren wir nicht unnötigerweise, fei es in der Presse, sei es im Parlament, die bösen Leidenschaften, die aus der Kriegsjelt flammen. Bersuchen wir immer mehr Ber trauen zueinander zu gewinnen. Die Zukunft des Friedens liegt in der internationalen Demokratie und diese wird siegen allen vorübergehenden und örtlichen Rüdfchlägen zum Troh!"
Diese Erklärungen des italienischen Staatsmannes werden nicht nur im deutschen Bolt, sondern sicherlich auch darüber hinaus den stärksten widerhall finden. Sie beweisen, woran wir niemals gezweifelt haben, daß es auch ein anderes Italien gibt als jenes, das durch den Mund von Mussolini und Genossen die Welt mit wildem Kriegslärm, hysterischen Haßgefängen und blöden Schimpfereien era füllt. In dieser Stunde gehörte freilich Mut dazu, die Stimme der Bernunft und des Friedens in diefer unpar teiischen Art ertönen zu lassen. Diesen Mut hat Nitti gehabt, und dafür wird ihm nicht nur die deutsche, sondern ebenscsehr die italienische Demokratie Dank zollen.
Reinholds Finanzprogramm.
Bedenkliche Methoden.
Die Einführungsrede des neuen Reichsfinanzministers Dr. Reinhold hat im Reichstag einen günstigen Eindruck hervorgerufen. Sie war geschickt im Aufbau, lebendig in der Darstellung und wurde frisch vorgetragen, so daß der Reichstag den Darlegungen mit gespanntester Aufmerksamkeit folgte. Sie trugen auch unverkennbar eine stark persönliche Note, so daß der Eindruck bestätigt erscheint, daß der neue Finanzminister seine Wege selbständig bahnt und sich bei seinen Entscheidungen nicht beeinflussen läßt durch die Erbschaft, die die Rechtsregierung gerade auf steuerlichem Gebiet unter der Führung des Herrn v. Schlieben hinterIcffen hat.
Die günstige Aufnahme der Rede ist zu einem erheblichen Teil gerade auf diese Tatsache zurückzuführen. In den vielen Finanzdebatten des letzten Jahres hat die Rechtsregierung immer nur die eine Tonart spielen lassen: es ist kein Geld vorhanden, soziale Ausgaben dürfen nicht vorgenommen werden, Steuererleichterungen fönnen nicht eintreten. Herr Reinhold hat das Problem anders ange= pact. Ausgehend von der Wirtschaftskrise, deren Ernst er nachdrücklich betonte, will er mit einer aktiven Finanzpolitik zu ihrer Ueberwindung beitragen, um so Deutschland die Erfüllung aller seiner Verpflichtungen zu ermöglichen und seinem Volk eine lebenswürdige Existenz zu verschoffen.
Ich hoffe daher, daß man in Deutschland die Bedeutung gewisser Kundgebungen nicht überschäßen wird, denn vor allem gilt es, gute Beziehungen zwischen Deutschland und Stalien herzustellen und die Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland immer enger zu gestalten. Andererseits wird man in Deutschland gut fun, keine falfchen oder übertriebenen Nachrichten über das, was in Südtirol vor sich geht, zu veröffentlichen. Leider tragen die 3ensur und das Regime, dem die italienische Bresse unterworfen ist, dazu bei, solchen Nachrichten in Deutschland Glauben Ob allerdings die von Herrn Reinhold in Aussicht gezu verleihen, die entweder jeder Grundlage entbehren oder maßlos aufgebauscht sind. Wenn ich dies betone, jo können Sie es mir um jo nommenen Maßnahmen dieses Ziel erreichen werden, vor mehr glauben, als ich doch wirklich kein Freund des Faschismus bin. allem, ob das auf dem fürzesten Wege geschieht, st Der Eintritt Deutschlands in den Bölkerbund ist sehr zweifelhaft. Er geht von der Annahme aus, eine sehr wichtige Taffache: um sich zu verständigen, muß man vor daß die Belastung der Wirtschaft mit Steuern eine der wichallem miteinander zu reden. Nichts ist schädlicher als die Jfolierung. tigsten Ursachen der Wirtschaftskrise sei. Er will eine erDer Bölkerbund wird am allerbesten dazu berufen sein, an der hebliche Senfung der Steuerlaften vornehmen, der eine EinAnnäherung zwischen den Nationen und an der Beile- schränkung der öffentlichen Ausgaben folgen soll. Man kann gung derjenigen Streitigteiten mitzuwirken, die aber feineswegs behaupten, daß die Steuerlaften, insbeson gegenwärtig am gefährlichsten für den wirklichen dere die Reichssteuern, um die es sich hier zunächst handelt, Frieden sind. die Hauptursache der Wirtschaftskrise sind. Sie sind Ende des Jahres 1925, als die fatastrophale 3uspitzung der Wirtschaftsfrise begann, bereits erheblich ermäßigt worden. Sie.
Ich glaube nicht, daß die Welle der Reaktion, die fich feht in fast allen Ländern unter den verschiedensten Formen bemerkbar macht,