r. 89+43. Jebrgang 1. Beilage des Vorwärts
43.Jahrgang
Dienstag, 23. Februar 1926
Für den Verkehr der Stadt- und Ringbahn find 38 Bahnhöfe. vorhanden. Außerdem ist durch die Schaffung der Gemeinde Groß Berlin die Zahl von den früher zu den Vororten zu zählenden Bahnhöfen um etwa 50 erhöht worden, so daß das jetzige Berlin insgesamt etwa 100 Bahnhöfe enthält. Auf den Gleisen der Stadt bahn ( Lokalverkehr) eilen täglich in jeder Richtung etwa 350 Züge durch die Stadt. Ueber die Ringbahn verlehren täglich auf beiden Seiten je etwa 150 Züge, dazu kommen dann noch die Vorortzüge deren Zahl mit täglich etwa 450 ankommenden und abfahrenden als nicht zu niedrig angesehen werden kann.
Die Güterbahnhöfe.
Entsprechend der Stellung Berlins als Zentralpunkt für Indu strie und Handel hat es einen gewaltigen Güterverkehr. Jeder Eisenbahnzug durchfährt, bevor er Berlin erreicht, riesige Güterbahnhöfe. Nicht nur jeder der sogenannten Sachbahnhöfe hat seinen besonderen Güterbahnhof, sondern auch auf den Ringbahnstreden am Rande der Stadt sind solche in gewaltiger Ausdehnung au
Mit der Errichtung des Fremdenverkehrbureaus in der Friedrich- Ebert- Straße hat sich die Stadt Berlin einen neuen Wirkungsfreis geschaffen. Die unleugbare Zunahme des Fremdenverfehrs lenft aber unwillkürlich den Blick auf eine Tatsache, die den Berliner Einwohner weniger interessiert, an der aber der auswärtige Befucher oder der durchreisende Fremde stärkeres Interesse nimmt. Für jede Himmelsrichtung haben wir einen besonderen Fernbahnhof. Die Reichshauptstadt zeigt damit, daß ihre Berkehrsverhältnisse auf dem Gebiete des Eisenbahnwesens nicht gerade günstig liegen. Was aber in anderen Städten mit der Anlage der Zentralbahnhöfe möglich war, hätte in Berlin erst recht möglich sein müssen. Jetzt haben wir den Zustand, daß man z. B. Köln nicht nur mit den Fernzügen der Stadtbahn, sondern auch vom Botsdamer und Lehrter Bahnhof erreichen kann. Die Strecken einiger Bahnen, die heute in Berlin verschiedene Zielpunkte haben, laufen aber so dicht nebeneinander her, daß sie sehr gut zu einem Abfahrtsbahnhof zusammengeschlossen werden könnten. Unter den gegenwärtigen Verhältnissen muß der Durchreifende immer noch den mühevollen Weg von einem Bahnhof zum anderen auf sich nehmen, und es tann passieren, daß durch das langsame Vorwärtstommen der Straßenbahn der Anschlußzug verpaßt wird. Früher hatte man die stille Hoffnung, daß das Tempelhofer Feld doch einmal den großen Berliner Zentralbahnhof beherbergen würde, die fort. fchreitende Bebauung mit Bohnhäusern und die Anlage des Flughafens haben aber dieser Hoffnung ein Ende bereitet. Berlin wird also weiterhin die Stadt der zehn Fernbahnhöfe bleiben.
Die Fernbahnhöfe.
Die Bahnhöfe find im Rahmen ihrer näheren, bisweilen auch ineiteren Umgebung tonangebend für das ganze Straßenbild. Die Straßen in ihrer Nähe sind nach den Orten benannt, die von den
17]
Bahnhöfen erreicht werden. Die zahlreichen Hotels bei den Bahnhöfen haben ihre Namen dem gleichen Register entnommen. Auch der Fuhrwerfsverkehr deutet zu gewissen Tageszeiten auf die Nähe eines Bahnhofes hin. Da Berlin täglich etwa 150 Fernzüge verlassen und die gleiche Zahl auch wieder hier eintrifft, ist dieses leicht zu erflären. In den Stunden der hauptsächlichen Abfahrts- und AnAutos bei weitem höher als zu den übrigen Tageszeiten. Die funftszeiten ist die Zahl der die angrenzenden Straßen durcheilenden Straßenbahnen sind mit Reifenden, die Koffer, Rörbe und Taschen mit sich führen, so start besetzt, daß sie für die übrigen Fahrgäste in den Zeiten des Berufsverkehrs leider nur zu häufig sehr lästig empfunden werden, um so mehr, als die Straßenbahngesellschaft erst in der letzten Zeit zwei Linien eingerichtet hat, die die Bahnhöfe untereinander verbinden. In den meisten Städten empfängt den ankommenden Reisenden auf dem Bahnhof ein Bild, das häufig maßgebend für den Gesamteindruck von der ganzen Stadt ist. Neben den Regel vor dem Bahnhof einen großen freien Blah. In Berlin hat schönen, weiten und hellen Bahnhofshallen sieht der Reisende in der der Ankommende dagegen fast überall nicht nur auf dem Bahnhof selbst, sondern vor allem vor dem Bahnhof wahrlich nicht das schönste Bild. Der Schlesische Bahnhof wird sich ja nun bald, wenig stens zur Hälfte, im neuen Gewande präsentieren; bisher wirfte er aber in seiner düstern Schmußigkeit ziemlich abschreckend. Auch die umliegenden Straßen wirfen nicht gerade erhebend. Ein einigermaßen annehmbares Bild bietet sich eigentlich mir am Botsdamer und Anhalter Bahnhof , allenfalls auch noch am Lehrter. Die beiden ersten architektonisch die schönsten Berliner Bahnhöfe wirken auch in ihrer von den übrigen wohltuend abstechenden Sauberkeit etwas günstiger. Auch der Eindruck beim Berlassen dieser Bahnhöfe ist für die Stadt nicht der ungünstigste. Dem vom Westen Antommenden bietet sich dagegen auf dem Fernbahnhof Charlottenburg das Bild eines als Provisorium hergestellten Provinzbahnhofes. Der neue Bahnhof Friedrichstraße macht eine lobenswerte Ausnahme, die sich aber nur auf den Bahnhof selbst beschränkt.
M
Bor allem forgte er dafür, daß Maschas Vater eine größere Wohnung bezog, daß Mascha selbst eine reiche Bildung betam und viel ausging. Am Sabbat und am Sonntag fam Onkel Mofes zu Aaron Melnik zu Besuch. Zur größten Berwunde rung aller feiner Leute begann Onkel Moses in der letzten Zeit eitel zu werden. Je größer und reifer Mascha wurde, defto forgfältiger färbte sich Onkel Moses das Haar; er rasierte fich peinlich fauber, tleidefe sich jugendlich und begann sogar Barfümduft zu verbreiten; all dies hatte bisher niemand an Ontel Moses bemerkt. Die Qual, welche es Onfel Moses bereitete, wieber jung zu werden, rief bei allen, die es sahen, Mitleid für ihn hervor. Hinter seinem Rüden begann man über ihn zu lachen und zu spotten, was früher nie vorgefommen mar. In Onfel Moses' Gegenwart freilich herrschte die alte Ehrfurcht, und man tat, als merte man nichts.
Ontel Moses aber fah gar nichts. Er lebte ein zweites Leben, ein Phantasieleben. Es war, als hätte Onkel Mofes fein Leben verkehrt gelebt. In seiner Jugend hatte er sich nur mit Geschäften befaßt, und sein Herz war tot gewesen wie das eines alten Mannes. In feinem Alter aber wurde Onfel Moses jung und begann erst jetzt seine Jugend zu leben, die er versäumt hatte. Onkel Moses lebte gar nicht mehr für sein Geschäft, für das Ausschußtuch und für die billige Konfektion. Er lebte für ein junges Mädchen, das aufwuchs und sich vom Rinde zur Frau entwickelte. Er beobachtete jede Veränderung, die mit Mascha vorging... Wenn er sie nach einer Woche wiederfah, betrachtete er sie genau und glaubte zu erkennen, daß ihre Haare während dieser Woche dichter geworden, ihre Zähne schärfer und fester waren. Er freute sich zu sehen, wie fich ihre Figur entwickelte, ihr Wuchs emporschoß und ihr Körper fich füllte. An jedem Sabbat bemerkte er etwas Neues an ihr, entdeckte an ihr einen neuen Reiz, der vorher nicht zu
fehen gewesen war.
Onkel Moses wurde besser zu seinen Leuten. Seine Augen wurden flarer und traten aus dem wulstigen Fett feines Gefichtes hervor. Er lernte lächeln, und menn einmal jemand feinen Pflichten nicht ganz gehörig nachfam, so lächelte Onkel Moses statt loszufahren. Niemand begriff die Beränderung, die in ihm vorging. Aber alle fühlten und spürten, Die Ursache biefer Aenderung sei Mafcha, und sie nuzten auch Mascha zu ihrem Vorteil aus. So wie einmal die Juden Esther
-
miger
dazu benutzt hatten, um bei Ahaschwerosch eine gute Behand lung zu erlangen, so nugten die Kusminer Landsleute Mascha bei Onkel Moses. Wenn einer eine Schiffstarte für seine Angehörigen brauchte, so wurde Mascha zu Onfel Moses geschickt, um zu bitten. Wollte einer seine Tochter verheiraten, brauchte er Goldplomben oder mußte er fich operieren laffen -um alles wurde Mascha zum Onkel geschickt. Mascha schlug der Onkel nichts ab. Wenn sie vor ihn hintrat, wurden seine Augen heller, das Fett seines Gesichts versteckte sich und blieb dort, wo es hingehörte. Sein ganzes Aussehen bekam etwas Menschliches, und fein Gesicht, das sonst unverständliche Maste war, lag offen und jedermann verständlich da... Da Mascha bei Onkel Moses alles ausrichten fonnte wie einſt Eſther bei Ahaschwerosch, gaben ihr die Kusminer auch den Beinamen Esther ; den Onkel Moses nannten sie Ahaschwerosch und Aaron Meinit- Mordechai....
3wei Tote bereiteten sich zur Reise in die andere Welt vor. Der eine war Onkel Moses' Bater, der alte Meinit, der andere Onkel Berl. Beide bereiteten sich zur Reise nach Rusmin vor, um dort zu sterben. Onkel Bert hatte nichts auf dieser Welt zu tun. Er fühlte, daß der Palast, welchen er sich in der anderen Welt erbaut hatte, für ihn fertig stand, und diese Welt ihn nicht mehr wollte. Er wurde frant, spuckte Blut und fonnte nicht mehr arbeiten. Seine Roftgänger" hatte er verloren die Kinder hatten geheiratet. Onkel Berl und feine Frau bemerkten eines Tages, daß sie ohne Kostgänger" waren und daß eigentlich niemand da war, um das„ Haus" zu erhalten.
-
Onkel Berl wollte unbedingt in die Heimat reisen, seine lezten Tage im Beth- Hamidrasch von Kusmin verbringen, Pfalme auffagen und auf dem Friedhof von Kusmin begraben
werden.
Der architektonisch schöne Anhalter Bahnhof . finden. Dazu kommen noch die großen Verschiebebahnhöfe wie Wuftermark und Seddin. Die Zahl der Güterzüge, die täglich in und um Berlin verkehren, ist gewaltig. Täglich fommen etwa 120 Ferngüterzüge an und 120 fahren ab. Der Berfehr zur Berbindung der weiter draußen liegenden Berschiebebahnhöfe mit den Innenbahnhöfen sowie zur Berbindung dieser Bahnhöfe untereinander be läuft sich auf etwa 300 Züge pro Lag und Richtung.
*
Der gesamte Eisenbahnverkehr innerhalb Berlins und in feiner allernächsten Umgebung erreicht also jeden Tag die respektable Höhe Don rund 1500 3ügen in jeder Richtung, also etwa ein Zug in jeder Minute. Diese Zahl ist ohne Ueberhebung als gewaltig zu bezeichnen. Und wenn berücksichtigt wird, daß sich dieser große Betrieb auf einem verhältnismäßig furzen Gleiseweg abwickelt, fann man die Bedeutung Berlins als Zentralpunkt des deutschen Eisenbahnverkehrs ermessen. Im Rahmen des ganzen Eisenbahn direktionsbezirks Berlin liegen etwa nur 800 Kilometer Gleise, davon etwa 500 für den Stadt-, Ring- und Vorortverkehr. Die Abstell gleise auf den Güterbahnhöfen betragen in ihrer Gesamtlänge aller dings noch ein Bielfaches. Sie sind aber nicht zu den eigentlichen Verkehrswegen zu zählen.
von ihnen Abschied, fie meinten wie bei einem Begräbnis, Die Landsleute baten beide um Verzeihung für Unrecht, das fie a nihnen begangen, wie man es bei Verstorbenen tut.
Was ist es denn für ein Unterschied zwischen uns? Wir alle werden heimfahren, alle werden wir dorthin fahren, wohin fie fahren!" fo rief ein Kusminer, ein alter Mann, der auch nach dem Friedhof von Kusmin Sehnsucht hatte. Reb Berl, grüßet alle dort!"
grüßet sie
laut.
Wenn ihr bort meine Leute sehet, Reb Mordechai , fo Leget Fürbitte für uns ein," rief eine Frau und schluchzte
Die Toten" selbst waren sehr lustig. Sie fühlten gar nicht, daß sie sterben fuhren. Ontel Berls Augen leuchteten, und er fuhr sich zufrieden durch den Bart. Sein Aussehen war das eines Menschen, der daran ist, ein Glück zu erlangen, das er sein ganzes Leben lang erwartet hat, eines Menschen, welcher jetzt den Lohn für die Mühe seines ganzen Lebens empfängt. Ruhe und stille Heiterkeit sprachen aus allen feinen Bewegungen.
Auch der alte Melnit mar lustig, er trant jedem zu und
wizelte:
,, Wenn ich deinen Vater, den alten Chaim, drüben in der anderen Welt treffe, wird er mich natürlich fragen: Was treibt eigentlich mein Sohn in Amerika? Ich werde ihm antworten: Dein Sohn frißt Schweinefleisch und entweiht den Sabbat, deshalb wirft dich dein Grab immer wieder heraus. Dann wird er schon über dich tommen und dich bei Nacht erwürgen. Du wirst schon noch dein Teil bekommeno, wirst du noch dein Teil bekommen!" Und alle Landsleute lachten herzlich über den„ Toten", der Wize machte.
*
Seine Frau Genendel aber sagte, ihr Kusmin " sei dort, wo ihre Kinder feien, und wenn es nach 120 Jahre so weit Geleite zu geben; es sah aus, wie ein wirkliches lentes Geleite. Die Landsleute tamen zum Schiff, um den„ Toten" das wäre, da wolle fie bort liegen, wo ihre Kinder wären. Die Kinder weinten, fielen dem Bater um den Hals und baten So schieden denn Mann und Frau noch bei Lebzeiten ihn um Verzeihung: Berl tehrte nach Kusmin zurüd, um zu sterben, und seine Bater, vergib uns, wenn wir etwa nicht recht gegen bich Frau blieb in Amerika . gehandelt haben.
-
Ontel
Den zwei„ Toten" zu Ehren versammelten sich sämtliche Kusminer Landsleute am Abend nor Abgang des Schiffes bei Onkel Berl, um von den Toten" Abschied zu nehmen. Die amei Toten", der alte Melnik und Onkel Berl, faßen am Tisch obenan und tranten den Landsleuten Lechajim" zu; ihre Familien, Töchter, Schwiegersöhne und Entel nahmen