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Abendausgabe

Nr. 413 44. Jahrgang Ausgabe B Nr. 204

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Vorwärts

Berliner   Volksblaff

10 Pfennig

Donnerstag

1. September 1927

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Zentralorgan der Sozialdemokratifchen Partei Deutschlands  

In Potsdam   wird demonstriert!

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Die schwarzweißrote Gegendemonstration verboten! Eine Falschmeldung des WTB.- beabsichtigter Bluff?

In Potsdam   findet heute abend die Demonstration des Reichs banners gegen das skandalöse Verhalten des Potsdamer Magistrats in der Flaggenfrage um 8 Uhr auf dem Alten Markt statt. Die von den schwarzweißroten Verbänden eine halbe Stunde früher auf dem gleichen Platz einberufene Gegen demonstration ist vom Potsdamer   Polizeipräsidenten verboten worden. Hierüber ver­breitete das WTB. in den Mittagsstunden folgende Meldung, die in wesentlichen Teilen falsch und irreführend ist:

Potsdam  , 1. September.

Die von der Deutschnationalen Volkspartei  , der Stahlhelm­Ortsgruppe und den Vereinigten Baterländischen Verbänden in Botsdam geplante Gegendemonstration gegen die für Donnerstag abend auf dem Alten Markt angekündigte Reichsbannerversamm lung gegen die Haltung des Oberbürgermeisters Rauscher in der Flaggenfrage ist vom Polizeipräsidium verboten worden. Im Polizeipräsidium wird jedoch erwogen, auch die Reichsbannerversammlung zu verbieten, da es aller Voraussicht nach zu Störungen fommen werde, weil die Demonstration unter freiem Himmel stattfindet und eine vorherige Kontrolle der Teilnehmer unmöglich ist. Das Potsdamer Polizei präsidium steht deswegen mit der Regierung in Verbindung und wird nach deren Weisung handeln.

daß

Aus dem preußischen Innenministerium erfahren wir hierzu,

ein Verbot der Reichsbannerverfammlung niemals auch nur in Er­wägung gezogen worden ist.

Auch der Potsdamer   Polizeipräsident hat von vornherein den Giandpunkt eingenommen, daß die zuerst angesagte Rundgebung des Reichsbanners zugelassen werden müsse. Er hat auch in diesem Sinne an die Potsdamer   Regierung berichtet, die seinen Standpunkt vollkommen geteilt hat. Ebenso haben bereits am heu­tigen Morgen Verhandlungen zwischen dem Potsdamer   Polizeipräs fidium und den dortigen Führern des Reichsbanners stattgefunden mit dem Ziele, eine ordnungsgemäße Durchführung der Reichs­bannerfundgebung zu sichern.

Das preußische Innenministerium steht bekanntlich seit jeher auf dem Standpunkt, daß die verfassungsmäßig gewährleistete Bersamm­lungsfreiheit von der Polizei unbedingt gesichert und geschützt werden müsse. Aus diesem Gesichtspunkt fönnen wohl Gegendemonstrationen verboten werden, wenn sie die Gefahr einer Störung oder Berhinde der ursprünglich angesetzten Demonstration in sich bergen, nicht

rung

Polen  - Sowjetunion  . Friedenspakt und Handelsvertrag.

Mostau, 1. September.

Der polnische Gesandte in Moskau   hat am 26. Auguft einc längere Aussprache mit Tschitscherin über den Friedenspakt zwischen Moskau   und Warschau   gehabt. Eine amtliche Mitteilung besagt, daß die 3 wiftigteiten, die nach der Ermordung des russischen Gesandten Wojtow in Warschau   zwischen den beiden Staaten auszubrechen schienen, auf eine für beide Teile befriedigende Weise beigelegt seien. Infolgedeffen sehe das Moskauer   Kom­miffariat des Auswärtigen die Angelegenheit als erledigt an.

Die Verhandlungen wegen des Abschlusses eines Handels­vertrages zwischen Polen   und Sowjetrußland ebenso wie die­jenigen über einen Friedenspatt würden in nächster Zeit wieder aufgenommen.

Kämpfe um Danzig  . Beginn der Genfer   Ratstagung.

V. Sch. Genf  , 1. September.  ( Eigenbericht.) Die Tagung des Rates begann heute vormittag unter dem Vorsitz des chilenischen Vertreters Villegas mit einer vertrau= lichen Sizung, die sich anderthalb Stunden lang hinzog. Neben den laufenden Geschäften wurde nämlich auch über gewisse Danziger Fragen verhandelt, wobei Senatspräsident Sahm und der polnische Regierungskommissar Strasburger sofort zugezogen wurden. Eine Frage betraf das den polnischen Kriegs­schiffen seinerzeit provisorisch zuerkannte Recht, bis zum Bau eines neuen polnischen Hafens den Danziger Hafen   aufzu suchen und dort zu überwintern. Nachdem nun der Hafen von Gdingen   genügend ausgebaut ist, beantragt Danzig   die Auf­hebung dieses provisorischen Rechtes. Polen   versuchte, diesen Danziger Antrag mit juristischen Argumenten von der Tagesord­nung abzusetzen, drang aber damit nicht durch. Die Debatte wurde rein juristisch geführt und der Kern der Sache bisher nicht berührt. Ebenso rein juristisch war die Debatte über den nachträglich von Danzig   eingebrachten Antrag auf Aufhebung des Ratsbeschluffes vom 14. März 1924 in Sachen der Westerplatte. Auch hier ftüßt sich Danzig   auf die neue Tatsache, daß der jetzige Hafen von Gdingen   genügend ausgebaut sei, um polnische Munitions­schiffe zu löschen. Es entstand eine längere Debatte über die Frage, ob und inwieweit der Rat seine früheren Entscheidungen aufheben tönne. Es wurde beschlossen, zunächst ein Komitee von Juristen einzusetzen, um darüber ein Gutachten abzugeben. Bon dessen Entscheidung wird es dann abhängen, ob der Danziger An­trag mit auf die Tagesordnung gefeßt wird. In dieses Juristen­fomitee tann jeder im Völkerbundsrat vertretene Staat einen Delegierten entsenden.

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aber kann verboten werden die ursprünglich angesetzte Demonstra tion, wenn ihre Veranstaltung den gesetzlichen Bestimmungen ent­spricht. Diesen flaren Standpunkt hat das Innenministerium bei mehreren Gelegenheiten, so z. B. bei der Stahlhelmdemonstration am 8. Mai, durchgeführt und nimmt ihn auch selbstverständlich gegen

über dem Reichsbanner ein.

Der Standpunkt der preußischen Verwaltungsbehörden in dieser Sache ist also völlig forreft. Um so mehr muß man fragen, aus welcher Quelle das WIB. seine halbamtlich erscheinende Falschmeldung geschöpft hat.

Offenbar sind hier irgendwelche reaktionären Kräfte am Werke ge­wesen, die durch die falsche Mitteilung, daß ein Verbot der Reichs bannerversammlung erwogen werde, vom Besuch der Kundgebung haben abhalten wollen. Eine Untersuchung dieser dunklen An­gelegenheit erscheint dringend notwendig.

Wie der Gauvorstand des Reichsbanners uns mitteilt, besteht nach dem Verbot der Gegenfundgebung der Rechtsorganisationen für die Berliner   Kameraden des Reichsbanners feine besondere Ber­anlassung, sich an der heutigen Kundgebung des Potsdamer Orts­vereins zu beteiligen.

München   boykottiert die Reichsfarben.

Was tun die Reichsbehörden?

Am Sonnabend follen im Münchener   Rathaus amerikanische Journalisten feierlich empfangen werden. Ein Antrag der sozial demokratischen Fraktion, aus diesem Anlaß neben den bayerischen und den Münchener   Farben auch die des Deutschen Reiches zu hissen, ist, wie schon berichtet, vom Stadtrat abgelehnt worden.

Die sozialdemokratische und die demokratische Rathausfraktion werden diese Démonstration gegen die Farben des Reiches damit beantworten, daß sie der Festlichkeit fernbleiben werden. Was werden die Bertreter der Reichsbehörden in München  , Post, Finanzverwaltung, Bahn, in dieser Lage tun? Was wird die Reichsregierung in Berlin   tun, um der gegen die verfassungs­mäßigen Farben des Reiches gerichteten Demonstration des Mündener Stadtrats würdig zu begegnen?

Eine Warschauer Erläuterung. Entschuldigung für die neneste Zollverordnung.

Warschau  , 1. September.  ( Eigenbericht.) Als Antwort auf die deutschen   Pressestimmen über die Einfüh­rung der Magimalzölle in Polen   und wohl auch in Beantwortung der noch vor der legten Berordnung erfolgten Schritte des deutschen  Geschäftsträgers in Warschau   läßt die polnische Regierung halb­offiziell mitteilen:

Die Verordnung über die Einführung der Maximalzölle ist in formeller Beziehung fein Novum, sondern stellt lediglich die Ausführungsbestimmungen zu einer im Jahre 1924 erlassenen Berordnung dar. Sachlich bedeutet die Einfüh­rung der Marimalzölle teine Aenderung der polnischen Handels­politik und trifft auch keineswegs irgendeinen Staat besonders, sondern besigt einen allgemeinen Charakter. Diejenigen Zölle, die in der neuen Verordnung für bisher 30llfreie Baren festgesetzt wurden, kommen für die deutsche Ausfuhr nach Bolen nicht in Frage. Im übrigen ermögliche der Zeitpunkt des Inkrafttretens der Verordnung Ende Dezember dieses Jahres eine Regelung der Handelsbeziehungen mit Polen   für die inter­effierten Staaten."

Auch diese Erklärung schafft die Tatsache nicht aus der Welt, daß fich die 30llerhöhungen Polens   tatsächlich, wenn auch nicht formell, in der Hauptsache gegen Deutschland   richten und als ein Druckmittel für die Verhandlungen mit Deutschland   wirken

follen.

Die Mandatsverteilung in Memel  . Die Litauer haben 4, die Sozialdemokraten 3 von 29 Sißen.

Memel  , 1. September.  , Gegen 12 Uhr mittags lagen die Ergebnisse aus allen Stimm­bezirken vor, mit Ausnahme eines fleinen ländlichen Bezirks, der für die Beurteilung nicht ins Gewicht fällt. Nach der bisherigen Zusammenstellung sind rund 54 500 Stimmen abgegeben worden. Die Mandatsverteilung dürfte sich voraussichtlich folgender­maßen gestalten: Bolts partei 10( bisher 11), Landwirt schaftspartei 10( 11), Sozialdemofraten 3( 5), Rom  munisten 2( 0), Großlitauer 4( 2), zufammen 29 Mandate.

Zollangleichung in Amerika  . Kanadische Zollbeamte in den Vereinigten Staaten  . Washington  , 1. September. Kanada   entfendet eine Anzahl von Zollbeamten in die Zollver­maltung der Vereinigten Staaten  . Sie sollen den Apparat der Zoll­verwaltung Ameritas tennenlernen.

Das Doppelgesicht Amerikas  .

Imperialismus und Pazifismus in den Vereinigten Staaten  .

Der Fall Sacco- Vanzetti   hat Amerikas   doppeltes Gesicht auf dem Gebiete der inneren Politik gezeigt. Auf der einen Seite fah Europa   die brutale Willfür einer autoritätslüſternen Richtertaste, die zwei unschuldige Anarchisten ihrer Gesinnung wegen fapitalistischen Besiginteressen zum Opfer bringt; auf der anderen Seite sehen wir eine flammende Massen­bewegung sich an dem Geiste der Gerechtigkeit entzünden und einen jahrelangen leidenschaftlichen Kampf gegen den Justiz­terror führen. Das gleiche doppelte, brutale und humane Antlitz zeigen die Vereinigten Staaten   in ihrer auswärtigen Politik. Während in Genf   die vom Präsidenten Coolidge   ein­berufene Abrüstungskonferenz von drei Seemächten sich fruchtlos um ihre Aufgaben bemühte, setzte das amerikanische  Militär seine Frieden und Ordnung" schaffende Tätigkeit in Nicaragua   fort und richtete dabei ein furchtbares Blutbad an, indem mehrere Hundert von Nicaraguanern, die für die Unabhängigkeit ihres Landes kämpften, von amerikanischen  Flugzeugen aus erschossen wurden. Es liegt jedoch auch hier nicht einfach so, daß die Vereinigten Staaten   lediglich eine brutale Gewaltpolitik durch pharisäische Phrasen zu be= schönigen suchten, und nur deswegen um so lauter den Imperialismus verurteilen und den Pazifismus predigen, j imperialistischer und militaristischer fie in ihrer Politik auf treten. Wenn man die amerikanische   Außenpolitik schon au eine Formel bringen will, so ist es richtiger, von ihrem Doppelgesicht, vom 3usammenwirten verschiede= ner und gegensäglicher Tendenzen zu sprechen. Der Pazifismus eines Coolidge   ist nicht weniger echt, als die imperialistischen Gelüste, auf deren Konto die zum Himmel schreienden Taten der amerikanischen   Soldaten in Nicaragua  zu buchen sind.

Die pazifistischen Bestrebungen sind in der Vereinigten Staaten   sehr stark. Die pazifistische Propaganda, von mächtigen Organisationen mit großer Energie betrieben, findet Anklang in den breiten Schichten der Bevölkerung, die feine Lust haben, noch einmal in einen Krieg zu ziehen. Im Bergleich dazu, was alles die europäischen Bölker, insbeson dere wir Deutschen  , im Kriege und nach dem Kriege erlitten und verloren haben, scheint es uns, daß die Amerikaner über­haupt keine Verluste hatten, vielmehr haben sie sicherlich ein gutes Geschäft gemacht. Die Amerikaner, d. h. die Massen der amerikanischen   Bevölkerung, haben keine Gelegenheit, die Zustände ihres Landes mit den europäischen   zu vergleichen, sie sehen nicht die unzähligen Gräber Europas  , die zahllosen Krüppel, die erschöpften Organisationen, ruinierten Eristenzen und alle die Wunden am wirtschaftlichen und sozialen Körper der europäischen   Völker. Ohne Veranlassung zu haben, sich damit zu trösten, daß es den anderen viel schlimmer ging und geht, betrachten sich diejenigen, die nach dem Kriege unter der furchtbaren Krise gelitten haben, vor allem die Farmer, deren Lage auf die Dauer verschlechtert zu sein scheint, als Opfer des Krieges. Für jene aber, die sich des Wohlstandes er­freuen, bedeutet der zufünftige Krieg eine Bedrohung ihrer Nach dem Ruhe und des Gleichgewichts ihres Daseins. Kriege sehnten sie sich, erschreckt durch die allgemeine Er­schütterung, durch das drohende Gespenst sozialer Kämpfe, nach dem Normalzustand", jetzt wünschen sie diesen wieder­gewonnenen Normalzustand" zu bewahren. Dazu kommt, daß die amerikanische   Bevölkerung sich steuerlich über­last et fühlt. Wir hören von den riesengroßen Ueberschüssen des amerikanischen   Budgets. Die Amerikaner vergleichen das, was sie jezt zahlen müssen, mit dem, was sie früher zahlten. Im letzten Finanzjahr hat die Bundesregierung rund 17,3 Milliarden Mark an Einnahmen bezogen und 14,7 Milliarden ausgegeben; im Jahre 1913-1914 waren Einnahmen und Ausgaben ungefähr gleich hoch aber nur rund 3 Milliarden Marf. Sparsamkeit in den Staats­finanzen zwecks Herabsetzung der Steuern, das in die populärste Forderung, und die pazifistische Politik wird mit der Sparsamkeit identifiziert: Pazifismus und Spar­famte it, so lautet das offizielle Programm von Coolidge  .

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Demgegenüber machen sich aber auch andere Strömungen geltend. Bon größter Bedeutung für die Orientierung der amerikanischen   Außenpolitik ist die Tatsache, daß Amerika  jetzt zum größten Kapitalausfuhrland der Welt geworden ist. leber 50 Milliarden Mark sind bereits im Auslande investiert ( Kriegsschulden nicht eingerechnet), weit über 3 Milliarden bezieht Amerika   jährlich an Zinsen. Davon profitieren nicht nur die Großkapitalisten, sondern auch viele Hundert­tausende, die in diesen Anleihen ihre Ersparnisse angelegt haben. So wurde die japanische Anleihe( 150 Mill. Dollar) im Februar 1924 von 38 412 Personen gezeichnet, die deutsche Reparationsanleihe von 34 440. Diefe Leute brauchen das Gefühl, daß ihr Geld gesichert ist. An sie wendet sich die militaristische Propaganda mit dem Argument, daß Amerika  zur größten militärischen und vor allem größten Seemacht der Welt werden muß, um die Investierungen seiner Bürger zu schügen. In diesem Milieu findet auch die Propaganda Anklang, daß Amerika   neue Investie­rungsmöglichkeiten gewinnen und für sich sichern soll. So findet das amerikanische   Kapital auch in den breiteren Schichten Unterſtüßung für seine imperialistischen Bestrebun­gen. Eindeutig ist aber die Wirkung dieser Faktoren nicht. Es ist vielmehr so, daß die gleichen Motive, in dem einen Gebiet die brutale Gewaltpolitik und im anderen die -pazifistischen Tendenzen fördern.