Nr. 530* 44. Jahrgang
-1. Beilage des Vorwärts
Mittwoch, 9. November 492?
Wenn wir zurückblicken auf den 9. Novenwer des Jahres 1918, so kann es geschehen, daß uns heute, 1927, angesichts der Tatsache einer Bürgerblockregierung, die Ereignisse jener Stunnwoche als beinahe märchenhaft erscheinen. Gerade deshalb ober ist es notwendig, den Herrschaften von rechts immer wieder vor Augen zu führen, was damals geschehen ist und wie sich die Gewaltigen von gestern benahnxn in dem Augenblick, wo es daraus ankam, zu zeigen, daß man sein« Gesinnung nicht nur im Munde führt, sondern auch mit Kopf und Hand für sie einsteht. Ltnsere Fürsten. Es waren dl« Tage, als unsere liebe Berliner Kreuzspinne, die „Neue Preußische Zeitung (Kreuz. Zeitung)* schäm- hast ihr Emblem:„Vorwärts mit Gott für König und Vaterland* in der Versenkung verschwinden ließ, um es erst etliche Jahre später ebenso schamhaft wieder auftauchen zu lassen. Sie hatte 1918 in der Tat alle Veranlassung, mit Königen, Großherzögen und Fürsten nicht zu renommieren. Man denke doch einmal zurückl Noch am 14. Mai 1918, kein halbes Jahr vor dem endgültigeck Zusammen- bruch des Kaisertums, hgtte Wilhelm der Verflossene im Rathaus von Aachen eine burschikose Rede gehallen, in der er sagte: „Hart werden die �Gegner mitgenommen, sie haben's auch nicht besser verdient, die Sache im Westen wird gemacht.* Um zu zeigen, welche wichtigen, wahrhast drängenden Sorgen ER hatte, sllgte ER hinzu:„Nun, meine ICH, ist es auch Zeit, alfes Fremdländische abzustreifen. Alles Französisch-parlieren muß aufhören. Sprechen wir lieber unser deutsches Platt.* Fünf INonate später floh der Mann, durch den angeblich„die Sache gemacht wurde*, aus der Reichshauptsladl Berlin ins Große Hauptquartier: von dort aus floh ER vierzehn Tage später nach Amerongen. Vielleicht pgrliert ER jetzt holländisch. ER ist übrigens identisch mit einem Mann, der 28 Jahre vorher gesagt hat:„ICH und mein Heer, wir gehören zusammen*— ICH In Holland , das Heer an der Front! Sein ältester Sprößling handelte wie CR! Immerhin darf sich der Kaiser und König zusamt seinem Sohne damit trösten, daß sich seine Kollegen auf den 22 Thronen Deutschlands , von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, ebenso unwürdig benahmen wie ER. Schon am 8. No- vember hatte, auf den wirklich nicht übermäßig stürmischen Anstoß des Arbeiter- und Soldatenrates hin, Wilhelms leibhaftiger Schmie- gersohn, der Herzog von Braunschweig , als erster unter den deutschen Potentaten, die denkwürdige Urkunde unterzeichnet, die da lautet:„Ich. Ernst August . Herzog von Braunschweig und Lüneburg , erkläre, daß Zch für Mich und Meine Nachkommen aus den Thron verzichte und die Regierung in die Hände des Arbeiter- und Soldatenrats lege. Ernst Atzgust.* Die anderen folgten, und geradezu grotesk mutet es aus jenen Tagen, da der„Vorwärts' von einer„Tch ronschmelze in Deutschland * sprach, an, daß auegerechnet der allerkleinste unter„unseren Ferschten* sich widerstrebend zeigte. Der*-W a l d e ck e r Soldatenrat mußte nämlich nach Kassel telegraphieren:„Der Fürst lehnte es gestern nachmittag ab, freiwillig zurückzutreten. Er wurde deshalb f ü r a b g e s e tz t e r k l ä r t.* Es ist eine Pflicht der Loyalität, zu er- wähnen, daß bei dem allgemeinen schmählichen Verhalten der König von Württemberg und der Großherzog von Baden die vorerwähnte rühmlich Ausnahme machten. llnsere�Offiziere. Im deutschen Vaterland regierten vom Tage der Erklärung des Knegszustandes an unbeschränkt und absolut im wörtlichsten Sinne des Wortes Ihre Exzellenzen die Herren Stellvertretenden Kommandierenden Generäle. So. saß denn auch beim IX. Armeekorps in Altona der General der Infanterie von Falk, der Typ des schneidigen Offiziers, ein Kommißstiebel vom Scheitel bis zur Sohle, ein Mann, der bei den ihm unterstellten Truppen- teilen als Leuteschinder bezeichnet wurde. Als der Soldatenrat ihn am 8. November sprechen wollte, war Seine Exzellenz verschwunden, und allgemein zirkulierte in Hamburg-Altona das Wort:„Der Falk ist ausgeflogen.* Geradezu lächerlich muß eine Bekannt- machung des damiligen Oberbefehlshabers in den Marken, General- oberst v. L i n s i n g e n. anmuten, der noch am 7. November, zwei Tage, bevor er weggefegt wurde, verordnetem„In gewissen Kreisen besteht die Absicht, unter Mißachtuiy, gesetzlicher Bestimmungen Arbeiter» und Soldatenräte nach russischem Muster zu bilden. Derartige Einrichtungen stehen mit der bestehenden Staats- ordnung in Widerspruch und gefährden die öffentliche Sicherheit . Ich verbiete auf Grund des 8 9b des Gesetzes über den Be- lagerungzzustand jede Bildung solcher Vereinigungen und die Teil- nähme daran. Der Oberbefehlshaber in den Marken, von Lin- singen, Generaloberst.* Achtundvierzig Stunden später hatte— ähn- lich, wie man in Dresden mit sieben Worten amtlich verkündete: „Die Dynastie Wettin hat zu bestehen aufgehört.*— diese„bestehende Staatsordnung* de» Herrn Generaloberst zu bestehen ausgehört.
Unvergesien ist Erich Ludendorffs blaue Brille. Auch der Gewaltige von Hannover . Hauptinann der Landwehr und spä- terer Landgerichtsdirektor Jürgens, hatte heimlich bei Nacht und Nebel plötzlich nach langfristiger Herrlichkeit, als Zivilist vermumnü, das Weite gesucht. In der Tat: Alle die Osslziere, die bis dahin ihre Vslicht darin gesehen halten, den Schneidigen herauszubeißen und ihre Leute zu schinden, waren verduftet. Sie entzogen sich der schweren Mission, von ihren bisherigen Untergebenen zurRechen- schaft gezogen zu werden. Die Anständigen, und darunter vor allem ein großer Tell der wirklichen Frontossiziere, die mit ihren Kompagnien in Kamps und Not zusammengestanden hatten, blieben bei der Truppe. Niemand dachte daran, ihnen auch nur ein Haar zu krümmen. Gemeinsam mit den Soldatenräten führten sie das Heer in die Heimat. Die Truppen freilich bekannten sich geschlossen gegen die Monorchie und für Frei- heit und Republik . Ltnsere Bürger. Was aber taten unsere Bürger? Was taten beispielsweise unsere Großgrundbesitzer, die sich bisher immer mit lautem Mund« die festeste, die stärkste, die unerschütterliche Stütze von Thron und Altar genannt hatten? Griffen sie unter Absingen des Liedes:„Heil dir im Siegertranz* zur Waffe, stellten sie sich wie ein Wall, bis in den Tod getreu, vor ihren angestammten König und Herrn? Nein! Sie verkrochen sich ins Rlauseloch, sie beugten sich vor den Arbeiter, und Soldalenrälen. sie behaupteten sogar, immer schon in ganz besonderem Maße sozial empfunden zu haben, von der Großbourgeoisie in der Stadl merkte man so gut wie nichtst Sie hockte hinter dem Ofen und hatte nur Angst, daß Sendboten der Revolution die gehamsterten Schinken und Würste entdecken und beschlagnahmen würden. Wenn aber ein Schuß er- tönte, wenn auch nur ein Autoreifen platzte, dann bibberten die Herzen dieser vormaligen Vaterlandsparteiler, denen es im Kriege nicht darauf angekommen war, ungezählt« Hekatomben deutscher Proletarier für Longwy und Briey , für Calais und Dünkirchen , für Gent und Lüttich . für Riga und Reval zu opsern. Es war ein klag- liches Schauspiel! Die Afbeiterschast. Die deutsche Heimat wäre zusammengebrochen, wenn e» nach dem Versagen von Fürsten , Offizieren und Bürgern niemanden gegeben hätte, der das Steuer des schlingernden Staatsschiffes in die Hand nahm. Aber es griff jemand ein, es behielt im allgemeinen Tohuwabohu jemand die Nerven, es gab einen Retter: d i e
„Revolution. — Und wo bleiben wir?" deutsche Arbeiterschaft! Die Geschmähten von einst— und von heute—, die„vaterlandelosen Gesellen* retteten da» Vater- land. Der große Zusammenbruch des prunkenden wilhelminischen Staatsgebäudes war da. Die es bisher gestützt hatten, waren entwichen und hatten sich versteckt. Wie einst der Römer Curtius in den Abgrund sprang, so trat jetzt die Arbeiterschaft in die Bresche. Mochte alle Mühe zuweilen vergeblich scheinen, wir haben es geschafjt: Volk und Heimat sind vordem Chaos gerettet! * Auf den 9. November folgte der 11. August, der Tag der V e r» fassung von Weimar . Im Staatsgrundgesetz des Voltes stehen die lapidaren Worte:„Das Deutsche Reich ist ein« Repu- b l i k. die Staatsgewalt geht vom Volte aus.* Es mag eine gewisse Zwangsläufigkeit der Geschichte sein, daß auf ein« Periode des Fortschritts eine Periode des Rückschritts folgt. Aber daran, daß unser erneuertes Deutsches Reich «ine Republik ist und die Staatsgewalt vom Volke ausgeht, kann kein Keudell, kein Hergt, kein Schiele etwas ändern! Der 9. November fällt in diesem Zahre in die werbe woche der Sozialdemokratie. Für sie und damit für die deutsch « Republik zu arbeiten und zu wirken, sei unser Gelübde an diesem Tage, damit im Wahljahr 19ZS die Ueberraschten vom 9. November endgültig zur Räson gebracht werden. H. D.
Revolution in Wilna . Der große Abenteurerfilm Krieg warf einen kleinen Statisten noch am Schluß nach Wilna ; er sollte wohl von den angenehmeren Dingen in der Etappe auch etwas zu schmecken bekommen! Vom 1. November bis zum 23. Dezember 1918 weilt« er in der schönen alten Iudenstadt; es war die höchste Zell, daß dann die deutschen Soldaten abzogen, denn die Polen warteten schon ungeduldig, das warme,»enn auch stark oerlauste Nest einzunehmen. Der Schreiber dieses kurzen Aussatzes war in die Redaktion der „W ilnaer Zeitung" abkemmandiert worden. Der Betrieb der Druckerei zählte zirka 190 Mann. Als Borgesetzter fungierte ein
junger Leutnant, der vom Zeitungswesen herzlich wenig verstand, aber mit außerordentlichen Sprachkenntnissen ausgestattet war. Drei Redakteure teilten sich in hie Redaktionsleitung, jeder mit anderer politischer Einstellung, die aber, solang« dos alte Regime hielt, nichts galt. Das Hauptzeitungsmaterial waren die Wolffschen De- p« s ch e n, die recht einseitig verarbeitet wurden. So kam es, daß die Einleitung der Waffenstillstandsverhandlungen am 7. November noch in drei Zeilen versteckt wurde. Aber die Meldungen aus Verlin lauteten von Tag zu Tag drohender. Was draußen geschah, er- fuhren die Soldaten und das Volk auch ohne uns. Besonders von Rußland her schien«in guter Informationsdienst zu bestehen. Am 10. November brachten wir als Extrablatt die erste Kundgebung des Wilnaer Soldatenrat» heraus. Die Redaktion war daran nicht beteiligt, sie war von den Ereignissen überrascht worden. Den durch Funkspruch oerbreiteten Aufruf, überall Soldatenröte zu bilden, hatte die Wilnaer Garnison sofort befolgt. Mittags zogen die Truppen vor die Kommandantur und zwangen den Mililärgouverneur, ihre Forderungen anzuerkennen. Als Führer fungierte ein Soldat Frankenberg , politisch«ingestellt zwischen SPD. und USP. Das Volk auf den Straßen schrie den Soldaten, die sie alz Befreier von der Knechtschaft ansahen, be- geistert zu. In unserer Redaktion war nunmehr Hochd trieb. Je noch Einstellung schnitten nun die Scheren langsamer oder freudiger das Zeitungsfutter aus den Depeschen, später teilten wir uns weis« die Arbeit gleichförmig ein, so daß jeder von uns nach der Reih« die Zeitung machte und dos Blatt den einen Tag als volksparteiliches, den zweiten als liberales, den dritten Tag als sozialdemokratisches Organ erschien. Das spielt« aber gegenüber der rapiden Entwicklung, die die Ding« nahmen, gar keine Rolle. Der klein« LeutnaM zeigt« sich erst am zweiten Tag« wieder, nachdem ihm von seinen Zu- trägern in seinem Versteck bei seiner Liebsten geflüstert worden waz:, „daß ihm niemand wo» hm würde*. Der Feldwebel, der tue Rechnungsabteilung leitet«, hatte die meiste Ursache, den Zorn seiner einstigen Untergebenen zu fürchten, er hatte die Leute miserabel be- hckndelt. Er wurde au» einem Kleiderschrank heraus» geholt und, nachdem er Abbitte geleistet hatte, in Frieden ge- lassen. A Nun wurde da» Gerücht ausgestreut, die Polen rückten an, Wilna zu besetzen. Da» führte beinah« wieder zur Uebergabe der Kommandogewolt in die Hände der Offiziere. Zum Glück trat«in anderer Faktor in Erscheinung, da, Proletariat. Das- selbe, das fast vier Jahre hindurch im Dreck und in Löchern gehaust hatte./ Am 18. Dezember standen die Arbeiter auf der Straße. Di« Freud », die Erregung der Masten war unbe- schreiblich. Alte bärtige Männer hielten sich an den Händen und bildeten mit Frauen und Kindern ein« kette, so zogen sie jubelnd durch die Straßen. Abends versammelt« sich ganz Wilna zu einem politischen Meeting in der Stadthalle. Die Bühne war rot aus- geschlagen. Die Redner aller Gruppen sprachen von Befreiung und glücklicher Zukunft und vom Zusammenstehen inoder Gefähr. Leider zerfiel das schöne Gebilde sofort wieder, wie es entstanden war. In verschiedenen Nationalitäten zerspalten, in Litauer, Weiß- russen, Polen und Juden, waren diese Nationalitäten in sich wieder in Gruppen der verschiedensten Porteischattierungen zer» fallen. Zu allem gesellte sich die Angst:„Was wird aus uns werden. wenn die deutschen Soldaten abziehen?* Wirklich sollen später die Polen furchtbar unter der politischen Arbeiterschaft Wilnas gewütet haben. Am 23. Dezember packte auch die Druckerei der„Wilnaer Zeitung* ein. Es hatte ihr so gut in der letzten Zeit gefallen, daß sie am liebsten noch eine Zeit dageblieben wäre. Die Morkthäuser Wilnas waren bis an die Decke hinauf mit Speck und Mehl und anderen schönen Dingen gefüllt, Geld war auch da, was brauchte man weiter? An einem naßgrauen Morgen zogen wir, unser Gepäck auf Schlitten verladen, zur Bahn. F. N. Ein Schandfleck am Wannsee . Wann kaust die Stadt das Nordflvggelände? An der Straße, die vom Bahnhof Nikolassee nach dem Frei» lxid Wannsee führt, liegen linkerhand,.dicht hinter den letzten Häusern von Beelitzhof, die Baulichkeiten der Nordfluggesell» j ch a f t, einer Gesellschaft, die 19Ä1 ein Stück schönen Hochwaldes vom Forstsiskus erwarb, um große Hotel- und Nestau» rations anlagen am Ufer des Wanniees entstehen zu lasten. Oftenbar sollte in dieser Gegend dem bekannten„dringenden Be- dürfnis* abgeholfen werden. Aus Hotel- und Restaurantbau wurde nichts, Behörden ver- sagten ihre Genehmigung, die Gesellschaft wollte dami in schnell errichteten Werkstätten Sportboot« aller Art bauen, auch das Ge- schüft zerschlug sich und schließlich legte sich die Nordfluggesellschaft auf die Ausbeutung der Bodenschätze, nachdem vorher schon durch den Verkauf des abgeholzten Wald.'s das Grundstück fast kostenlos der Gesellschaft zugefallen war. Ausgerechnet am Wannsee entstand eine— Kalksand st einfabrik, die mit Ihren verstaubten Anlogen wirklich nicht zur Verschönenmg der Gegend beiträgt, zudem aber noch, ein Skandal ohne gleichen, nach Art der Tonbrüche bei Ziegeleien, tiefe Gruben in den früheren Waldboden gräbt und den märkischen Sand mit Kipploren in ihre Fabrik fährt, um ihn in Gestalt von Kalksand- steinen gegen gutes Geld zu verkaufen. Das ganze Gelände gereicht der Gegend nicht zur Zierde: selbst der sonst schöne Weg zum Freibad ist auf dem Gelände der Gesellschaft verkommen und ver- rottet.. Die Gesellschaft ist jetzt so ziemlich pleite, ein günstiger Moment für die Stadt Berlin , durch den Ankauf des Ge. ländes den Schandfleck zu beseitigen. Der Erwerb wird zur Notwendigkeit angesichts der Tatsache, daß, abgesehen vom Freibadgelände, kaum noch ein Menschenstiß das Ufer des schönen Wannse« betreten kann. Gerade dieser See und seine Um- gebung ist«in typisches Beispiel dafür, wie die Zugänge zu den Ufern der nächst Berlin liegenden Seen und Flüste immer mehr der Erholung suchenden Bevölkerung entzogen werden. Gewist« rechtsgerichtete Stadtverordnete haben schon einmal aus dem Nord- flugschandsleck am Wannsee Material zur Hetz« gegen Groß-Lerlin gezogen, indem sie die Stadtverwaltung für die.Derschandelung der