Freitag 2. Dezember 1927
Unterhaltung unö ÄNissen
Vellage des Vorwärts
Aehnlichksit. Von Henri Barbusse . Vor der Schwelle der pompösen Lorhalle sah die Portiersfrau des städtischen Tierdepots dem Spiel der Sonne zu, die wie eine Wolle lüs Goldstaub die Rue du Tison überzog. Ihr Gesicht war physiognomielos. verblaßt und trocken wie ein« amtliche Bekanntmachung. Im Laboratorium Thierselin, einem mit der medizinischen Fakultät zusammenhängenden Nebenbau, wurden gerade Experimente mit Hunden vorgenommen. Taub für diese Iommerlaut«, kehrte sie langsam in ihre Loge zurück, um ihre Katze zu kosen. Infolge eines Eisenbahnunglücks, dem Charles Grandu zum Opfer fiel, war seine Witwe mit dem Amt und dem Titel eines Portiers bei diesem Haupttierdepot betraut worden. Eine ungewöhn- liche Gunstl Mit fabelhaftem Eiser versah sie ihre Funktwnen, die bei den administrativen Verästelungen ziemlich wichtig waren— das Haus war der Bürgermeisterei, der Präfettur und der Fakul- tat untergeordnet; die fortwährenden Ein- und Abgänge gewährten wenig Ruhe. Einst, als sie, von der Hochzeitsreise nach Treport zurückgekehrt, mit ihrem Mann« hier einzog, konnte sie sich der Eindrücke nicht erwehren, welche die Niedergeschlagenheit der weggefangenen, in diesen Hof gebrachten Hunde auf sie machte. Sie mußte manchmal die Augen schließen, wenn Donnerstags Tiere im Schubkarren, steif und wie ausgestopft, weggeschafft oder mit vergnügten Sprüngen — hoffnungsfroh— an der Lein« eines Laboratorium sdieners fort- geführt wurden. Damals hielt sie sich dle Ohren zu, wenn aus dem Laborato- rium Schreie, ähnlich denen von Kindern, oder vor allem das Ge- lächter der Studenten herüberklang. Aber Grandu hatte ihr die Notwendigkeit bewiesen, daß die Beamten die umherschweifenden Tiere—«ne Gefahr für die Oefsentlichkeit— bekämpfen müßten, und es im allgemeinen Inter- esse nickt minder wichtig wäre, daß die Aerzt« die Hunde öffneten, um in sie hineinzuschauen. Er hatte ihr erklärt— er war ein so schöner Mann, da begriff sie schließlich alles—, daß diese Hunde keineswegs gewöhnliche Tiere, sondern Gefangene seien, die in Auflehnung gegen dos Gesetz, in einem anonymen Zustand aufgegriffen wurden. Und jetzt war es ihr gar nicht mehr möglich, ein Zkcge für diese Verurteilten zu haben. Ihre Katze Ronron liebt« sie herzlich, häkschelte sie soviel wie möglich. In ihre Loge zurückgekommen, ging sie auf das blau« Deckbett zu, wo diese gewöhnlich schlief. „2ll)!* rief sie und hob die Arme in die Höhe. In der konkaven Rundung des Bettes— sie glich einem Nest— gab es zwei Ronrons. Oder vielinehr wälzt« sich neben Ronron ein« andere Katze, die der Schatten schien, weil sie ganz grau aus- sah..Hm!" nmrmelle Frau Grandu mit weit aufgerissenen Augen, mit halb offenen und starren Lippen, welche an die einer Spar- büchse gemahnten. Gewiß, es gab da nicht viel zu verstehen: dieses einer Messer- schneide gleichende Rückgrat, dieses klein«, ncgerhafte Köpfchen, dieses einem alten Handschuh ähnelnde, abgescheuerte Fell— das alles verr-et eine den städtischen Käfigen Entsprungene. Sie brummte und trat«inen Schritt nach der Ecke, wo der Besen harrte. Aber in diesem Augenblick geschah es, daß Roman sich auf dem blauen Deckbett erhob, einen steilen Rücken macht«, und die andere Katze sich ebenso aufrichtete und auch ihren Rücken zum Bogen krümmt«. Ihre beiden Schwänze ragten empor— einer so wie der andere—, sie stießen beide gleichzeitig dasselbe dunkle, unverständlich« Gestammel aus, das au» Bezirken senseits des Menschentums dringt. Und da— zum erstenmal in ihrem Leben— bei der wunderbaren Aehnlichkeit dieser Gestalren— merkte die gute Frau, daß trog des Anscheins olle Kotzen der Erde sich sehr gleichen. Zwischen denen, die man immer verhötschell, und jenen, die man tötet, gibt es nicht den Unterschied, der vermutet wird. Ja, Romon mochte noch so reich sein, ein gepflegte« Fell und noch so wundervoll« Pupillen haben— die andere sah trotz ihrer Jugend bekümmert und kahl aus—, sie mochte einen Schweif wie eine Angelrute besitzen: man sah trotzdem den Grund nicht ein. warum die eine glücklich war und die andere gemartert wurde; man mußte unwillkürlich denken, daß sie beide einer ungeheuer großen Familie angehörten. In ihrem Gesicht zuckte es. und doch wußte sie nicht, was sie bewegte. Aber wie sie durch die Scheiben im Hof den Laborato- riumsdiener Ouillebeuf sah, der gestikulierend herbeilief, ergriff sie resolut den dürren Ausreißer und steckte ihn linier das Bett. Dann stellte sie sich der Türe gegenüber auf: die Heldin eines unklaren Instinkts. Im Türrahmen erschien Ouillebeuf. Er war rot und schwang «in« Leine..Ist sie hier?" erkundigt« er sich eiligst. „Wer?" fragte die Pförtnerin.„Die Kotz," brüllte er,„die Kotz!".Welche Katze?" fragte sie, ohne eine Miene zu verziehen. „Das niederträchtige Biest ist hierhergerannt!" Außer sich war er. .Eine grau« Katze. Ja, haben Sie das Bieh nicht gesehen? Wie?" Ueberraschend ruhig erwiderte Frau Grandu, die gewissenhafte Beamtin, die niemals gegen Dienstvorschriften gefehll(nur ihr« Hände preßten sich gegen die Schürze):.Rein." Sie schüttelt« den Kopf und fügt« hinzu:„Gewiß nicht." Der Mann konnte sich nicht genug wundern.„Ja aber— was denn?" stammellc er.„Aus den Händen ist st« mir geschlüpft... und hierher... Sie haben sl« vielleicht nicht hereinschleichen sehen. Sie steckt am Ende unter einem Möbel und pfeift uns was. Ich suche; Sie erlauben?" „Das Tier ist nicht hier, sage ich Ihnen." Sie sprach ganz ruhig und tat sich doch den äußersten Zwang an, um«in unbefangenes, harmloses Gesicht zu zeigen. Sie beging eine heldenmütig« Tat. vergleichbar dem Heroismus jener Frauen, die Verdächtige verborgen, und den von Haß zitternden Häschern «ine beherrschte Maske zeigten.„Wenn Sie wollen, nur herein, treten Sie ein... aber Zweck hat es keinen." In feine Idee verrannt, betrat der Mann den Raum. Sie wich zur Seit«. Er reckt« den Hals, gab sich«inen Augenblick einer Hoff- laing hin, aber es war nur Ronron, die, zur Kugel zusammen- gerollt, auf einem Stuhle lag; er zuckte die Achseln, schielte nach rechts und links, blinzelte mit einem Auge. Sein Blick streifte das Bett, den blauen Ueberzug, haftet« ein«, zwei Sekunden darauf. Risin Gast, nicbts rührte sich. Die Frau stand dabei: ihr rundes Gesicht war so blaß und un- beweglich wie das Zifferblatt einer Uhr.
Der Mann brummte, während er suchend unter den Tisch blickte. In diesem Moment empfand sie plötzlich die groß« Kühn- heit ihres Wagnisses... und fühlte sich dem Zusammenbrechen nahe; erHove sich aber. Sie hatte nur ein bißchen gehustet, und ihr Atem war schwer gegangen. Ouillebeuf sagte:„Hier ist sie nicht." Er war ein Mensch, der rasch die Gewalt über sich verlor. Er machte ganz verzweifelt« Gesten, stieß sich mit der Faust gegen den Kopf und brach in heftige Verwünschungen gegen die Rieder- tracht seines Schicksals aus. Sein Vorgesetzter würde ihn wieder als Idioten behandeln, wenn er bloß mit der Leine zurückkehrte. Er stieß ein schmutziges Wart aus, verschwand mit Entschuldigungen. Niedergeschmettert schlich er fort— krümmt« den Rücken, so daß sich seine Bluse aufbauschte. Frau Grandu, am Ende ihrer Kräfte,
Trost.
was.je dein Herz beschwert. Au Schicksal. Schuld und Sorgen: Du weißt nicht, was dir morgen Zum Tröste mird beschert. wir müsse« alle hart Um unser Oebeu riagea. Ll» sich au» alleu Dingen Sein Sinn uns offenbart. Dn glaubst, du mnßk dein Glück Zu schwer mU Leid bezahlen Und schaust zn vielen Walen Den dunklen weg zurück—: Doch kommt wohl einst ein Tag. Da blüh'n ans allen Wunden Dir lauter Sonnenstnnden. Die niemand ahnen mag. Wilhelm Lueljens.
e!!IFS5«9F5Bee«?5HH!HI5!Ä sank auf einen Stuhl; der Atem versagte ihr, sie zittert«, weil sie das erstemal— und wie!— gegen eine der höchsten und helligsten Pflichten als Pförtnerin des Tierbepots gefehlt hatte. Nach wenigen Minuten erhob sie sich mit einem lauten und entschiedenen Räuspern. Wie wenn st« schweren Wein getrunken hatte, ging sie etwas schwankenden Schrittes auf dos Bett zu. In der Spiegelglasscheibe ihres Schrankes sah sie sich kaum, denn über ihren Augen lag ein Schleier, wie damals zur Zeit ihrer Witwentrauer. Sie schlug das blaue Deckbett zurück. Die von Ermüdung. Abenteuern, Entbehrungen aufs äußerste geschwächte Katze rührte sich nicht. Hob nur ihr kleines Köpfchen, das die Ungerechtigkeiten verelendet hatten, aus dem zwei beseelte Augen schauten, empor. Frau Grandu berührte sie mit einer Hand, die sanft war wie sie, und plötzlich fühve sie das Herzklopfen des kleinen Tieres. Selig, ein Geschöpf gerettet zu haben, beugte sie sich über die Katze. Eh« sie darüber nachdachte, was für Schwierigkeiten und schlimm« Fäll« eintreten könnten, wenn sie diese Sünderin aufzog, sah sie die Katze mütterlich an, denn sie hatte ihr das Leben geschenkt. lBcnchllgti Uebersetzllnz von Johann«, it u n d e.)
Weltraumkälte.
Daß es eine Wärmewissenschaft gibt, ist heute so ziemlich sedem Kinde geläufig. Biel weniger bekannt ist ober die Totsachs, daß auch die Källe Gegenstand wissenschaftlicher Erforschung ist, die nicht nur theoretische Ziele hegt, sondern bei ihrer Arbeit praktische Zwecke im Auge hat. Als Wissenschaft gesehen, ist die Erforschung der Källe vielleicht noch reizvoller, als es die Wärmewisseuschaft und Wärmetechnik ist. Von der Wärme wissen wir, wie jüngst erst Prof. Nernst festgestellt hat, daß sie nach oben hin kaum eine Grenze hat. Di« Sonne ist an der Oberfläche etwa KOOO Grad heiß, andere Sterne weisen Hitzegrade von 20 000 oder 30 000 ans. Die Temperaturen des Kernes der verschiedenen Gestirne gehen bis in die Millionen Grade hinein. Wir können auch künstliche Wärme erzeugen, und diese bis Tausende von Graden emportreiben. Ganz anders die Källe. Sie hat heute noch für den Forscher sehr viele Geheimnisse, die nicht gelüstet sind. Sie zeigt sich auch, was die künstliche Er- zeugung anlangt, als ein schwer zu meisterndes Objekt. Was die Kalle als Forschungsgegenstand wohl am meisten von der Wörme unterscheidet, ist die Tatsache, daß sie einen tiefsten Punkt, den absoluten Nullpunkt, hat. Dieser Punkt liegt etwa bei— 273 Grad Celsius Wie ist man daraus gekommen, da es doch bis jetzt nicht möglich war, künsllich einen solchen Kältegrad zu erzeugen? Auf dem Wege des physikalischen Experiments. Es hat sich nämlich herausgestellt, daß jedes Gas sich bei der Abkühlung um 1 Grad um ilm seines Volumens zusammenzieht. Würde man also ein« Abkühlung bis auf 273 Grad herbeiführen können, so ergäbe da» eine Volumenoerdichtung in einem solchen Umfange, daß theoretisch das Gas als verschwunden gellen kann, es jedenfalls keine Bewegung mehr verrichten, also zu absoluter Ruhe gebracht wäre. Eine weitere Zusammenziehung und damit ein« weitere Abkühlung des Gases wäre einfach nicht mehr denkbar. Man hat also mit 273 Grad Celsius Kälte den tiefften Punkt der Temperatur erreicht, den Grad von Abkühlung, der im Wellenraum herrschen soll. Diesen äußersten Källegrad hat man bisher aber nur cheoretisch errechnen.und experimentell nachweisen können, aber e» ist noch nicht gelungen, ihn selbst künstlich zu erzeugen. Das äußerste, da» man bisher an Kältegraden erreichen konnte, sind 271,5 Grad. Wie eine Kleinigkeit muten die restlichen lch Grad Källe an, und dennoch hat man sie bei aller Kunst noch nicht schaffen'können. Seit Jahrzehnten bestehen jetzt Källclaboratoricn, deren besonderer Zweck e» ist. die Kälte zu erforschen, und dl« dabei natürlich auch versuchen müssen, künstliche Käste zu erzeugen. Ihr Ziel in dieser Hinsicht ist»s, die 273 Grad zu erreichen. Im Jahre 1008 war es zum erstenmal ge» lungen. bis an 269 Grad Källe heranzukommen. Und zwar gelang dies dadurch, daß man sich bemühte, dos neuentdeckte Helium zu verflüssigen. Die Temperatur der flüssigen Luft liegt bekanntlich
in der Nähe von 200 Grad unter Null, die des verflüssigten Wasser- stoffs bei 262 und die des verflüssigten Hellums bei 269 Grad. Das erste Källelaboratorium wurde Anfang dieses Jahrhunderts in Holland errichtet. Man gliederte es dem Physikalischen Institut in Leyden an. Nach diesem Vorbilde wurde 1923 ein zwelles Kalle- institut in Toronto (Britisch-Kanada) geschaffen, und nunmehr hat auch Deutschland ein Jnststut, dos ganz der Källeforschung gewidmet Ist. Dieser Tage ist dieses Institut, das der physikalisch-technischen Reichsanstall in Charlottenburg angegliedert ist, eingeweiht worden. Es ist wohl nicht zuviel gesagt, wenn man behauptet, daß mit dieseni Institut Deutschland an die Spitze der internationalen Källeforschung tritt. Es Ist nun keineswegs so, daß die Kälteforschung ein Wissens- gebiet mit lediglich theoretischem Hintergrund ist. Wenn man heute dem absoluten Nullpunkt zustrebt, so ist das nicht nur aus wissen- schaftlicher Begeisterung entstanden, sondern die Ergebnisse der Forschungsarbellen auf dem Källegebiet können unmittelbar für die industrielle Praxis ausgenutzt werden. Dafür hier zunächst einen einzigen Beleg. Es ist beobachtet worden, daß gewisse Metalle in der Nähe des absoluten Nullpunktes nahezu völlig ihren elektrischen Widerstand verlieren. Dies ist nicht nur ein wissenschaftliches Kuriosum, sondern es1 bedeutet auch die Aufhebung eines vorläufig noch der gesamten Elektrotechnik zugrunde liegendem Fundamental- gesetzes, de» sogenannten Ohmschen Gesetzes , das die Beziehungen zwischen Spannung, Stromstärke und Widerstand angibt. Wen praktischen Ersahrungen zuwider hält sich in den lvietallen, die durch solche in den Källelaboratorlen erzeugten tiefen Temperaturen ihres Widerstandes beraubt sind, der elektrische Strom stundenlang ohne elektromotorische Kraft. Anderersests ober kann auch diese höchst gesteigerte elektrische Leitfähigkeit der Metalle durch magnetische Kräfte gänzlich aufgehoben werden, eine Erscheinung, für die man noch keinerlei Erklärung weiß. Allein schon dieses Beispiel von dem B erhalten der Metalle bei großen Kältegraden zeigt die eminent praktische Bedeutung, die der Kälteforschung zukommt. Aber auch unnnttelbar fließt aus den Arbeiten der Källelabora- torien, und besonders des neugegründeten deutschen Laboratoriums. ein praktischer Erfolg. Wie schon erwähnt, ist es die Berflüsssgung des Heliums, durch die man bis zu so hohen Kältegraden gekommen ist. Dieses Helium spiest eine wichtige Rolle in der Luftschiffahrt. Wird es doch als Füllgas für Luftschiffe verwandt, da es nicht, wie der etwas leichtere Wasserstoff, entzündlich ist. Durch die Arbeiten im Kältelaboratorium kommt man nun dazu, auch der Gewinnung dieses Heliums erhöhte Aufmerksamkeit zu schenken, was mit Bezug auf die bisher bestehende große Sellenheit dieses Gases von un- mittelbar praktischem Nutzen sein dürste. Ein launischer Wintergast. Von TU. A. von Lütgendorff. Im winterlichen Geäst der Bäume taucht nun wieder das zier- liche Buschwerk der Mistel aus. Es gehört eine ganze Reihe natur« notwendiger Folgeerscheinungen dazu, bis eine der weißen, fiebrigen Mistelfrllchte glücklich an einem Ast haftet und sich aus ihr ein Keim entwickelt. Jeder Mistelsame kann nur aus einer ganz bestimmt«!' Baumart zum Keimen gelangen, also die Laubholzmistel nur auf' den Laubbäumen, die Radelholzmistel nur auf Nadelholz, aber dann wieder die Tannenmistel niemals auf der Kiefer ; dagegen kommt die Kiefermistel auch auf der Schwarzföhr«, der Fichte, Lärche und Zeder gut fort. Früher glaubte man allgemein, die Misteln vermehrten sich überhaupt nicht durch Samen; man hat dann auch tatsächlich erst in den letzten Jahren die Kemiungsgeheimnisse der Mistelgewächss kennengelernt, ohne sie freilich gönzlich entschleiern zu können. Es ist sogar auch gelungen, was man für ganz unmöglich geHallen hatte: nämlich die. Mistelsamen auf Holzbrettchen oder Glas, also künstlich, zum Keimen zu bringen. Ebenso glückte die Infektion von Gewächsen mit Mistelsomen, die z. V. an Wacholdersträuchern«ut gelungen ist. Noch eine eigenartige Erscheinung hat man am Mistelsamen fest- gestellt. Jeder Same braucht nach der vollendeten Reift eine gewisse Ruhezeit, ehe er wieder zum Keimen gelangen kann. Der Mistel- sinnen bildet nun in dieser Hinsicht eine ganz besondere Ausnahme insofern, als es gelungen ist, ihn schon vierundzwanzig Stunde», nachdem man ihn der Frücht entnommen hatte, zum Auskeimen zu bringen. In der Natur vollzieht sich die Keimung aber wähl kaum je so schnell, im Winter infolge des Sonnenlichtmongels überhaupt nicht, so daß den Samen im allgemeinen dach immer eine gewisse. aber, wie schon erwähnt, gerade ihnen nicht notwendig« Ruhepause auferlegt ist. Di« Launen der Mistel hinsschllich ihres Auftretens sind auch in anderer Hinsicht sonderbar. In Deutschland gehört es zu den oller- größten Seltenheiten, daß die Mistel auf einer Eiche schmarotzt; in anderen Ländern aber wieder, wie z. B. in Fronlretch, dem Haupt- lieferanten der englischen Weihnochsmisteln, in Polen und in der Ukraine findet sie sich geradezu massenhaft auf der Birke vor. ver- meidet aber in anderen deutschen Landstichen gerade die Birke fast gänzlich. Diese sonderbare Erscheinungssorm des willkürlichen Auf- tretens und Fehlens der Mistel in gewissen Ländern ist bis heute nicht gefiärt. In Kolumbien schmarotzt sie sogar nicht nur auf Bäumen, sondern auch aus größeren, krautartigen Gewächsen, so auf enem unserer Gagelpflanzen(.�xriaa) verwandten Gawächs, dos allerdings ziemlich kräscige Triebe entwickelt. Die neuere Forschung hat auch die Schädlichkeit der Mistel, die man immer noch bezweifelt hatte, erwiesen. Obstbäume können durch Mistelwuchs immerhin so leiden, daß ihr« Frücht« fieiner und saftloser werden als auf gesimden Bäumen, und infolge dieser Taffache hat man beispielsweise im bayerischen Maintal , in dem der Obstbau ei»« wichtige Rolle spielt, das Gesetz erlassen, daß alle auf Obstbäumen schmorotzenden Misteln entfernt werden müssen. Auch die Tannen- und Kieftrnmistel schädigt das Holz, dem sie seine Nährstoffe entzieht, zumal da sie bis fünfzig Jahre alt und in solchen Fällen enffprechend hoch und breit werden kann. Die Verbrciiting der Mistel, die in der Natur nur durch Vögel bewirkt wird, schrieb man früher mehreren Bogelarten zu; neuere Forschungen hoban ergeben, daß als regelmäßige V«r- breiter des Mistclsamens nur die Drossel und der Seidenschwanz in Betracht kommen können. Die Uebertraguna der Samen aus der Frucht nach der Wirtspflanze erfolgt in der Weis«, daß im Schnabel der die Früchte verzehrenden Vögel«intge der ün Fruchtfleisch liegenden Samen hängenbleiben. Wenn der Vogel nun den Schnabel an einem Zweig abstreift, bleibt der Samen an diesem haften, woraus sich, sofern er sich als die richtige Unterloge erweist, eine neue Mistel- pslanze entwickelt. Die Mistel, die bereits in der älteren Tertiärzeit vorkommt und vor Iahrraufenden schon im Bernsteinwald auf den Kiefern schma- rotzte, aus denen das goldige Bernsteinharz quoll, galt einst als wahr« Wunderpflanzc, in der alle möglichen Kräfte schlummern sollten. Ja den altdeuffche» Herbergen bedeutete dos Aushängen eines Mistelbusches das Einkehrzeichen. Während der bösen Kriegs- und Hungerjahre zu Beginn des vorigen Jahrhunderts wurde die Mistel sogar als Nutzpflanze verwendet: sie wurde getrocknet und gestoßen und, mit Roggen mehl vermischt, zu Brot gebacken.