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Nr. 610 46. Jahrgang

1. Beilage des Vorwärts

תחםן

Stadt auf dem Hinterhof

Borberhäuser, Geitenflügel, Quergebäude bilden redtwinklig zueinander ftehend gewöhnlich einen Raum, den mir Hof neumert. Einen Hof, mo man Teppide flopfen, Holz zerhaden oder Müll m Säften schütten fann. Das alte, graue Geschäftshaus r. 129 in der Friedrichstraße zu Berfin macht von diefer pro­fanen Regel eine bemerkensmerte Ausnahme: statt eines Hofes be­hütet das Rorberhaus eine bunte Stadt. Eigentlich einen Barten, denn die Häufer dieser Stadt liegen versteckt zwischen Eichen und Kastanien, mozu ein paar Ahornbäume fommen, gar nicht zu reden nen den Straßen, die eingebettet in weite Rafenflächen, son Vil fionen welfer Blätter verborgen werden.

Still und feierlich ist es auf diesem Hof, der teiner ist. Mübe taumelt Blait im Blatt zur Erde, die letzten Strahien der Herbst. jonne zeichnen fahle Kringel auf einen Barodgiebel mit seiner hoch emporstrebenden Sentrechte und den weit ausladenden Gefimjen, irgendmo fingt ein Bogel Es ist, als stünde die Zeit still Kreuz und quer tann man durch die seltsame Stadt pilgern, ohne eine Menschenfeele zu treffen, es sei denn die trei Kinder, die mit federn um die Stirn und Dolchen und Pistolen an den Hüften sich in eine Ede vertrochen haben und Kriegsrat halten. Eigentlich follen fie nicht einmal das tun, denn über ihren Köpfen hängt ein rostiges Schild: Jegliches Spielen von Kindern ist streng ver­boten Der Haustommissar: Guiard." Niemand soll die Ruhe Dieses schlafen gegangenen Idylls stören.

Der Schabernad eines Hohenzollern  .

Es ist jest zmeieinhalb Jahrhunderte her, ais König Lubmig XIV. Das Editt non Nantes   miderries, wodurch die Bro testanten in Frankreich   so gut wie vogelfrei erflärt wurden, man ihre 400 Gotteshäuser dem Erdboden gleidhmachic, ihre Schulen schloß und die Lehrer unto Brediger der Hugenotten   in die Zuchthäuser oder auf die Galeere fchickte. Der brandenburgisch preußische Gesandte in Paris  , der Reichsgraf Otto non Schwerin, legte feierlichen Profeft gegen diese Herrschaft der terus ein, aber Ludwig XIV.   ließ sich nicht ermeichen, fperrte vielmehr die Grenzen und beauftragte obendrein feinen Berliner   Gesandten, den Grafen non Rebenac, dem Berliner   Hof Matzumachen, doß im Oquite genommen. Augchofen an den Gatgen gehärtet Das mar natürlich Wasser auf die Mühle des Kurfürfien, dem nicht verborgen geblieben war, daß er wie alle Hohenzollern   für Rom  mur ein ganz gewöhnlicher Kezer war, denen man den Raub des einfimals fatholischen Ordenslandes Ditpreußen, den Kern des nadymaligen Königreichs Preußen, nie verzieh. Wenn sich der Große Kurfürft also jezt mit einer noblen Geste hinstellte und alle drangfalierten Hugenotten   einlud, nach Berlin   zu toumen, bann spielte er damit scheinbar Ludwig XIV.   einen Schaberned, in Birtlichteil aber fuchte er Rom   zu treffen. Ganz abgesehen davon, daß er zwei Fliegen mit einer Klappe schlug, indem er hoffte, wenn nicht heute, dann morgen, ein billiges und williges Kanonenfutter für fein Söldnerheer zu ergattern.

Davon ahnten selbstverständlich die Hugenotten nichts, fie hörten mur die schönen Worte und famen eines Tages mit Sad und Rad über Frankfurt   und Halberstadt   in Berlin   ammarschiert. Hier er­martete fie der Kurfürst vor dem Tor und mar jo erschüttert über ihren Anblid, daß ihm nur so die Tränen über die diden Baden rollten, wie uns ein höfischer Chronist berichtet.

Andreas Kirchmayrs alte Uhren.

Bon Alexander von Sacher Majoch. ( Schlußz.)

Oft begegnete ich ihm auf seinen Spaziergängen, aber nie gelang es mir, mehr als menige Worte mit ihm zu mechseln, Senn er war immer sehr zerstreut und sehr in Elle. Es lag ihm daran, schnell wieder heimzukommen, denn daheim wartete der Sohn auf die Rückkehr des Baters. Einmal be­fragte ich ihn jedoch über seine Uhren, denn es war allgemein belannt, daß der seltsame Kauz eine der schönsten Uhrensamm lungen besaß Aber eifersüchtiger no, wie feinen Sohn Joseph, hütete er feine Uhren. An jenem Herbstabend nun molte ich meinen Beg fortsetzen, nachdem der Uhrmacher hinter dem Regenvorhang verschwunden mar, als Andreas Kirchmayr zum zweiten Mole vor mir auftauchte. Er rief mir 31, ich möge ihn begleiten. Daraus erkannte ich, daß er mich vorhin dennoch gefehen haben mußte. Er sprach etwas hastig und abgehadt und ficpfte mir mit seiner fnochigen Hand un beholfen auf die Schulter:

omm, Bürschchen," sagte er ,,, ich will dir meine Uhren zeigen. Und dann fagte er noch, gleichiom zu sich selbst, vor fich hinmurmelnd: Der Joseph ist so allein."

Ich will gern mitgehen. Meifter Andreas, jagte ich und ich meinte es ehrlich. Ratürlich 3ngen mich die alten Uhren mächtig an, aber es lodie mich noch mehr die Aussicht, den stillen, feinen Kirchmanrschen Knaben zu sehen, für den ich, obwohl ich ihn felten zu Gesicht bekommen hatte, eine Art fcheue Berehrung empfand. Bir maren schon in der Nähe des fchmalen, ftodhohen Uhrmacherhauses angelangt. Aus einem Fenster des ersten Stodmerfes brang mattes Licht und auf der anderen Straßenfeite schaufefte bie filberne Sugel, das Wahrzeichen des Blauen 3gel", leicht hin und her. An dreas Kirchmanr blieb plöglich stehen und pacte midh am Arm Ein wunderschöner, melodischer, longgezogener Ton drang aus dem Uhrmacherhaus, schmoll an wie jubelnde Bosaunen, zitterte burch die stille, abendliche Gaffe und verlor sich hinter bem Türfenhügel in der Dämmerung. Der alte Mann neben mir stand norgeneigt, mie erstarrt, und ich empfand per

Zur Genealogie des Antoine Bardou.

Einige Nachfommen dieser Meffieurs Troucement, Belhomme, Préperit, Fornerod und wie fie alle bleßen, leben noch heute in jener Stadt auf dem Hinterhof. Biele von ihnen find natürlich nordisches nicht mehr die reinblütigen Franzosen von ehemals Blut fließt faft in jeder der aber at Sprache unb Gitte sind die alten Leute, die von der franzöfifchen Stolonie in Berlin   betreut merden, Franzosen geblieben. Die anderen sind aufgegangen in Breußen Deutschland, wie es die Genealogie des Strumpfwirfers Antoine Bardou aus Castres   und feiner Frau Elifabeth Bederstty aus Croise beweist. Die hatten einen Sohn, den nannten sie noch Charles Guilleaume, der, als er groß war, die Charlotte Hamann aus Berlin   heiratete. Diefer Che entsproffen zmei Töchter, von denen die ältere sich den Generalarzt 2omener und die jüngere fich den Rechnungsrat Reifert zum Manne nahm. Run, wir brauchen fein Gelehrter und fein Prophet zu sein, um zu sagen, daß die Comeyers und Reiserts unserer Tage wohl faum noch missen werden, daß ihre Ahnen einftmals Refugiés   waren, 1685 wegen ihres Glaubens aus Frankreich   Bertriebene. Wie in den zeit genössischen Berichten aus fenen Tagen zu lesen steht, waren die Hugenotten über Nacht die erflärien Lieblinge am Berfiner Hof geworden. Wenn sie auch nicht gleich alle mie der Graf d'Espence 3um Generalleutnant und Oberstallmeister des Surfürsten avant­cierten aber wie der Marschall de Schomberg zum Chef der mit brandenburgischen Truppen cinem Jahresgehalt

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Friedrichstraße 129

Don

Dienstag, 31. Dezember 1929

30000 Zalern, so wurde eine shatilide Reihe doch in recht aus tömmliche Staatsstellungen berufen. Someit die Refugiés aller hings bürgerlicher Herfunft maten, mußten fie fich insgesamt mit einer Beihilfe non 40 000 Lafern begnügen, mozu jdließlich noch eine zehn Jahre währende Befreiung von allen Abgaben fam. Das mar immerhin ermas schmal und wenn die nadt und bloß nach Berlin   gekommenen Refugiés doch zu Wohlstand gelangten, dann Derbanten fie dies der Tatsache, daß sie Gewerbe ins Leben riefen. die die Berliner   damals nur vom Hörenfagen taunten. Sie machten Süte, mirften Strümpfe, züchteten Blumen, schmiedeten Gold und Silber, gründeten die ersten Speisemirta Ichaften, fragten an, wie es mit einer Lotterie wäre unb brachten den Berfinern Kaffee, Tee, Schokolade, Biföre unth Berüden. Das muntere Belfden muchs und gedien, hatte seine eigene Airche mit vier Geistlichen, fein eigenes Gericht und feine eigene Berfaffung, und als Berlin   am 1. Januar 1700 ganze 25 000 Einwohner zählte, maren 5682 Seelen davon französischer 21bftammung. Darunter Familien mie die d'Ancillons, Savignys und Reclams  .

Die Berliner   wollen feine Perüden.

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Ran fann es inunerhin nerstehen, daß es für die Berliner  feine reine Freude war, zuzusehen, wie die Hugenotten den Rahm abschöpften. Wenn man sich die Zeitungen von damals hernimmt, bann sind sie wohl des Robes darüber voll, mas die Hugenotten für die Reichshauptstadt getan haben allein die Stadt auf dem aber es Hinterhof ist ja heute noch ein fleines Schmudfästchen finden sich in den Gazetten auch genug Spizen gegen die überall. schnell beimisch gemordenen feineren franzöfifchen Gebräuche. ,, Wa ist Zucht und Gitte geblieben", ruft jemand aus und ärgert sich bitter über die französischen   Mieder, die den Busen so schamlos entblößen. Und ein anderer Rairsdebart steht auf und siest dem Kurfürften eine Philippifa, weil er feine dichten braunen Loden unter einer weißen Berufe verstedt und für diesen Unfug seinem französischen Leibsdmeider jährlich 100 Toler für Puder und Pomade zu zahlen hat.

In dem großen Hospice pour les enfants de l'eglise de refuge", das mit seiner nüchternen Bauart ganz aus dem Rahmen der idyllischen Hugenottensiedlung in der Friedrichstraße herausfällt, mohnt heute bas Finanzamt Gesundbrunnen   und das nicht minder große rote Hospital français", das noch die Jahres zahl 1687 trägt, hat das Finanzamt Mitte mit Beschlag belegt. Und die Wohnhäuser wurden zu einem nicht geringen Teil zum zweiten Mole dazu bestimmt, Flüchtlinge zu beherbergen. His mir die Heinen spielenben Jumgens fragen, ob fie noch franzöfifch fönnen, fagteu fie nein, aber ruffisch fönnten sie und der eine noch polnisch dazu. Es maren die Kinder russischer Emigranten, die in den Tagen des zufammenbrechenden 3arenreiches ihr Land verließent

Wieder ein schweres Autounglück.

Ein Zoter und eine Schwerverlette.

V

Ein ähnliches schmeres Autounglüd wie im Grunewald  . dem der bekannte Tennismeifier Moldenhauer zum Opfer fiel, ereignete fich gestern abend in Mariendorf  . Gegen 18 Uhr befand sich der 44jährige Fabrikant Siegfried Bloch aus der Martin Luther   Straße 19 mit feinem Brivatauto auf dem Nachhauseweg. In seiner Begleitung be­fand sich ein 23jähriges Fräulein Edith R. aus der Atazienstraße 7. Bloch durchfuhr in schnellem Tempo die Chausseestraße. Vor dem Grundstück Nr. 136 versuchte er mit taum verminderter Fahrs­geschwindigkeit ein anderes Auto zu überholen. Dabei perior Bloch aus noch ungeklärter Ursache die Herrschaft über die Steuerung, geriet mit seinem Wagen auf den Bürgersteig und prallte mit voller Bucht gegen einen Baum. Das Auto murde völlig zertrümmert. Der Führer und die Insassin wurden von Bassanten schwer verletzt hervorgezogen und durch Bagen des Städtischen Rettungsamtes in das Josephs- Krankenhaus nach Tempelhof   gebracht.

Bloch starb bald nach seiner Aufnahme an den Folgen schwerer Ropfperlegungen; auch seine Begleiterin, die einen Schädelbruch erfitt, liegt ernst danieder.

wundert, daß er lauschte Das wäre nichts Ungewöhnliches| rade zum Schlage aus. Das war der Ton, den mir vor der gemejen, denn auch ich horchte erfreut auf beim joeben Der nommenen Ton. Aber der Alte lauschte, wie ich noch nie einen Menschen Tauschen gesehen hatte. Nicht nur mit den Ohren, mit allen Sinnen. Ich sah ihn von der Seite an und dachte halb unbewußt: Er lauscht mit den Händen, mit den norge beugten Schultern, mit den wirren, niederbaumelnden Haaren.

"

,, Was mar das?" fragte ich nach einer kleinen Weile. Eine 11hr," fagte Andreas Kirchmayr, drehte mir den Rüden zu und schloß die Haustür auf. Dann fügte er ziemlich zufammenhanglos hinzu: Der Arzt war heute hier, er jagte, er hätte einen Rückfall erlebt. Der zweite Lungenflügel sei an der Reihe. Aber das geht doch nicht." murmelte er, während wir die Treppen hinaufstiegen. So lange die Uhr schlägt, ist feine Gefahr, Bürschchen

En?" jagte ich, feine Gefahr?"

Aber ich nerstand nicht, was er meinte. Und es fiel mir ein, daß die Leute den alten Mann für verrüct hielten, ich machte mir meine Gedanken darüber. Aber es sollte nicht lange dauern, bis ich verstand, welche Bewandtnis es mit dem Schlag der Uhr hatte.

-An jenem Abend jaß ich an Joseph Kirchmanrs Lager und der Knabe bekannte mir, mie es um ihn stand. Der Bater war gerade nicht im Zimmer. Bom Sterben sprach der blonde Joseph Kirchmayr und das milde, verMarte Lächeln mich feinen Augenblid aus feinem fohmalen, fantigen Geficht Es ist mir leid um Andreas" so nannte er seinen Bater er bleibt ganz allein."

Beim Abichieb gab er mir lächelnd die schmale, machsgelbe Hand und sagte:

Stomm jest häufiger, Karl."

Ja," antwortete id ,,, ich werbe tommen."

Der Alte führte mich in ein großes Zimmer. das ange­füllt war mit Uhren jeder Größe und Art. Mite Raberwerte, Gehäule mit Kupferornamenten verziert und Stüde   mit fein granierten, fülbernen Zifferblättern. Uhrwerte, die den Lauf der Sonne, des mondes und der Sterne anzeigten, aus ben Anfängen des Uhrmachertums, und Uhren mit feltsamen Alchimistenzeichen. In der Mitte aber ftand, erhaben wie auf einem Altar, die schönste der Uhren, aus getriebenen Silber fäulen zusammengefügt und als mir eintraten, holte fie ge­

Haustüre vernahmen. Und dann erflärte mir Andreas Kirch­maŋr in seltsamer und verworrener Rede, daß eben diese Uhr eng verknüpft mit dem Leben seines Sohnes sei. Nie würde sie ftiüftehen, immer würde sie schlagen, betraut und behütet von feiner Hand, denn er sei ein Meister seines Faches. Denn fo lange fie geht und schlägt und das feine Räderwerf laglos und genau ineinandergreift, sei feine Gefahr für Josephs Leben zu befürchten. Eine Lebensuhr sei es, ein seltsames Stüd. Und er zeigte mir die eingravierte Jahreszahl, die be­zeigte, daß die Lebensuhr aus der Borzeit des Uhrmacher­gemerbes stammte. Staunend lauschte ich Andreas Kirch­mayrs Morten. Und ich weiß, daß ich, an jenem Abend heim­gefehrt, alle Uhren in unserem alten Hause mißirauisch be­trachtete, ob nicht eine darunter sei, deren Stilstand mein. Leben persönlich bedrohte.

Aber non diesem Tage an hatte das Leben des Uhr­machers für mich große Bedeutung erlangt. Inentmegt forichte ich nach dem Treiben des Sohnes und des Vaters in der Lürtengaffe. Es wurde Winter und der Dezember tam, dieser harte, unerbittliche Geselle, und Joseph Kirchmanrs Lodesahnung rüdte ihrer Erfüllung immer näher. Der Knabe mar um diese Zeit so bleich und abgemagert, daß es ben Arzt felbst in Erstaunen perfekte, ihn noch lebendig zu fehen. Dieser Arzt erflärte einmal meinem Großvater gegen über mit der bentömmlichen Brutalität vieler Nerzic, der junge Kirchmanr sei ein Anachronismus: Er müßte schon lange tot fein, bennoch lebe er.

Andreas Rirdhmanr aber foß abends im Blauen Igel" und laulchte Stunde um Stunde dem Schlage der seltsames Uhr, ber bis hierher vernehmbar war. IInd hier laß er auch in der Neujahrsnacht und lauschte dem Uhrenschlag und mar ruhig. In dieser Racht aber befrog ihn bie 1hr, die er Jahre hindurch fo forgiam betreut hatte. Denn als er heimfam, lag Joseph steif und talt in feinem Bett und rührte sich nicht. Im großen Zimmer aber bolte die Lebensuhr zum Schlage aus und ihr Ton vibrierte herrlicher durch das ganze Haus, als je zunor. Ein neues Jahr begann, die Uhr ging weiter. Nie wieder hatte Meister Andreas fie aufgezogen.

Das ist die Geschichte Andreas Kirchmanrs, den sie vor einer Woche hier, in der füdlichen Ede des Friedhofes b gruben.