?lr. 461* 47. Jahrgang
1. Beilage des Vorwärts
Oonnersiag, 2. Okiober 1930
KerluR vvircl Groijhafen. Alt-Berlin wird umgebaut/ Neuer Spreetunnel/ Freie Bahn für alle Schiffe.
wie wir erfahren, leitet derMagiftraldcr Stadtverordneten. Versammlung in diesen Tagen eine Vorloge zu, in der er um Zu- slimmung zu der verpflichlungserklärung der Stadt Berlin siir den gemeinsam mit der Reichswasserslrahenverwaltung durchzuführenden Umbau der Mühlendammstaustufe bitte. Gleichzeitig soll zu diesem Zwecke ein er st er Teilbetrag von 2 Millionen Mark in den Haushalt für ISZI eingestellt werden. Der Umbau der Mühlendammschleuse ist notwendig ge- worden, um den zukünftigen Tausendtonnenschisssver- kehr auf dem Wege vom Ruhrgebiet über den Mittellandkanal nach Berlin auch die Fahrt durch die als einheitliches großes Hafen. gebiet aufzufassende Innenstadt zu ermöglichen. Die Verhandlungen des Magistrats führten zu dem Ergebnis, daß die zuständigen Reichs- behörden grundsätzlich ihr« Bereitwilligkeit aussprachen. Oos Bauprogramm. Das für die Vei-'-sssrung der Berliner Wasserstraßen aufgestellte Bauprogramm f ßt einmal den Kanaldurchstich Siemens st adt— West Hafen, serner die Erweiterung und
Der Umbau der M ü h l e n d a m m st a u st u f e soll als vor- dringlich zuerst in Angriff genommen werden, da die bestehende Schleuse sich schon bei den Anforderungen des heutigen Schiffsver- lehrs mit Fahrzeugen bis zu 600 Tonnen nicht mehr als leistungs- fähig genug erweist. Di« neue Schleuse wird deshalb die d o p p e l t e Leistungsfähigkeit der alten Anlagen(Mühlendamm- und Stodtschleufe) haben. Diese doppelt« Leistungsfähigkeit ist«rforder- lich, sowohl im Hinblick auf das Anwachsen der Bevölkerung als auch mit Rücksicht auf den ständig wachsenden Güterbe- darf pro Kopf der Bevölkerung, der allein in dem Zeitraum von 1900 bis 1928 von rund 5 Tonnen auf 7,7 Tonnen pro Kopf, also um mehr als 50 proz. gestiegen ist und ungeachtet aller Rationali- sierungsmaßnahmen auch für die Zukunft eine steigende Tendenz aufweist. Nachdem im Reichshaushalt für 1930 der erst« Teilbetrag von 410 000 M. für den Umbau der Mühlendommstoustufe zur Verfügung gestellt worden ist, soll in allernächster Zeit mit den eigentlichen Bau- arbeiten begonnen werden. Die Stadt Berlin hat sich hierbei verpflichtet, den gesamten für die Bauausführung erforderlichen Grund
Begradigung des S pandauer S ch i f f a h rt s k a n a l s auf der ' Strecke Weskhafen— Humboldthafen und endlich die Umgestaltung der Staustuf« am Mllhlendamm. Damit ist die Möglichkeit gegeben, das Tausentonnenfchiff nach dem Westhafen zu bringen und von dort aus durch die Stadt hindurch nach>er Oberspree zu führen. Für den Kanaldurchstich Sie mens st adt— West Hafen sind verschiedene Projekte aufgestellt, indessen kommt die Ausführung erst in Frage, wenn der Umbau der Mühlendammstaustufe fertiggestellt ist. Der für die Erweiterung des Spandaucr Schiffahrtskanals von der Stadt zu übernehmend« Kostenanteil wird mit 3,5 Millionen Mark berechnet. Das wichtigste Bauvorhaben stellt die Umge- staltung des Mllhlendammes dar. Für die Herstellung eines allen modernen Anforderungen entsprechenden Großschiffahrtsweges vom Westhafen noch der Oberspre« hat die Stadt 13 Millionen Mark aufzubringen, deren Inanspruchnahme sich auf«inen Zeit- räum von mindestens zehn Iahren verteilt.
und Boden dem Reich unentgeltlich und lastenfrei zu übereignen und dte- Kosten der erforderlichen Brückenbauten zu übernehmen, ffs handelt sich hierbei um die Herstellung ches Ueberbaues für die neue Schleusenbrücke über den Spreekanal, den Naubau der Mllhlendamm- brücke einschließlich Notbrücke und den Abbruch der alten Brücken, wie der Waisenbrllcke und letztlich der Ausbau der Straße des Rolandufers zwischen dem Mllhlendamm und der Kleinen Stralauer Straße. Oer von der Stadt zu tragende Kostenaufwand Ist verschieden, je nachdem, in welcher Weise der Umbau der Mühlen- kimmbrücke ausgeführt werden soll. Es bestehen hierfür grund- sätzlich zwei Möglichkeiten, und zwar die Schaffung einer kürzesten Verbindung zwischen dem köllnischea Aifchmarkl und dem Vlvlken- markt mit einer Brücke, welche die Spree möglichst rechtwinklig kreuzt, wodurch der Kostenaufwand für die Konstrbktion sowohl als
auch für den erforderlichen Grunderwerb auf das geringstmögliche Maß eingeschränkt wird, oder die Wahl einer längeren Verb in- dung zwischen dem Ephraimschen Palais und dem Hauptgesundheitsamt. Während die erste Lösung einen Gesamtkostenauswand von 11 Millionen Mark erfordert, wären für die zweite Lösung 18,4 Millionen Mark aufzubringen, so daß sich zugunsten der ersten Lösung ein Kostenunterschied von 7,4 Millionen Mark ergibt. Bei der ersten Lösung kann das Ephraimsche Palais in seiner jetzigen örtlichen Lage nicht erhalten werden. Eine Er- Haltung des Gebäudes wäre nur in der Weise möglich, daß es im ganzen um 60 Zentimeter gehoben und um etwa 30 Meter nach Nordwesten verschoben wird. Di« Kosten dafür würden sich aus rund 3,5 Millionen Ma r k belaufen, von denen 2 Millionen auf die Hebung und Verschiebung und 1,5 Millionen Mark auf den erforderlichen Grunderwerb entfallen. Bei der zweiten Lösung kann zwar das Ephraimsche Palais in seiner jetzigen Planlage erhalten bleiben, müßte aber, um es der neuen Höhenlage der Straß« anzupassen, um«inen Meter gehoben werden, was einen zusätzlichen Kostenaufwand von 1,5 Million en Mark verursachen würde. Wenn also das Ephraimsche Gebäude unter allen Umständen erhalten und ein« ästhetisch befriedigend« Lösung erzielt werden soll, ergeben sich die Gesamtkosten im ersten Falle zu 11,0-s- 3,5— 14,5 Millionen Mark. im zweiten Falle zu 18,4-s- 1,5— 19.9 Millionen Mark. Der Magistrat hat sich aus wirtschaftlichen und technischen Gründen f ü r die erste Lösung entschieden. Di« Erhaltung des Ephraimschen Palais wäre hierbei möglich, wenn man sich entschließen kann, dafür 3,5 Millionen Mark aufzuwenden, was der Magistrat aber bei der heutigen Wirtschaftslage nicht glaubt oerantworten zu können. Oer neue Spreetunnel der U-Bnhn. Zu den vorstehend genannten Kosten treten noch die Baukosten in Höhe von rund 3,2 Millionen Mark für den rund 200 Meter langen Spreelnnnel der künftigen Untergrundbahnlinie vom Alexanderplah dnrch die Leipziger Straße . Der Bau des Tunnel- stücks an der Kreuzung dieser Linie mit der Spree muß im zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit dem Neubau der Mühlendamm- brücke in den Jahren 1933 bis 1935 zur Ausführung kommen, da er zu einem späteren Zeitpunkt wegen der dann notwendigen fast völligen Behinderung der Schisfahrt nicht mehr durchgeführt werden kann. Das gesamte Bauvorhaben bietet auf Jahre hinaus die Möglich- keit, Arbeitsgelegenheit zu schassen. Neben dem Berliner Bau- gewerbe, das dadurch«ine nicht unerhebliche Belebung erfahren würde, werden zahlreiche andere Gewerbe günstig beeinflußt.. Von den Gesamtkosten des. Unternehmen», also von den Kosten, die das Reich und die Stadt Berlin aufzubringen haben, entfallen 21.6 Mil- (Ionen Mark auf reine Baukosten, die in voller Höh« dem Baumarkt zufließen.___ Der Geburkslag des Reichspräsidenten im Rundfunk. Im Programm der Aktuellen Abteilung der Funkstunde spricht heute um 19.05 Uhr der Reichsrundfunkkommissar Staatssekretär Dr. Hans Bredow zum 83. Geburtstag« des Reichspräsidenten . Zorlschrikle der Zerngasversorgung. Nachdem der Bau der großen Gaskompressoranlage in Alsdorf bei Aachen beendet ist, wird vom 1. Oktober ab das Ferngas von dort in einer 73 Kilomete r.langen Leitung nach Köln geleitet werden.
Unberechl. Rachtruik-erboten. Gustav«iepenbauer B-rlag B.-G., Vertri-d-abt.
Dieses Stück Menschenleben hat sie in sich gehabt, dachte Werlo, eigentlich ist das wunderbar! Worte, ihr diesen Ge- danken mitzuteilen, fanden sich nicht, er blieb nur sitzen und streichelte ihre Hand. Hinter seinem Rücken summte, flüsterte, kicherte die Krankenstube. Und dann erschien ihre Mutter, Frau Melanie Hanek, wie immer in höchster Aufregung und mit schiefsitzendem Kapotthut. Berthold riß die Augen auf die Alte, deren Geiz sprichwörtlich im ganzen Straßenzug war. packte umständlich ein Weißbrot aus! -.Ach. da ist er ja. der kleine Kerl! Rot und zufrieden. Wie glatt seine Haut ist. Am liebsten möchte ich ihn ja auf den Arm nehmen. Das darf ich natürlich nicht— ich weiß. Meine Tochter würde'n Gesicht machen wie sieben Tage Regenwetter. Nun kannst du dir wohl vorstellen, liebe Ann:-, was das heißt, fünf auf die Welt zu setzen und alle groß zu kriegen— nachher hat man doch keinen Dank davon.— Ist er gesund?" ..Ja. Mutter, alles in Ordnung— bis auf den Magen. Der Kleine kann nicht viel Milch vertragen, gestern hat er zweimal gebrochen...* ,0 Gott, was ein Unglück! Und nun?" „Ich weiß nicht, sie nehmen nur die Milch ab. Dann wird sie hinausgetragen. Jedenfalls bekommt er die Flasche. Seitdem geht alles gut. Etwas ängstlich bin ich aber doch." „Ja. was es alles so gibt!" meinte Mutter Hanek und legte ihr tiefsinniges Gesicht in Fasten. Der Schwiegersohn hatte sie einmal schwer gekränkt, als er meinte, sie sähe aus wie ein Karpfen. Seitdem war sie nicht mehr unbedingt seine Freundin. Ihre Tüllkappe wippte besorgniserregend auf dem dicken, grauen Haar. „Glaubt denn der Arzt", warf Berthold ein,„daß wir den Jungen groß kriegen?"
Annie betrachtete ihre lang gewordenen Nägel:„Keine Sorge, Bert. Hier wird aufgepaßt und später haste ich mich genau an die Vorschriften. Ein Kind wog nur dreieinhalb Pfund, das mußte in den Brutofen. Die Mutter wird es bestimmt schwerer haben. Ich hab's gesehen, es könnte auf einer Hand sitzen, und meine Hände sind doch wirklich nicht die größten." „Ist es die im dritten Bett? Sie sieht so müde aus", fragte er leise. Die blonde? Nein— stell dir vor, sie hat noch langes Haar, bis auf die Waden reicht es! Das ist'n Kaiserschnitt — da siehst du, wie es gehen kann. Ich hatte eine der leichtesten Geburten..." „So was mußt du ihm gar nicht erzählen, Annie, sonst denkt er, man sagt Hoppla und es ist soweit! Männer ver- lieren früh genug den Respekt." Annie knabberte vergnügt Keks. „Laß nur Mutter— er kann die Wahrheit schon ver- trägen. Sieh mal, was er mir alles mitgebracht hat— und Knöpfe hat er sich heute selbst an das saubere Hemd genäht! Jetzt sagst du gar nichts mehr, was?" 4. Annies Entlassung konnte nicht, wie man erwartete, nach einer Woche erfolgen. Nährfieber fielen ihr zähes Leben an, Unterleibsblutungen fraßen an ihrer Kraft, und manche Nacht gab man ihr jene verräterischen Spritzen, die allge- mein der Umlegung ins Sterbezimmer„Kabinett", wie die Patientinnen das Sterbezimmer nannten, vorausgingen. Es kam allerdings nicht ganz so arg. Ihr Zustand blieb, an der Grenze zum Hoffnungslosen, gleichmäßig schlecht. Und auch der Junge brachte den Pflegerinnen und Aerzten Schwierigkeiten, Kummer der Mutter; sein Erbrechen stellte sich öfter und öfter ein. Für Berthold Werla war das Leben auch nicht gerade reizvoll. Von der Arbeft kommend, ehrlich müde, sollte er eigentlich jeden Wend den großen Umweg zur Schwieger- mittler machen, um warmes Essen zu bekommen. Melanie Hanek aber, die mancherlei Erfahrungen mit Hilfe ihrer drei Männer gesammelt hatte, vertrat den Standpunkt, daß ein junger Ehemann nirgends besser aufgehoben ist als bei seiner Schwiegermutter. Erstens, so erklärte sie komme er da nicht auf schlechte Gedanken; zweitens werde ihm fein Geld nicht abgenommen: drittens könne er lernen und aus dem Schatz ihrer Lebensweisheit manche» Nutzen ziehen. Spät nachts
durfte der Schwiegersohn, leiblich und geistig so gut ernährt, den Weg nach seiner leeren und unfreundlichen Wohnung antreten. Werla gehörte zu jener Sorte Gutmütigkeit, die aus Rücksicht entweder schwindeln oder zu spät auf den Tisch hauen, um Ruhe zu schaffen, und außerdem konnte er nicht vertragen, wie ein Schuljunge mft guten, aber billigen Lehren traktiert zu werden. Zudem war Melaniens Schwester Thilde seit Jahr und Tag gelähmt, und die Schwiegermutter, selbst nicht allzu rüstig, mußte sie ankleiden, waschen, in der kleinen Wohnung hin- und herfahren— da mochte er nicht obendrein als Last erscheinen, und er fand schließlich die Aus- rede, einer seiner Nachbarn, ein Arbeitskollege, habe ihm an- geboten, das Essen an seinem Tisch einzunehmen. „Ja, es ist für dich sehr unbequem," sagte Mutter Hanek und gab sich mit einem unbestimmbaren Seitenblick zufrieden. Werla konnte also am nächsten Feierabend mit der gewohnten Straßenbahn fahren. Eine ganze Kolonne vom Werk benutzte den Wagen. Einige stiegen eher aus, einige mußten an Kreuzungspunkten eine andere Linie nehmen. Seit einer Woche beobachtete Werla, daß zum Schluß immer nur er und eines der Mädel aus dem Lohnbüro im Anhänger sitzen blieb. Umständlich stopfte er sich an diesem Tage eine Pfeife. Di« Angestellte klappte ihr Buch zu und lächelte mit spitzem Mund:„Nun, Herr Werla, Sie kennen nach der Arbeit wohl keine Menschen mehr? Jeden Abend begegnen wir uns in diesem Wagen, aber Sie grüßen kaum, wenn wir beide an der gleichen Haltestelle abbiegen. Berechne ich Ihren Akkord vielleicht nicht ordentlich?"- Seine Hand fuhr über den Bart, strich bedachtsam zur Seite und er blickte auf seine Pfeife dabei. Wie— zum Teufel— sollte er da antworten? Langsam wurde sein Blick kecker. Wenn die anfing, dann durfte er wohl reden. Hm— jung war sie nicht gerade und sicher auch ein wenig dick. Unter dem schiefen Hut, Pelzbesatz am Hals, sah sie zwar beinah wie eine Dame aus. Während sie ihn anlachte, hatte sie die Hände in den Schoß gelegt, chre Brüste strafften den Stoff des seidigen Mantels. Bis hart ans Knie reichten die prallen Russenstiefel, man sah nur einen Streif des dünnen Strumpfes. Sie erschien ihm anders, hochmütiger und— hübscher als die Frauen, mit denen Annie und er Umgang pflegten. Deshalb, ein wenig scheu vor dem Fremden, hatte er vermieden, nnt ihr zu sprechen. Ueberhaupt, wer vom Büropersonal sprach mit einem Arbefter? (Fortsetzung folgt.)