Nr. 603 47. Jahrgang
1. Beilage des Vorwärts
Donnerstag, 25. Dezember 1930
Alle Jahre wieder
Ritter der Landstrasse erzahlen
阿
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Der Bogen um die Heiligkeit".
Wir konnten gestern in einem Buch blättern und es klopfte an die Tür. Wir konnten ein Streichholz anzünden nud es klopfte an die Tür. Wir konnten eine Scheibe Brot abschneiden und es klopfte an die Tür. Wir konnten machen, ras roir rollten, immer klopfte es an die Tür und draußen stand ein Mensch und barmte: ,, Ach, lieber Herr, ein armer Mann bittet um eine kleine Gabe.. Schließlich rechneten wir im stillen: das war eben der Dritte, der einen Kragen um hatte. Hätten diese Menschen geroußt, wie es hinter den Türen aussah, an die sie pochten, sie hätten es sich erspart. Denn der Schein trügt. Der aufgewühlte, menschendurchflutete City- Block, dieser nervenzerreißende Kampf des Handelns um den Käufer, der seinen Höhepunkt erst erreicht, wenn sich die Schatten der Hei ligen Nacht schon in die Häuserschluchten senken, das ist ja nicht Berlin . Bestenfalls nur ein Teil. In der Vorstadt sieht es ganz anders aus, denn hier bedeutet Weihnachten Mühsal. Was nicht einmal etwas mit der heutigen Zeit der Not zu tun hat. Denn auch hier trügt der Schein. Weihnachten heißt in der Vorstadt eine ganze Woche erzwungener Arbeitslosigkeit, kraft der Allmacht des Kalenders. Für den kommenden Sonnabend verlohnt es sich nicht, die Kessel für einige Stunden zu heizen, für den folgenden Montag und Dienstag ebenso nicht, also bleiben die Fabriktore bis zum neuen Jahr geschlossen. Das heißt eine Woche lang kein Geld. Und am Mittwoch, am Heiligen Abend, heißt es noch obendrein:„ Ich bedauere sehr, aber ich kann Ihnen nichts geben, ich schaffe es nicht, bis ein Uhr mittags die Löhne auszurechnen; außerdem haben die Banken zu." So ist die Wirklichkeit. Inzwischen klopfte es wieder, diesmal stand einer ohne Kragen vor der Tür.„ Eine kleine Gabe!"„ Aber Mann, warum kommt ihr denn bloß alle in diese Jammer- stapften wir über den dichten Schnee der Rhön durchs Gebirge, in gegend, hier ist doch nichts zu holen." Da sagte der Bettler: Wenn bei den Arbeitern schon nichts mehr zu holen ist, bei den Reichen schon längst nichts." So kamen wir mit einem zerlumpten, bartumhangenen, ausrangierten, ehemaligen Mitglied unserer Gesellschaftsordnung ins Gespräch.
,, Aber wir sollten Ihnen ja von Weihnachten erzählen. Da ist eins, wie das andere. Wenn es geht, meiden die alten Kunden am Heiligen Abend die ,, Heiligkeit", das ist unser Spitzname für die frommen Herbergen Bodelschwinghscher Richtung. Wir wollen am Heiligen Abend nicht auch noch eine Predigt hören. Denn ein Christbaum steht ja auch in jeder wilden Benne. Manchmal läßt es sich aber nicht vermeiden, daß wir in die Heilig feit" geben, mie damals in Hersfeld an der Rhön . Meistens sind die Polizisten am Heiligen Abend brummig, meil noch ein paar Kunden angefiedert tommen und einen Obdachlosenschein haben wollen, es dauert an diesem Tage etwas länger als üblich. Wir gingen dann rüber in die Heiligkeit", der Hausvater hielt feine Ansprache und um 9.Uhr frochen wir in die Falle. Beim Einschlafen hörten wir spielen. Wir dachten, gut, dann erzählen wir uns eben Wize.. Da vom nahen Kirchturm einen Bläserchor„ Stille Nacht, heilige Nacht" Tam der Herbergsvater herauf und schimpfte: Dieses Haus ist ein christliches Haus, wenn ihr die Strafe Gottes nicht fürchtet, dann will ich nicht, daß sie über mein Haus fomme!" Am nächsten Morgen
einem Dorf gingen wir zum Gemeindevorsteher und meldeten uns wieder obdachlos. Der war auch ärgerlich, daß am ersten Feiertag ihm ein paar Penner auf die Bude rückten, schickte uns dann aber doch ins Armenhaus. Hier war nur eine arme alte Frau, die uns frágfe, ob wir Kuchen hätten. Nein, antworteten mir, dann müßten wir gerade einmal zu den Bauern gehen. Zu Weihnachten ist ja nun alles mitleidig, und so dauerte es gar nicht lange, da hatten wir einen schönen Bazen Kuchen. Die alte Frau fochte Kaffee, wir zogen uns die Schuhe aus und wärmten uns am Ofen ordentlich durch. Das war ein sehr gutes Weihnachten für uns." Ich habe noch fein Schlafgeld, will jemand ein Paar Stullen kaufen, did beschmiert und mit viel Wurst, zwanzig Pfennige das Paar," unterbricht uns ein alter Specjäger, der eben erst zurückgekommen ist und zwei Tage die Dörfer der Umgegend abgeflappert hat. Nee," sagen seine um die Kerze sitzenden Kollegen ,,, ist zu teuer," und dann leise zu uns gewandt: ,, Mann, wir find doch nicht verrückt, wir haben so eine Quelle, da kriegen wir einen ganzen Berg Wurstecken für' n Sechser!"
Ein Marktplatz, eine Herberge und ein Pudel. Dieser Mann hatte einen Treffpunkt. Da mollte er am Heiligen Abend sein. In einer kleinen Stadt, etwas abseits von Berlin , aber gar nicht so weit. Landstreicher machen öfter einen Treffpunkt aus. Bisweilen liegen zwischen zwei solcher Treffpunkte Jahre, manchmal auch ein Jahrzehnt. Denn Landstreicher haben noch das, was wir verloren haben: Zeit. Auch die kleine Stadt, in der wir selbander marschierten, hatte Zeit. Die Häuser standen noch da wie vor fünfhundert Jahren. Nur die Querbalken des Fachwerks mit ihren eingebrannten, verwitterten Lettern hatten sich, ein wenig müde geworden, zur Mitte gesenkt. Im Westen zog sich über den verhangenen, tiefgrauen Schneehimmel ein leuchtend kupferroter Streifen, irgendwo mußte dort die Sonne untergehen. Vom alten Kirchturm her läuteten die Glocken den Abend ein wie vor fünfhundert Jahren. Ueber das holprige Pflaster des ausgestorbenen Marktes stiefelten bedächtig zwei Männer, einer von ihnen schnupperte in der Luft und sagte: Heute gibt's noch Schnee, es riecht so danach." Dann kam der Schnee, leise und kalt. An den überall gleichen Stubenfenstern mit den beiden Gardinen Vierjähriger Junge stedt die Wohnung in Brand. wolfen hockten die Frauen und strickten. Wenn jemand vorüberging, sahen sie auf und grüßten. Der Böttcher hatte über seiner Ladentür ein Faß, der Goldschmied einen Ring und der Schlosser einen großen Schlüssel gehängt, in dieser Stadt war die Zeit stehengeblieben. Manche Menschen sagen auch, in solchen Kaffs wäre nichts los.
Abends gingen wir in die Herberge zur Heimat. Wir mußten uns erst an die Dunkelheit der fümmerlichen Fremdenstube gewöhnen; daß in einer Ecke eine Kerze flackerte und tiefe Schatten über die zerzausten Landstreichergesichter warf, machte den Rahmen nur noch schauriger. Wir dachten: so sehen Räuberhöhlen in den Märchenbüchern aus. Wir teilten diese Stube mit etwa zwanzig Männern, genau drei Frauen, einem Pudel und einer Kaze. Der Budel gehörte einem Leiermann, der spät gekommen war, dessen Drehorgel auf dem Hof unter einem Schuppen stand. Aber der Budel schlief. Die Kaze hob eine der Frauen vom Ofen weg, drückte fie an sich und fragte das Tier: ,, Wo ist denn meine Miez?" Beim Schein der Kerze sprachen wir von Weihnachten . Aber wir hätten ebenjogut über eine Kirchweih oder ein Begräbnis sprechen können. Denn irgendwie sind diese alten Specjäger meise , der morgige Tag läßt sie unbekümmert, sie haben keine Sorgen me hr. Dabei mußten wir sehr aufpassen und uns im Gespräch keine Blöße geben, denn die Landstraße von 1930 ist nicht mehr die von 1913. Viele der alten Leute hätten uns ihre Invalidenkarte Nummer 20, 22 oder gar 25 vormeisen fönnen, sie fannten noch sehr gut unsere Welt. Und als wir uns einiges stenographierten, lachte ein Junger und meinte: ,, Wie das aussieht, wenn man mal wieder Stenographie fieht, ich kann das auch, aber nicht Stolze- Schren, sondern Gabels berger." Ein anderer Junger sagte: ,, Wünschen Sie unseren Schlafraum zu sehen, damit Sie eine gute Milieuschilderung geben können?" Wie ein Keulenschlag traf das:„ Milieuschilderung", diese gewählte Ausdrucksmeise. Vorgestern war ein Anhänger Hitlers in der Herberge. der ging bald wieder, nachdem sie eine Nacht und einen Tag über das Dritte Reich mit ihm diskutiert hatten. Als wir dann von jenem Heim: weh sprachen, das alle Männer einmal überfällt, wo sie alles stehen und liegen lassen möchten, um irgendwohin zu fliehen, verbesserten sie uns und sagten:„ Ach, Sie meinen Fernweh, ja, daran leiden wir alle." So sprachen die 18- bis 25jährigen in jener Herberge, die die Maschinen, die in die Städte kamen, hinaus auf die Landstraße geozen haben.
Dann können wir weiterreden über Weihnachten . Ja, ich muß erst einmal überlegen, uns ist nämlich Weihnachten so piepe, Ach ja,
Kinder in höchster Gefahr.
Feuerwehrmann als Retter.
- Ein
3m Hause königsberger Straße 36 spielte sich gestern cin aufregender Vorfall ab. In der Wohnung des Schloffers P., die im Hochparterre des Seitenflügels liegt, waren die drei Kinder im Alter von vier Wochen bis vier Jahren allein anwesend. Die Abwesenheit der Eltern benutzte der vierjährige Junge dazu, um mit Streichhölzern zu spielen. Dabei kletterte er auf einen Sluhl und versuchte eine Kerze an dem Weihnachtsbaum, der in der Wohnstube bereits geputzt daffand, anzuzünden. Das kind kam plötzlich der Gardine zu nahe, die im Augenblid in Flammen aufloderfe. In wenigen Minuten war das Zimmer völlig mit Qualm erfüllt, und die beiden älteren Kinder frochen in ihrer Angst unter die Betten. Von einer Hausbewohnerin wurde auf dem Hof. Rauch bemerkt. Sie versuchte in die Wohnung Einlaß zu befommen, als aber niemand öffnete und das jüngste kind unaufhörlich schrie, lief die Frau zum Feuermelder, um die Wehr zu alarmieren. Inzwischen war jedoch ein Feuerwehrmann, der Brandmeister Wittke, der zufällig an dem Hause vorüberging, über eine Leiter in die Wohnung eingedrungen und hatte die drei Kinder in Sicherheit gebracht. Sie waren durch die Rauchgase start mitgenommen. Die Wiederbelebungsversuche waren bei allen dreien nach kurzer Zeit erfolgreich. Das Feuer, das sich auf Möbelftüde auszudehnen drohte, konnte dann schnell gelöscht werden.
Todessturz am Weihnachtsabend.
Ein schwerer Verkehrsunfall ereignete sich gestern nachmittag unter der Eisenbahnbrüde in der Wollantstraße in Bankow. Der 24jährige Motorradfahrer Erich Linke aus der Börschstr. 14 in Bankow überfuhr den Zeitungshändler Otto Plenner aus der Berliner Straße 4, der gerade den Fahrdamm überschreiten wollte. Linke kam mit seinem Rad dabei so unglücklich zu Fall, daß er auf der Stelle getötet wurde. Der Zeitungshändler, dem offenbar die Schuld an dem Unfall beizumessen sein dürfte, mußte mit erheblichen Kopfverlegungen in das Pantower Krankenhaus gebracht
werden.
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mir famen von Melniz und marschierten nach Bad Gastein . Als wir von den Bergen famen, lag Bad Gastein wie eine Märchenstadt unten verschneit im Tal. Wir waren fürchterlich abgebrannt, ich hatte mohl drei Hosen an, aber eine so zerrissen wie die andere. Nun fann man sich in Desterreich nicht etwa obdachlos melden, da würde einen der Gendarm sofort ins Sprizenhaus stecken und dann, da wir Reichsdeutsche waren, gleich über die Grenze abschieben. Wir trotteten also durch Bad Gastein , sahen in die festlich erleuchteten Fenster und wirklich, hier fam uns das große Koßen an, nichts zu fressen und da drinnen der Jubel Wir flopften erst gar nicht irgendwo an, machten auch in Hofgastein feinen Halt, bis wir in tiefster Dunkelheit an einen einsamen Bergbauernhof tamen. Uralt war das Haus, das Dach reichte fast bis auf die Erde, mir sicherten uns noch schnell, ob auch kein Hund da wäre, dann riefen wir: ,, He, Bauer. stall, da ist's warm und Decken hat's auch, schloft's da!" Wir ließen macht's mal auf!" Nun, der Mann machte auf, er war ja etwas erstaunt, aber schließlich sagte er:„ Nu, geht's eini in den Pferdeuns nicht lange nötigen."
Christoph, des Kundenkönigs Tod. ,, Vergangene Weihnacht war es ziemlich traurig. Da ist Christoph, der König der Kunden, gestorben. Christoph war ein alter Droschtentutscher aus Berlin . Dem war die Frau mit einem anderen durchgegangen, darüber wurde er ganz trübsinnig, das Geschäft ging auch immer schlechter als die Autos auftamen, und so tam er auf die Landstraße. Am vergangenen Heiligen Abend, wir noch alle schnell, stoßen" gingen, um einige Pfennige zusammenzufriegen, ging er schon nicht mehr aus der Herberge heraus, sondern blieb am Dfen fizen. Als wir in der Dämmerstunde wiederkamen, fragten wir ihn noch: ,, Christoph, ist dir schlecht?" Ja," sagte er, mir ist ganz mies, bringt mich doch mal noch oben." Wir schleppten ihn in eines der Betten, brachten ihm Schnaps, damit er sich aufwärmen konnte, dann war es bald vorbei mit Christoph. Das Atmen fiel ihm immer schwerer, wir rannten schnell zum Arzt, und als der endlich tam, sagte dieser: ,, Ja, hier kann ich auch nichts mehr machen, der Alte ist tot." So hatten wir am Heiligen Abend oben einen Toten im Bett. Als wir seine Taschen umframten, fanden wir noch 500 Milliarden wertloser Inflationsscheine, das war seine Hinterlassenschaft. Den unten in der Fremdenstube versammelten Kunden jagten wir nichts von dem so plötzlich erfolgten Tode Christophs, wir schleppten die Leiche herunter und versteckten sie auf dem Hof. Wir gingen zeitig schlafen, am nächsten Morgen, am ersten Feiertag, stiftete der Herbergsvater für alle Kunden eine echte Tasse Bohnentaffee und zwei Stücken Kuchen. Das war unser letztes Weihnachten."
Abschied von der Braut.
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Inzwischen war es in der Fremdenstube noch voller geworden, auch etwas lauter, denn Gustav wollte sich von seiner Braut trennen. es war wirklich ein Mädchen, mie Wir glaubten, sein Mädchen wäre Gustav auch einer von den Jüngsten in der Herberge war ihm untreu geworden, aber nichts von alledem, sein Mädchen fühlte fich nur vernachlässigt, weil Gustav abends immer so lange Karten spielt. Da wallte in Gustav der Freiheitsstolz auf und er verkündete allen trotzig: Macht, was ihr wollt, ich haue ab, ich brauche keine Weiber!" Dann packte Gustav feine fieben Sachen ein, wenn es sieben waren, die jüngeren Kunden sahen sich das Mädchen an und bachten: dann wird sie eben meine Braut. Nur die alten Speckjäger, die rund um den langen Tisch saßen, verschwendeten weder einen Blick nach dem Mädchen noch hörtert sie zu. Dann kam die alte Emmi, ein 61jähriges Menschenwrack, das auch einmal bessere Tage gesehen hat, stellte ihren Feldstuhl am Ofen auf und begann sich die Haare zu kämmen. Früher führte sie ihrem Bruder die Wirtschaft, nachdem dieser Bruder gefallen war, wurde auch sie trübsinnig und landete schließlich in den Herbergen zur Heimat. Jezt handelt sie mit Streichhölzern, manchmal singt sie auch, sie soll eine ganze Menge zusammenfriegen. Aber sie spart alles. Sie ist der personifizierte Geiz, schläft nie in einem Bett, denn das kostet ja 40 Pfennig pro Nacht, sondern auf einer harten Pritsche, die umsonst ist. Als die alten Kunden zu ihr sagten: ,, Emmi, tauf dir doch eine Decke, da oben ist es doch falt," brummte sie nur und meinte, ein altes Beib brauche feine Dede mehr. Das ist die alte Emmi, wäre sie ein Mann, sie wäre widerspruchslos der Nachfolger Christophs, des Kundenkönigs, geworden. Wir tippen noch einmal an und fragen nach dem diesjährigen Weihnachten. Tja," meinte einer ,,, wir merten die Krise auch, Groschen gibt es gar nicht mehr, und wo es sonst Sechser gab, gibt es heuer nur Pfennige. Aber bange sind wir eigentlich nicht, zu Weihnachten ist die Welt mildtätig, und wenn wir uns am Heiligen Abend soviel zusammengefochten haben, daß wir uns befaufen können, dann sind wir ja schon zufrieden."
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Zufrieden" hatte der alte Pennbruder gesagt. Wir sprachen nicht niel, als mir durch die flare, talte Winternacht zurücktrotteten. Im Westen leuchtete jetzt der Orion, fern und schön.
Irgendwo waren unsere Gedanken....