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Rudolf Merre: Leipziger   Bilderbogen

Leipzig  , der Ort des diesjährigen Parteitags, wird im all-| das schmale Hochhaus der Krochbant, die Kirche zu. St. Pauli und gemeinen nicht zu den Städten Deutschlands   gerechnet, in denen man das Hauptgebäude der Universität auf, im Osten die Hauptpost sowie gern begraben sein möchte. Es zeichnet sich weder durch berühmte| das zehnstöckige Europahaus mit seinem Restaurations- Dachgarten. Kunst- Sammlungen aus, wie etwa Dresden   oder München  , noch Auf dem Blaze finden gewöhnlich die großen Demonstrationen der durch ehrwürdige Baudenkmäler, wie beispielsweise Nürnberg   oder Leipziger   Arbeiterschaft statt; während des Kapp- Putsches spielten Lübed, noch durch seine Lage an einem breiten, sonstige Mängel sich hier besonders erbitterte Maschinengewehr- und Nahkämpfe ab. verdeckenden Strom wie Breslau   oder Köln  . Auch hinsichtlich des Das Volkshaus. internationalen weltstädtischen Trubels steht es- abgesehen von den Messezeiten hinter Berlin   oder Hamburg   zurück; und die Um­gebung hat meist bloß für den nennenswerte Reize, der mangels Masse" sowieso nicht über sie hinaus kann. Das Gros der trotzdem recht zahlreichen Fremden kommt infolgedessen vor allem zu Handels­zmeden und zu Kongressen her oder aber, weil es eben nicht anders vom Osten nach dem Westen und vom Norden nach dem Süden zu gelangen vermag.

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Straßenbahn.

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Berläßt man den Bahnhof durch eine der zwei großen Empfangshallen, so gelangt man auf den breiten Vorplatz mit viel gleifiger Straßenbahnhaltestelle; nach dem Voltshause fahren die Wagen der Linie 10 und 11 ganz drüben auf dem jenseitigen Gleise. Die Leipziger   Straßenbahn zeichnet sich in auffälliger Weise durch eine ans Fabelhafte grenzende Mannigfaltigkeit ihres ,, Fuhrpartes" aus: geschlossene und offene, lange und furze, hohe und niedrige Wagen, Wagen mit den Zugängen in der Mitte oder an den zwei Schmalseiten, mit doppelten oder einfachen Türen, mit Lederpolster, Stoffüberzug oder gar nichts auf den Eigen, mit langen oder quer gestellten zweipopoigen Bänken, mit oder ohne Stationsanzeiger, wechselnd in bunter Reihenfolge. Dagegen ist die Tücke, mit der ein Zug zehn Minuten auf sich warten läßt, gerade wenn man es am eiligsten hat, eine Eigentümlichkeit aller Trambahnen der Welt- beziehungsweise ihrer Benußer.

Stadtbefestigung.

Hat man sich einem Wagen der Linie 10 oder 11 anvertraut, am zum Voltshause zu fahren und somit fünfundzwanzig deutsche Reichspfennige los zu werden, so kann man nicht umhin, zu bemerken, daß die Fahrt an hübschen Promenadenanlagen hingeht; links von der Goethestraße schimmert sogar ein länglicher Teich durch das Grün. Es ist die gärtnerisch in sehr netter Weise um­gestaltete einstige Stadtbefestigung, und das bemeldete Gewässer stellt den noch nicht verstorbenen Rest des früheren Waldgrabens dar. Binnen einer furzen Stunde läßt sich. in diesem Parkstreifen die ganze City umwandern und damit eine Uebersicht über die natürliche Lage und Ausdehnung des alten Leipzigs   gewinnen. Es wurde im zehnten Jahrhundert neben einer sorbischen Siedlung namens Lipzt als Stützpunkt für die weiter ostwärts drängenden deutschstämmigen Kolonisten angelegt nach dem üblichen Schema jener Zeit: auf dem rechteckigen Marktplak mündeten die vier Hauptstraßen, während zahlreiche enge Gassen sie miteinander verbanden oder parallel zu ihnen das Stadtgelände durchzogen. Der heutige Umfang wurde von pornherein festgelegt und auch bald befestigt, aber erst allmählich wirklich ausgefüllt. Noch in der napoleonischen Zeit standen am Reumarkt und am Brühl  , dem jezigen Mittelpunkt des deutschen  Rauchwarenhandels, allerlei Gehöfte und Gärten.

Auguftusplatz.

Kommt man nach diesem historischen Abstecher wieder zu fich, So hat die Straßenbahn einen inzwischen bereits zum Auguftusplatz geschleppt, per dem Baedeker zufolge einer der größten und schön ften Pläge Deutschlands   ist: das mit der Größe dürfte wohl stimmen und über den Geschmack läßt sich bekanntlich nicht streiten. An der Nordseite erhebt sich das neue Theater mit der städtischen Oper, ihm gegenüber die Gemäldegalerie; am Westrande fallen hauptsächlich

Harald Kreutzberg  :

Am Königsplay biegen wir in die breite Zeiger Straße ein, in der sich das Volkshaus erhebt, das demnächst das Reichsparla ment der deutschen   Sozialdemokratie beherbergen wird. Beim Kapp- Butsch durch die bekanntlich staatstreue, republikanische Reichss mehr fast bis auf die Grundmauern niedergebrannt, wurde es in den folgenden Jahren größer und moderner als zuvor wieder auf­gebaut; trotz der Inflationsnöte verzichtete die Arbeiterschaft damals auf einen Teil ihres wöchentlichen Lohnes, um die Finanzierung ihres Heimes ficherzustellen. Neben einem riesigen Restaurations betrieb mit eigener Fleischerei und Bäckerei, mit Weinstuben, Café und Hotel sind im Volkshaus fast sämtliche Gewerkschaftsbüros untergebracht, ferner zahlreiche Säle und Beratungszimmer. Räume für die verschiedenen Kulturorganisationen, die sozialistischen   Stu­denten, die Bibliothek, die Partei und anderes mehr.

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Es ist sicher richtig, daß, wie fürzlich ein Bigblatt treffend bes merkte, die Bewegung in der demokratischen Partei vorwiegend aus Sizungen bestehe; aber auch der tüchtigste Funktionär fann nicht vom Sigen allein leben! Er verbringe also die Tage seines Leipziger  Aufenthaltes nicht. ausschließlich im Tagungslokal, sondern sehe sich auch etwas in der Stadt um. In viertelstündigem Marsch kann man beispielsweise die großartige Schule des Arbeiter- Turn- und Sport: bundes erreichen. Bequem mit der Straßenbahn zu erschaffen ist ferner ein Besuch des prächtigen, von dem bekannten Hamburger  Architekten Frig höger entworfenen Verwaltungsgebäudes und Hauptlagers des Konsumvereins Leipzig Plagmit, des größten und modernsten Geschäftshauses Mitteldeutschlands  ; und die Verlagsbauten der Volkszeitung sind nur wenige Minuten vom Hauptbahnhof entfernt. Lohnend ist auch ein Gang nach der Deut fchen Bücherei mit ihren herrlichen Lesefälen, in der das ganze, feit dem 1. Januar 1913 erschienene deutschsprachige Schrifttum ge­sammelt wird; in ihrer Nähe liegen zahlreiche gewaltige Gebäude­Komplexe: die Großmarkthalle mit zwei Riesen- Betonkuppeln und eigenem Bahnhof, die Tierärztliche Hochschule  , die Universitätsfrauenklinik, das städtische Kinderkrankenhaus und das Gelände der Technischen Messe mit mehr als zwanzig der größten Hallen der Welt. Darunter ragt eine wohlgeordnete, etwa neunzig Meter hohe Ansammlung von Steinen empor, die sich bei näherem hinschauen als das Wölferschlachtdenkmal entpuppt; es hört im Volksmunde auf den Namen Nietenpyramide", da ſein Bau durch eine Lotterie finanziert wurde, die den Leuten durch ihre unzähligen Null- Scheine unangenehm im Gedächtnis blieb.

Industrie.

Die Industrie, hauptsächlich Maschinenbau   und Tertil fabriken, figt vorwiegend in den westlichen Vororten, während der Berlagsbuchhandel im inneren Osten vorherrscht und die Rauchwarenbranche den Brühl   in der Altstadt otkupiert. Der Schiffsverkehr beschränkt sich auf den Betrieb etlicher hundert Wannen, Grönländer und Ausleger; die substantielle Grundlage der bekannten Sage vom Südflügel des Mittelland- Kanals fann man in Plagwih mehr beschnüffeln als betrachten, da das trübe Wässer­chen ganz unverzeihlich zum heißen Sommerhimmel hingüfftinft. Die Eingeborenen sind im allgemeinen völlig friedlich und fulti­vieren einen gemeinen, aber herzlichen Ton; berühmt sind sie durch ihre höchst eigenartige Behandlung der deutschen Sprache, worüber Hans Reimann   hinlängliche Aufklärung gibt.

Ich tanzte durch einen Kontinent

Als Pionier deutscher Kunst in Amerika  

Der Tänzer, der als Pionier des neuen Tanzes Amerika   besucht, steht immer vor einer schweren Aufgabe. Eine solche Tournee ist alles andere, nur kein reines Vergnügen. Sie stellt physisch eine außerordentliche Leistung dar, denn es ist keine Kleinigkeit, inner­halb weniger Monate eine Strecke von 25 000 Meilen per Bahn zurückzulegen und dabei noch 70 Tanzabende zu geben. Wenn auch die amerikanischen   Reiseverhältnisse besser sind als die europäischen  und der ganze Betrieb schon darauf eingestellt ist, daß man tagelang mur im Zuge lebt, so geht diese ununterbrochene Hetze doch stark auf die Nerven. Dabei muß naturgemäß der ganze Plan der Tournee von Anfang an fig und fertig vorliegen und muß auf die Minute eingehalten werden, sonst können tolle Verwirrungen entstehen, die meistenteils nicht nur Zeit, sondern auch Geld kosten. Wenn man dann am Abend in irgendeiner Stadt getanzt hat und zum Zuge hezen muß, um über Nacht das nächste Ziel zu erreichen, so ist das ficher auch feine Annehmlichkeit. Allerdings entschädigten uns die großen Erfolge, die wir auf der Tournee ernten fonnten, reichlich für unsere Mühen, aber deshalb bleibt es doch eine Strapaze.

Die Amerikaner sind ein überaus dankbares Publikum, und es ist nicht zu viel gesagt, wenn ich die Aufnahme, die man uns in aller Städten bereitete, einfach als phantastisch" bezeichne. Der Ameri­faner mag fühl erscheinen, aber wenn er für eine neue Sache ein­mal gewonnen ist, fann er auch lichterloh brennen und ist be= geisterungsfähig wie der temperamentvollste Romane. Und wir famen ja mit einer neuen Kunstgattung, die ihm noch nicht zur All­täglichkeit geworden ist.

In Amerika   durften wir natürlich nicht die gleichen Voraus segungen an das Publikum stellen, die wir hier zu stellen gewohnt sind, denn der neue Tanz wurde den Amerikanern bis jetzt nur ver­einzelt von einigen unserer prominenten Tänzer und Tänzerinne gezeigt, zu denen in letzter Zeit auch Mary Wigman   gehörte. Die Amerikaner fennen den Step, sie kannen auch die mehr oder minder akrobatischen Tänze, wie wir sie in Varietés sehen, sie stehen noch durchaus im Banne des metrischen Rhythmus. Unser moderner Kunsttanz aber mit seinem freien Rhythmus, der nicht den Inhalt und den Geist in ein starres Schema preßt, sondern die Form er­wachsen läßt aus dem inneren Leben des Kunstwerkes, der sich den wechselnden Erscheinungen anpaßt und dadurch eine flüffigere, ab­wechslungsreichere Gestalt erhält, der ist dem Amerikaner noch etwas Neues. Man fühlt, wenn man auf der Bühne steht, ganz deutlich, ob ein Publikum vorhanden ist, das sich schon in diese modernen Ideen eingelebt hat oder nicht. Denn das Geheimnis des modernen Tanzes beruht darin, daß der Zuschauer versteht, alles Körperliche, Erdgebundene aus dem Geiste auszuschalten und die abstrakten Formen des modernen Tanzes begreift, der nicht irgendein Ge­schehen darzustellen versucht, sondern seinen Kunstwert in dem Spiel ber Linien findet. Es liegt hier ein neuer Kunstwert vor, der auch

ein neues Begriffsvermögen in ästhetischer Beziehung voraussetzt. Es charakterisiert den Wert des Tänzers, wie start er dem Bublifum diesen seinen Willen suggestiv aufzuzwingen und einzuprägen ver= mag. Diese Richtung ist aber dem Amerikaner noch etwas Neues, Ungewohntes, denn er ist in der Hauptsache noch an das alte Ballett und die Revue gewöhnt, die allerdings drüben in ganz vorzüglicher Weise wiedergegeben werden.

Um so angenehmer war ich deshalb überrascht, daß die Ameri­faner begeistert mitgingen. Sowohl meine Partnerin Yvonne Georgi   wie auch ich selbst wurden enthusiastisch gefeiert. Nach dem Publikum zu urteilen, waren unsere Abende fast durchweg gesell­schaftliche Ereignisse. Die gleiche Erfahrung hat auch Mary Wig­ man   während ihrer Tournee drüben gemacht. Auch sie wurde von den Amerikanern auf Händen getragen.

Das eigentümliche war nur, daß die Vollblutamerikaner sich interessierter zeigten als die Deutschamerikaner. Als die Argentina  vor kurzem in Amerika   ihr Können zeigte, gab es fast feinen Spa­nier im ganzen Lande, der nicht einen ihrer Tanzabende besucht hätte. Die Deutschen   drüben verhielten sich uns gegenüber wesent­lich spröder. Wir hatten in manchen Städten, z. B. in Milwaukee, einen großen Prozentsaz deutscher Besucher, in Cincinnati   dagegen, mo doch fast ebensoviel Deutsche   wohnen, fast nur Amerikaner als Bublifum. Man merkt auch drüben auf der Tournee die Aus­wirkung der Wirtschaftskrise, vor allem in den mittleren und fleineren Städten. Während wir in den Großstädten fast durch­weg einen hundertprozentigen Besuch hatten, kam er in den fleineren und mittleren oft faum über 75 Prozent hinaus, was bei unserer Tournee im Vorjahre nirgends vorkam. Trotzdem fann ich ruhig sagen, daß wir in Deutschland   nicht immer ein so begeisterungsfrohes Publikum gefunden haben, wie es drüben zu uns fam. Auch das hat natürlich seinen tieferen Grund. Amerika   ist ein Land mit einer viel jüngeren Kultur als Europa  . Der Amerikaner, der sich dessen mohl bewußt ist, greift gierig nach allen neuen künstlerischen Offen barungen, die aus der alten Welt herüberkommen. Genau so wie sie die besten Sänger, die besten Dirigenten zu sich herüberzuziehen suchen, begrüßen sie auch die Künstler des neuen Tanzes emphatisch. Meine Partnerin, Yvonne Georgi  , die bekanntlich eine der talentier. testen Wigman  - Schülerinnen ist und die heute für mein Kunstschaffen die idealste Ergänzung bildet, riß in ihren solistischen Leistungen wie auch bei unserer gemeinsamen Arbeit die Amerikaner zu einer restlosen Begeisterung hin. Ihr ausgezeichnet trainierter Körper, die Klarheit ihres Formmillens, ihre Jugendfrische und ihre poeti­schen, fonturenreichen Visionen faszinierten, weil diese neue Kunst alles scheinbar leicht, fast spielend zu geben scheint und die Intuition des Augenblics immer ein neues Kunstwert schafft. Die Begeiste rung der Amerikaner spornfe uns naturgemäß zur Entfaltung un­

! feres ganzen Rönnens an. Wir fühlten uns als Pioniere deutscher Kunst!

Wir haben uns in New York   auch den berühmtesten ameri­tanischen Steptänzer El Robinson angesehen, von dem die Ameri­faner so begeistert sind. Obgleich man seine Leistungen fast mit Genial bezeichnen kann, ein Vergleich mit dem deutschen   Kunsttanz ist unmöglich, weil diese Darbietungen auf einer ganz anderen Ebene liegen. Um so mehr hat es uns gefreut, daß die Amerikaner auch unserem Schaffen Gerechtigkeit widerfahren ließen, und wir sind fest entschlossen, den Vertrag, den man uns für eine mehr­malige Wiederholung unseres Gastspiels angeboten hat, anzunehmen und im nächsten Jahre wieder quer durch den amerikanischen   Kon­tinent zu tanzen.

Erna Büsing: Berlin   W

Einst sah sie gute Zeiten, diese Wohnung in Berlin   W. Es standen kostbare Möbel in den Räumen und jedes Möbelstück hatte eine Tradition. Ja, die Menschen betrachteten diese Möbel mit einer gewissen Ehrfurcht. Träger von Ramen hatten diesen Stuhl zum Lieblingsplatz erforen oder an jenem aufklappbaren Sekretär irgend­ein Schriftstück von Bedeutung verfaßt. Den Möbeln schadete ihr Alter nichts, im Gegenteil, es steigerte ihren Bert. Eine Eigentüm­lichkeit, um die Menschen Möbel unbedingt beneiden können.

Doch Krieg und Inflation änderten nicht nur das Leben der Menschen, sie änderten auch das Leben dieser Möbel. Die Bewohner von ehedem verließen die Wohnung, begruben schleunigst die Ehre furcht vor ihren alten Möbeln, betrachteten sie als eine gute Mög­lichkeit zum Schachern, verkauften sie, ließen sie sich nach regulärem Wert in Dollars bezahlen und fuhren mit dem Gelde in die Schweiz  . Darauf durchtobten Raffles und ihr Anhang die Wohnung. Man feierte Feste und schonte dabei die Möbel nicht. Man becoẞ sie mit teuren Getränken, man mußte doch die Sektpfropfen lustig und möglichst laut bei offenem Fenster knallen lassen, um die Nach­barschaft zu ärgern und um den eigenen Kredit zu steigern. Schacherer räkelten sich in den Möbeln zu wichtiger Beratung. Alle diese Leutchen dachten, sie seien Kaufleute, weil sie, dank ein paar lumpigen Dollars in der Hosentasche, fragen konnten: Was kostet Berlin  ?" Sie erramschten ein Theater, nicht weil sie etwas vom Theaterbetrieb verstanden oder weil sie Kulturaufgaben lösen woll­ten, sondern weil die Kapitelle seiner Säulen mit Kupfer belegt waren und Kupfer stand hoch im Kurs. Diese Kaufleute traten die Möbel mit Füßen, sie hofften nämlich dadurch zu beweisen, daß sie von Haus aus an Eleganz gewöhnt seien. Die canze Wohnung war das typische Bild für Berlin   W., hier hatten sich die Parasiten festgesetzt, um mühelos, mit der Kaufkraft fremder Papiergeldlappen, Deutschland   auszusaugen.

Deutschland   kam zur stabilen Währung und es war heulen und Zähneklappen in der Wohnung in Berlin   W. Die großen Kauf­leute von ehedem waren in furchtbarer Haft. Sie verfanten nicht mehr in den Möbeln, sie setzten sich nur noch auf den Rand; denn die Herren waren immer auf dem Sprung, befürchteten unliebjame Bekanntschaften mit Staatsanwälten und anderen beruflich hoch­stehenden Persönlichkeiten und verschwanden schließlich nach mehreren eiligst geführten Ferngesprächen bei dunkler Regennacht aus Berlin  .

Dann stand die Wohnung leer und nun werden von ihr Zimmer obvermietet. Die Wohnungsinhaberin ist noch ein lleberbleibsel der Inflation. Sie bekam die Wohnung samt Möbel als Abfindung. Madame kümmert sich weder um die Wohnung noch um die Mieter. Madame lebt nur ihrem Fleische, das heißt, sie geht schon nachmittags tanzen und kehrt beim Morgengrauen in ihre recht­mäßige Behausung zurück. Die Möbel verkommen, ihr Holz ist nicht gepflegt, ihre Ueberzüge find zerschliffen, sie sehen in der Tat nach Madame nimmt keine Rücksicht auf sie und läßt sich

schwer in den Sessel fallen, der am Fenster steht, wenn sie in der Morgenfrühe dem Chauffeur den Rest des Fahrgeldes, den sie sich schleunigst von einem Untermieter borgte, aus dem Fenster wirft.

Beide Untermieter sind ihr verpflichtet. Der eine ist ein aus­ländischer Journalist, ein alter, müder Mann, der fabelhafte Bilder aus dem Berliner   Nachtleben schreibt. Dieserhalb braucht er, was ganz seiner Meinung entspricht, nicht aus dem Haus zu gehen; denn er verdient, in des Wortes vollinhaltlicher Bedeutung, sein Geld durch Madames schlaflose Nächte. Sie erzählt nämlich von ihren Erlebnissen. Sie weiß, wo man Kots schnupft, wo man dem Glücks­spiel frönt und wo sich die Boger amüsieren, ohne daß ihre Ma­nager es jemals erfahren. Sie fonnt alle Masseure der großen Sportkanonen und weiß daher immer, wo eine Sonne im Aufgehen begriffen ist. Sie plaudert, sie verteilt freiçebig die ausnußungs­reichsten Anregungen. Und er schreibt und bleibt darım in dieser, von Madame nie aufgeräumt werdenden Wohnung. Was fümmert es ihn! Ein Journalist weiß sich zu helfen. Er bezahlt nicht mur die Zimmermiete, er bezahlt auch die Aufwartefrau, die jeden Tag tommt, treu und umsichtig nach dem Rechten sieht und Madame den Kaffee ans Bett trägt.

Und der andere Mieter? Nun, er ist ein Ingenieur. Er hat mal in der Wüste gearbeitet und er hat in Kulturländern in Gegen­den gelegen, die noch öder find, als die Sandwüsten es je sein können. Aus Verzweiflung hat er sich damals der Kochkunst gewidmet. Nun hat er einen unheilbaren Schwarm für die Küche davongetragen, und da er in dieser Wohnung frei schalten kann, versieht er, was die Verpflegung anbelangt, das ganze Hauswesen. Er hat wenig Zeit, jedoch er ist ein Mann und zudem noch auf Technit eingeschworen. Instinktiv versucht er 3eit zu sparen. So fommt er von selbst auf immer neue Erfindungen, und da er sich vor dem Patentamt und anderen Behörden nicht fürchtet, werden sie auch angemeldet. Er verdient mit allen seinen Erfindungen. Man droht ihm, der Gegen­wartsmode gemäß, immer mit dem Abbau, aber er fürchtet ihn nicht mehr, weil der erfundene Tomatenschneider und der Plissier­apparat sowie die neue Vorrichtung, die den Bügelfalten eine lange Lebensdauer verleiht, sehr gut gehen und bald restlos ihren Mann ernähren.

So flutet und ebbt wieder neues Leben über die aften Möbel hinweg; denn diese Wohnung ist in all den sich ändernden Zeiten stets so etwas Aehnliches wie ein Symbol von Berlin   W.

Die ersten Begetarier wurden verbrannt. Faft allgemein gilt der Engländer J. Newton, der im Jahre 1811 ein Buch über den Nuzen der Pflanzenkost herausgab, als der erste Apostel des Vege­tarismus. Die Anfänge der vegetarischen Lebensweise reichen jedoch noch weiter zurück. Im Jahre 1682 bildete sich nämlich in Moskau  eine Sekte, deren Anhänger sich Philippiner nannten, und bei denen alles Fleisch wie überhaupt alle von Tieren stammenden Nahrungs­mittel ebenso streng verpönt waren wie geistige Getränke. Die Leute lebten also nur von Grünkost und befanden sich zunächst auch wohl dabei. Bald aber erfuhr die hohe Obrigkeit von ihrer Vorliebe für die Pflanzenkost und die Folge davon war der Befehl, die vegetarische Lebensweise sofort aufzugeben. Wer sich dem Befehl widerseßte, murde, wie ein zeitgenössischer Bericht meldet, verbrannt, ge­viertheilet und gespissen".

Berantwortlich für Politik: Tr. Curt Geyer  ; Wirtschaft: 6. Klingelhöfer; Gewerkschaftsbewegung: S. Steiner; Feuilleton  : Dr. John Schitowski; Lokales und Conftiges: Frik Karstädt; Anzeigen: Th. Glode; fämtlich in Berlin  . Berlag: Borwärts- Berlag G. m. b. S., Berlin  . Drud: Borwäris- Buchdruderet und Berlagsanstalt Taul Singer u. Co., Berlin   S 68, Lindenstraße& Hierzu 2 Beilagen und Jugend- Borwärts.