föellage Sonnabend, 15. August 1931
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In der spanischen Fremdenlegion 4km unvorhergesehener Besuch/ Von Hei«; Christmann
Ein„Capo", Unteroffizier der spanischen Legion, dessen Dienstzeit abgelaufen war, führte uns in R i f f i e n, dem Hauptlager der spanischen Fremdenlegion, ein. Ein ausgedehntes Gelände mit vielerlei Gebäuden, langgestreckten Baracken, Zeltlagern, Exerzier- Höfen, Ställen, Waffenlagern, einem großen Offizierskasino, das ist das Lager Riffien. Zweitausend Legionäre leben hier. Unser Führer meldet uns an. Man läßt uns eintreten. Die Offiziere sind zum größten Teil nicht da, sie sitzen in Eeuto, wo es an- genehmer sein mag. Die Nachricht, daß Landsleute angekommen sind, verbreitet sich wie ein Lauffeuer unter den Deutschen . Mit über- strömender Freude werden wir begrüßt. Einen gewissen Prozent- satz machen die Legionäre aus, die irgendwelcher Vergehen halber sich dem Staatsanwalt entzogen. Als besondere Kuriosität fanden wir z. B. einen biederen Bauernburschen, der in Pommern dem Stahlhelm gleich drei Ortsgruppen ge- gründet hatte, Uniformen usw. großzügig auf eigene Rechnung destellte und die Bezahlung hinterher mit einem gefälschten Wechsel vornahm— auf fünf Jahre hatte er sich gleich in Angst und Schrecken der Legion verpflichtet, obwohl drei Jahre die Mindestzeitdauer ist. Neben denen, die aus Gründen solcher Art hierher gekommen sind, trieb viele Abenteuerlust. Sie meinten, hier ein wildes Sol- datenleben führen zu können— und inußten erfahren, daß der Aufenthalt jenseits eines sehr eng bemessenen Terrains schon als Desertion gilt. Bei weitem die Mehrzahl jedoch ist nicht ohne Zwang nach Afrika gegangen. Niemand ist zwar dabei, den ein spanischer Agent gezwungen oder auch nur„veranlaßt" hätte, zur Legion zu gehen; nein, gezwungen hat, und das trifft gerade für Deutsche am meisten zu, ganz etwas anderes, die bitterste Not. Die normale Geschichte eines deutschen Legionärs ist folgende: Als junger Mensch arbeitslos geworden, will er seinen Eltern nicht zur Last liegen, geht auf Wanderschaft. Kommt ins Aus- land, kommt auch nach Spanien . Die letzten Notgrofchen find auf- gezehrt, Arbeit gibt es auch hier nicht, Spanien ist schwach bevölkert, die Entfernungen sind weit, er hungert und verkommt immer mehr. Kein deutscher Konsul gibt ihm einen Pfennig Unterstützung oder Mittel für die Heimreise— da sieht er ein Werbeplakat der Legion. Es verspricht für drei Jahre geordnete Verhältnisse, es verspricht Kleidung, Brot, dazu noch ein Handgeld von mehreren hundert Peseten, zahlbar gleich beim Eintritt, wer will da noch widerstehen? Parallel mit dem Anwachsen der deutschen Wirt- schaftskrise steigt auch die Zahl �der.. Deutschen in der Legion rapide an. Der Andrang der am Leben Verzweifelnden aller Länder ist so groß, daß man sich ein« sorgsame Auswahl der„Be- Werber" erlauben kann. Es gibt kaum einen Legionär, der nicht schon nach wenigen Wochen seinen Entschluß, zur Legion zu gehen, bitter beklagt hätte. So unterhalte ich mich lange mit Zwei jugendlichen Genossen. Sie befinden sich jetzt, nach einem Leidensweg durch Spanien , seit zwei Monaten in Riftien. Beide haben Tränen in den Augen, als sie nach Europa hinüberwcisen, nach dem aus dem Meere stell emporragenden Gibraltarfelsen, der so nahe ist, der die Freiheit bedeutet— und der doch unerreichbar bleibt. Zwar ist das Leben hier nicht so, wie es in vielen alten Legionärsbüchern geschildert wird, mit seiner fürchterlichen BeHand- lung und seinen unmenschlich harten Strafen. Darin hat sich manches gewandelt, auch steht die Strafzumessung in der spanischen Legion der in der französischen bedeutend noch. Aber trotzdem— für einen geistig nicht völlig abgestumpften Menschen bedeutet jeder Tag in der Legion eine unbeschreibliche Oual. Dabei ist Riftien als feste Ansiedlung noch bei weitem am erträglichsten, wenn auch 90 Proz. der angeblichen„kulwrellen Errungenschaften" Schein sind. Es gibt z. B. eine auf Stiftungen beruhende kleine Biblio- t h e k, aber sie ist dauernd geschlossen. Es gibt ein modernes Wasserwerk, auf einem kleinen Bord hat man in demselben eigens ein Wasserglas plaziert, damit ein eventuell hoher Besuch sich von der Qualität des Wassers überzeugen könne, aber es ist außer für die Küche nur für dos Offizierskasino und die— Pferde- tränke bestimmt. Den Soldaten steht ein schmales, schmutziges Rinnsal am Rande des Camps zur Verfügung. Es gibt sogar Brausebadanlagen, aber eineinhalb Jahre vor unserem Besuch sind sie anläßlich einer Besichtigung zuletzt in Betrieb ge- wescn. Es gibt endlich Klosetts mit Wasserspülung, doch nur im Kasino; den Soldaten steht dafür überhaupt kein Abort zur Verfügung. Rings um dos Camp herum ist ja soviel Platz... Es ist daher verständlich, wenn ein ganz großer Teil der Legionäre versucht, irgendwie vorzeitig freizukommen. Viele desertieren, aber nur ganz wenige kommen durch. Nicht so sehr deswegen, weil die Schwierigkeiten so un- überwindlich wären, als vielmehr aus dem Grunde, weil diese Menschen in dem allmählich völlig abhanden gekommenen Ver- trauen aus sich selbst zuviel Mitwisser brauchen, unter denen sich dann angesichts der lockenden Belohnung fast immer ein Ver- räter findet. Ein anderes beliebtes Mittel zum vorzeitigen Freikominen ist das Simulieren von Krankheiten, meistens Geistes- krankheiten, und die Selbstverstümmelung. Nach einigen wenigen Tagen des Zusammenseins mit Legionären sind uns schon einige Dutzend derartiger Mittel bekannt; manchmal hoben die Betreffenden damit auch den gewünschten Erfolg. Hunderle sind schon darüber zugrunde gegangen. Am Rande des eigentlichen Lagers befindet sich jenes Viertel, in dem die Legionäre ihre„Freizeit" verbringen. Es besteht aus einem großen Schankhaus und einer langen Reihe— Proftituiertenhäuser. Die spanische Militärverwaltung macht eine große Reklame damit, daß sie einen so guten— im Vergleich zu Frankreich auch tatsächlich hohen— Sold zahle. Aber sie könnte gern das Doppelte zahlen, ohne daß es sich wesentlich bemerkbar machen würde. Dieser Sold fließt nämlich so gut wie restlos an die Schankstube und an die Prostituierten zurück; die Militärbehörde zieht dann von diesen den wesentlichen Teil als Steuer wieder ein... Das Schankhausviertel gestattet den unverfälschtesten Einblick in das Niveau des Legionärlebens. Oh, es geht alles sehr f r i e d- lich zu; Schtägereien und überhaupt rüpelhaftes Benehmen kennt
man kaum. Solange man Geld hat, und dos ist bei den meisten nur wenige Stunden nach der Löhnung der Fall, steht man an der Theke der erschreckend öden Wirtsstube oder man sitzt um einen der schmutzigen Tische herum, einer nach dem anderen gibt eine „Runde" aus für alle, die sich gerade zusammengefunden haben, bis eben das Geld wieder einmal alle ist. Dann spielt man Karten, lehnt sich gedankenlos in irgendeine Ecke, schlendert planlos umher. Aber wenn dann, noch vielen langen Jahren, endlich der Zeit- punkt der Entlassung in die Nähe rückt, ist es bei den meisten aus mit der Gleichgültigkeit. Sie geraten in fiebernde Erregung, bringen nichts mehr zuwege, machen aus lauter Kopflosigkeit möglichst noch in der letzten Woche einen Fluchtversuch. Gewiß, viele finden dann den Weg ins Leben zurück; bei vielen aber ist es zu spät. Einige Monate nach der Entlassung kommen sie— freiwillig wieder zurück. Sie haben sich draußen nicht mehr zurechtfinden können. Garxz leise fragen wir uns nach dem Sinn dieses Ganzen, der Legion, des spanischen Marokko überhaupt. Freies Spanien , hier wartet deiner eine Aufgabe! Roman um Marokko „Ich besitze die folgenden Aufzeichnungen bereits seit einigen Jahren. Es sind Beobachtungen, die ohne bestimmte Ordnung nieder- geschrieben wurden, zuweilen vielleicht allzu genau, auch ohne be- sondere künstlerische Form. Sie entstanden während meiner Militär- dienstzeit in Marokko, " schreibt der Verfasser Ramon I. Sender in der Einführung seines Romans Jmän, Kampf um Marokko (Verlag der Bücherkreis, Berlin . In Ganzleinen ge- bundcn 4,80 M.). Also wieder ein Tatsachenbuch, eine Reportage großen Stils unter Hintansetzung künstlerischer Form und Gestaltung, lediglich Schilderung von unmittelbar Erlebtem. Spanien , die jüngste der europäischen Republiken, hat, nachdem es Jahrhunderte lang von seinen Königen zu tiefster kultureller Be- deutungslosigkeit niederregicrt wurde, über Nacht die Anteilnahme der gesamten Welt gefunden. Der Sieg des Sozialismus im reaktiv- närften Lande Europas kam überraschend, aber beileibe nicht unvor- bereitet. Wohl verhielt sich Spanien während des Weltkrieges in den verschwommenen Grenzen einer Neutralität. Dann kam der
Krieg mit den aufständischen Kabylen, der Kampf einer einstigen Weltmacht um die letzten Reste einer längst schon geschwundenen Vor- Herrschast. Wie dieses spanisch-curopäische Abenteuer verlief, welche Unzahl Menschen- und Geldopfer diesem Wahnsinn geopfert wurden, und wie endlich, nachdem Frankreich „intervenierte", die blutige Nieder- läge der Spanier zu einem Pyrrhussieg gerettet wurde, daran er- innern wir uns ja alle. Während es dem spanischen Imperium um das kostbare Erz in Marokko ging, kämpfte Abdel Krim mit dem den europäischen Streitkräften sowohl in der Zahl als auch in Militär- technischer Hinsicht weit unterlegenen Bergvölkchen der Rifkabylen einen Kampf um Freiheit und Unabhängigkeit, in dem er zuletzt doch unterlag. Aber gleichzeitig mit ihm unterlag auch der spanische Imperialismus, der sich selbst kraft der Militärdiktatur eines Prima de Rivers nur wenige Jahre danach noch halten tonnte, um dann von der sozialen Revolution zertrümmert zu werden. Der Autor schildert in seinem Romane sehr richtig, wie alle diese Arbeiter- und Bauernsöhne des spanischen Volkes in immerwähren- dem Suchen nach dem Warum dieses Krieges völlig an sich und dem gesunden Menschenverstand verzweifeln und nur eines wissen, daß jemand an diesem Greuel und Elend Schuld trage. Immer wieder taucht die Frage auf: Wer ist der Schuldige? Und dieser ganze Weg des spanischen Soldaten Viance, der dem Entsetzen des Krieges ent- fliehen will und auf seiner Flucht in immer neues Entsetzen gerät, ist nichts anderes als das Suchen nach dem Schuldigen. Ueber tausend und aber tausend Leichen führt ihn sein Weg, überall, wohin sein Fuß rührt, stößt er aus die Schuld, nirgends aber trifft er den, der sie trägt. Ja, das ist erschütternd und immer wieder aufrüttelnd. Das»st der Krieg, wie wir ihn alle erlebt haben. Und es ist klar, daß dieses für den Menschen stärkste Erlebnis immer wieder niedergeschrieben und den kommenden Generationen überliefert wird. Auch Spanien hat seinen Krieg erlebt, wenn auch nicht in dem Ausmaße der Völker, die von 1914 bis 1918 verbluteten. Jetzt hat Spanien auch sein Kriegsbuch. Würdig reiht es sich in die Serie der anderen ein. Uebersetzt hat es mit starker Einfühlung G. H. N e u e n d o r f f. FViwirift» Lichtneker.
Wer meint, daß in einer Pension Gast Gast ist, befindet sich damit in einem schweren Irrtum. Da gibt es natürlich solche, die wohl ein Zimmer aus Dauer mieten, aber der unbelehrbaren Ansicht sind, daß man sich außerhalb billiger und besser verpflegen könne. Sie sind daher nicht„erstrangig", werden zwar nicht mit Verachtung verfolgt, aber zählen nicht zu den persönlichen Freunden des Wirtes. Nur in ganz wenigen Ausnahmefällen wird das Sich-Entziehen der Mahlzeit entschuldigt. Am besten aber kommen diejenigen fort, welche weder dauermieten, noch in„voller Pension" sind; das sind die Gäste„auf ein bis höchstens sechs Tage". Ihnen offenbaren sich alle Sonnenseiten einer Pension, denn sie sollen ja wieder und immer wieder kommen. Am schlimmsten aber sind diejenigen dran, welche sich mit Haut und Haar dem Pensionsbetrieb verschrieben haben. Sie beginnen mit der Zeit zur Familie zu zählen— na, und das weiß doch jeder Mensch, was es heißt, bei Verwandten zu wohnen, auch wenn man noch so gewissenhaft seine Lebensansprüche den Gastgebern vergütet. Sonst aber sind alle Gäste gleich und unterscheiden sich blolß durch ihre Zimmernummer. Denn außer in Gefängnissen und Irrenhäusern wird nur noch in Hotels und Pensionen die Identität des Individuums durch eine Nummer bewiesen. Also zum Beispiel:„Zimmer 1 will geweckt werden— Zimmer 8 bekommt das Frühstück— Zimmer 9 wünscht ein Bad" usw. 1, das ist eine Dame, die von Alimenten und Zinsen eines Erb- kapitals lebt. Sie ist weder zu jung, noch zu schön, findet aber beides bei sich in reichlichem Maße. Sie erzählt ständig von„Flirts" und rundet nach jedem Ankömmling männlichen Geschlechts ihre abenteuerlustigen Augen. Sie ist natürlich sehr gesprächig, enthüllt einem das Schicksal ihrer flötengegangenen Ehe und verheißt im Anschluß daran die baldige Wicderverehelichung mit einem Herrn von Sowieso. Sie hat immerzu gesellschaftliche Verpflichtungen, denen sie nur mit Mühe und Not nachkommen kann, mal hie, mal dort, mal zu diesem, mal zu jenem eingeladen, und stets kehrt sie blumenllberladen in ihr Pensionszimmerchen zurück. Einige boshafte Zungen behaupten, sie kaufe die Blumen selbst.--- Der Herr von Nr. 2 ist ein sehr einflußreicher Mann, dessen Name allen Leuten, die Wert daraus legen, etwas zu sein, bekannt ist, so sagt er selbst.— Ich habe keinen Grund, daran zu zweifeln, denn ich oerkehre prinzipiell nur mit Leuten, die ein viel zu bescheidenes Leben führen, um Nr. 2 zu kennen. Und deshalb kann ich nie das Gegenteil von dem, was Nr. 2 von sich behauptet, beweisen. Der Mann spricht sich gerne über seine Geschäfte aus. Sechsstellige Zahlen schwirren durch die Lust. Daß er vier Wochen die Pension schuldig ist und überdies auch dem Zimmermädchen 50 Mark schuldet, will natürlich gar nichts besagen und schmälert nicht sein Ansehen. Auch dann nicht, als er eines Nachts unter Hinterlassung seiner Koffer das Zimmer räumen muß. Ausgerechnet nachts, bei strö- mendem Regen— und sicher hat der Mann höchstens eine Mark in der Tasche. — Es faßt einen so etwas wie Mitlelid an. Aber Unsinn, der Mann hat doch seine Verbindungen--- Ganz ähnlich, aber doch anders liegt der Fall bei Nr. 19. Der Herr ist Amerikaner und sieht gut genährt aus. Besagter Amerikaner wartet schon seit Wochen auf den Riesen-Dollarscheck aus Amerika und wechselt dauernd Radiogramme mit New Park, allerdings auf Kosten des Pensionswirtes. Aber wer würde es wagen, anzunehmen, daß der Mann, dessen Typus allein schon von Wohlstand spricht, eines Tages fortzieht, ohne seine Rechnung aus Heller und Pfennig bezahlt zu haben. Denn was hilft alles Warten auf den Dollar- fcheck, wenn man in dringender geschäftlicher Angelegenheit nach London abberufen wird! Er reist ab— mit den Koffern.
Eines Gastes Abgang bestimmt nicht selten sein erster Auftritt. Er allein entscheidet Höhe und Dauer des Kredites. Wesenllich sind Berufsstellung und der Schein einer vertrauenswürdigen gesellschaft- lichen Position. Wer diese äußeren Eigenschaften nicht auf den ersten Blick in sich oereinigt, wird bei erster Zahlungsstockung ausgerückt. Und so hilft Nr. 6, einem Musiker, keine Aussicht auf baldige- Engagement. Eines abends findet er sein Zimmer abgeschlolssen— dies das symbolische Zeichen für Hinauswurf— das Zimmer, das nach ihm wahrscheinlich wieder so ein hoffnungsloser, chancenloser Tropf wie er beziehen wird, das Zimmer, das an den Raum, der gleicherorts Bad und Toilette ist, grenzt. Aber er hat dies gar nicht so als Unannehmlichkeit empfunden, er hängt mit Liebe an diesem fremden Zimmer, das ihm Schutz und damit Hoffnung gab. Deshalb entfernt er sich nicht allzu weit von diesem Zimmer und nimmt auf einer Bank der der Pension gegenüberliegenden Anlage Quartier. Nr. 7, eine Russin, erbarmt sich des Mannes, der ihr Landsmann ist. Sie selbst auf Mitleid des Wirtes und lauteren Tee angewiesen, lädt den ehemaligen Nr. 5 zu sich in ihr enges Zimmerchen und teilt mit ihm dos Brot, das sie selbst nicht zu brechen hat. Ist es gerechtfertigt, wenn man der Dame von Nr. 13, die für alle Menschen ein gleichbleibendes freundliches, verbindliches Lächeln hat, etwas nachsagt, weil sie allabendlich mit ihrem Hündchen einen längeren Spaziergang macht? Sie ist Dauermieterin, bezahlt sogar pünktlich und hat nie den geringsten Anstand, weder mit Gästen, noch mit Personal. Sie belästigt keines Gastes Ruhe, kein Mann im Hause kann sich rühmen, ihr näher gekommen zu sein. Und trotzdem umhüllt sie eine Wolke von Vermutungen. Es ist sehr schwer. Menschen und ihre Schicksale unter ein Dach zu bringen. Und von allen Kreaturen fällt es den Menschen am schwersten, reibungslos in der Gemeinschaft zu leben. Sie belauern und verdächtigen sich mit einer geradezu krankhaften Leidenschaft. Es gibt immerwährende Spannungen. Und selbst die Einträchtigkeit bei den gemeinsamen Mahlzeiten in einer Pension ist nur schein- barer Friedensschluß. Es ist auch gar nicht leicht, alle Menschen auf ein und denselben Nenner zu bringen. Um so schwerer in einer Pension, die die Leute zu einem mehr oder minder-nahen Zusammen- leben zwingt. Da offenbaren sich natürlich auch Schwächen. Wenn der Junggeselle von Nr. 17 das freiwillige wöchentliche Trinkgeld dem Zimmermädchen mittels Scheck aus 5 Mark über- reicht— was er auch schon in bankgesicherten Zeiten getan hat— so ist das verwunderlich und wird als Kuriosum belächelt, aber was würden einen die Eigenarten eines Menschen bekümmern, wenn man nicht mit ihm sozusagen unter einer Decke schliefe. Und daß sie einem auch wider Willen mit der Zeit zu bekümmern beginnen, liegt an der örtlich nahen Berührung mit Charakteren und Schicksalen. Das Menschenpanorama, das bei längerem Wohnen in einer Pension an einem vorüberzieht, ist mit diesen hier aus der Fülle herausgegrifsenen Typen lange nicht vollständig. Aber trotz ihrer Vielfalt, ihrer Gegensätzlichkeiten verbindet etwas Gemeinsames diese Gäste einer Pension: das Schicksal der Menschen ohne ständiges Heim, die immer und überall nur G ä st e sind. Auch wenn sie oft jähre- lang in ein und derselben Pension wohnen, so erwecken sie niemalz den Eindruck der Bodenständigkeit, ob Kaufleute, ob Künstler, ob Rentiers, ob Begüterte oder weniger Begüterte, sie alle suchen Zu- flucht in einer dieser zahllosen Pensionen im Westen der Stadt, hausen in ihren Zimmern mit ihren stets zum Einpacken bereit stehenden Koffern und führen neben ihren bürgerlichen Namen auch noch eine Nummer. Und es ist gar nicht sehr ungemütlich so zu wohnen— wenn man kein eigenes Dach überm Kopf hat.