Rr. 3949, Jahrgang
Jebau
6700 Sonntag, 24. Januar 1932
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Treibjagd in den Massenwahn
Schlachtbericht aus den Versammlungen
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Stuhlbeine als Aufklärungsmittel
Wer heutzutage einen Versammlungsraum betritt, erblickt zuerst die Ambulanz. In Versammlungen der Nationalsozialisten sind meist gleich zwei Ambulanzen, eine vor der Herren- und die andere vor der Damentoilette. Man rechnet von vornherein damit, daß es zu einer Schlacht kommt. Eine Berliner Zeitung brachte hierzu vor einigen Wochen eine Karikatur, auf der war ein Mann abgebildet, der über Brust und Rücken einen Harnisch, auf dem Kopf einen Helm und in der Hand eine Hellebarde frug. Seine Frau kommt hinzu und fragt ihn, wo er denn in diesem Aufzuge hin wolle. In eine Versammlung, antwortet der Mann. Das Blatt hat gar nicht so unrecht. Es ist nebenbei gesagt keiner Zeitung mehr möglich, alle ihr bekannt werdenden Saalschlachten nur zu registrieren. Man muß sich auf einige besonders krasse Fälle beschränken. Dafür veröffentlichen die jeweils Sieger Gebliebenen aber am nächsten Tage ihre Schlachtberichte. Das sieht so aus: ,, Sie( gemeint sind die Kommunisten) wurden zunächst einmal von den drohenden Reihen der SA. und SS. gezwungen, zum Andenken des von einem vertierten Unter menschentum ermordeten Pg. Schwarz sich sittsam von den Plätzen zu erheben.... Nach dem Schlußwort des Diskussionsredners forderten sie zum Verlassen des Saales auf. Den Angriffsmoment lieferte eine auf die Bühne geworfene Bier flasche, ferner wart die Kommune mit granatsplitterähnlichen sBronzescheiben. Die SA. machte von ihrem Hausrecht Gebrauch. In einem Zeitraum von Minuten war das Gesindel unter Zurücklassung von mehreren Verletzten aus dem Saal gewiesen." Diesen Siegesbericht veröffentlichte am ver gangenen Mittwoch das Berliner Blatt der Nazipartei. Man merkt die Freude über den Sieg. Und die Ambulanz hatte ihre Arbeit.
Leitfätze für Gaalschlachten.
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Körperschaft von über 2000 Personen. Es wird dort gewiß hart und dfcharf diskutiert, aber es wird gleichzeitig auch argumentiert. Was, die anderen durch das Schwingen der Stuhlbeine ersetzt haben. modnal no Südtirol und das Stuhlbein.
Jeder
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An sich genügte es doch für eine Versammlung, menn oben auf ber Bühne ein Mann fäße, der dann aufstände und sagte:„ Liebe Freunde, es ist nett von Ihnen, daß Sie so zahlreich unserer Einladung Folge geleistet haben. Wir wollen uns jetzt einen Vortrag anhören und hernach recht ergiebig darüber diskutieren. Es gibt Leute, die sagen sich: setzen wir uns lieber gleich an fann und soll heute abend einmal seine Meinung fagen. Leider den Ausgang, wenn es brenzlich wird, können wir schnell raus. Das war es einmal so. Bor zwanzig Jahren. Heute müssen Versamm- st grundfalsch. An den Türen gibt es die meiste Senge. Am sichersten fungsleiter Zeremoniemmeister sein, die neben sich noch einen strategischen Rampfleiter zu sizen haben, der für die etwaigen Massage arbeiten an unbequemen Zwischenrufern tompetent ist. Berjammlungen werden doch heute zelebriert. Zuerst wird andächtig ge= fungen oder Musik gemacht, dann werden Gedichte oder Couplets vorgetragen, mitunter werden auch Kabarettstücke aufgeführt, am Schluß das gleiche und zwischendurch redet ein Mann über: sagen
wir Schizzoll oder Freihandel.
Das alles klappt, ist Sache des kommandierenden Strategen. Bei den Nationalsozialisten gibt es hierfür genaue Anmeisungen. Einige Bestimmungen lauten:
Nr. 2: Der Vorsitzende läßt sich in Gegenwart eines Zeugen in aller Form vom Wirt das Hausrecht übertragen.
Nr. 3: Der Schutz der Versammlung ist sicherzustellen, entweder durch eine genügende Anzahl eigener oder aus der Nachbarschaft herbeigeeilter SA.- Verbände oder, wenn es nicht anders geht, durch Anforderung von Polizeischutz. Das letztere ist bei voraussichtlich gefährlichen Versammlungen deswegen wichtig, weil das Tumultschädengesetz die vorhergehende Anforderung vorschreibt. Eine Erfahpflicht des Staates tritt erst bei einem Schaden von über 400 Mark ein.
Nr. 4: Sehr vorteilhaft hat sich in der Praxis bei bestimmten Bersammlungen und in bestimmten Orten erwiesen, einen Teil der SU. in Zivil unter die voraussichtlichen Unruheherde in der Verfammlung zu verteilen.
Nr. 11: Anstimmen eines Licdes am Schlusse hat nur. Sinn, avenn dieses Lied sich auch machtvoll behaupten tann. Es muß in diesem Falle vom Versammlungsleiter angeordnet werden; es wird stehend und nicht im Herausgehen gesungen. Dünnstimmiger Gefang von einzelnen Parteigenossen in verschiedenen Eden des Saales wirft eher jämmerlich, besonders wenn der dadurch gereizte Gegner Dagegen sein Kampflied anftimmt.
Diese strategischen Anweisungen find zu lesen in der Schrift Moderne politische Propaganda", München 1930. Es ist schon so: früher druckte man Anweisungen für die Geschäftsordnung, heute Dagegen Leitfäge für die weidgerechte Bermöbelung von Bersammlungsbefuchern.
Fanatisierte Frauen.
Dabei ist es merkwürdig, daß die Frauen von dem radikalen politischen Spuf anscheinend noch leichter gefangen werden als die Männer. In den Berichten über die letzte große Saalfchlacht in ben Kolibri- Sälen von Schöneberg hieß es nämlich, daß 200 Frauen laut schreiend dem Ausgang zueilten. Im ganzen waren etwas über 400 Personen im Saal, also fast die Hälfte Frauen. Genau so ist es anderswo. Mitunter sind mehr Frauen anwesend als Männer, trok des Themas: Marrismus und Reaktion im Sterben. Und es ist auch gar nicht wahr, daß da mun diese berüchtigten alten Tanten mit den Röden bis über die Knöchel und dem Kapotthütchen auf dem Kopf fizzen. Im Gegenteil, diese Alten fehlen gerade und im Saal sehen wir Junge und Jüngste; was Sonntags tanzt und sich sonstwie amüsiert, geht Mittwochs zu Hitler . Natürlich auch Frauen mittlerer Jahrgänge. Die stehen zum Schluß alle auf und vier Strophen lang fingen sie mit erhobenem Arm das Horft- Wessel- Lied. Die Frau Schlächtermeister 2. aus Ober schöneweide wie die Bankangestelltenfrau 3. aus Johannisthal . Es gibt in Berlin noch eine Stelle, wo man so etwas sehen kann: wenn der Herr Joseph Weißenberg Kirchtag abhält. Da wird genau so gesungen. Uebrigens unterscheiden sich in den Aeußerlich. feiten ja die Massenmeetings des Herrn Weißenberg von denen des Herrn Hitler an und für sich schon herzlich wenig. Bei dem einen wie bei den anderen versteht man sich auf diese Treibjagden in dem Massenwahn.
Das Beinlichste bleibt aber immer die Ambulanz, die heute in jedem Versammlungssaal steht. Wo sonst der Mann mit der Tombola steht, hat sich die fliegende Charité postiert, statt zu gewinnender Teddybären riecht es nach Jodoform. Nebenbei gefagt haben sich die Nazifanitäter seltsam genug foftümiert. Es ist wohl selbstverständlich, daß die jahrzehntelang geschulte, disziplinierte und organisierte Arbeiterschaft das alles, um Wirkung zu erzielen, denn doch nicht nötig hat. Es gibt gottlob noch Körperschaften, die ohne Mullbinden und Verbandwatte auskommen. Die Vertrauensmännerfonferenz der Berliner BBM3.- Betriebe ist beispielsweise eine
ist es an der Bühne. Wie Saalschlachten beginnen, ist fast in jedem Falle ein tiefes Geheimnis. An sich iſt es schon grotest, wie heute diese Art Versammlungen abgehalten wird. Man fommt erst einArt mal in einen Raum, der gerammelt voller Amateursoldaten steht. Dann ist der ganze Saal umzingelt mit Wächtern, auch die Saalreihen sind besetzt mit Wachtpersonen, und die Bühne vollends ist schier belagert mit einer kleinen Armee. Wer sich nicht mäuschenstill verhält, bekommt eine gebrannt. Wer in einer Naziversammlung, sagen wir an der Stelle, an der der Redner vor Nationalismus bei nahe überschnappt, das eine Wort ,, Südtirol " dazwischenrufen würde,
Hohe Mieten leere Läden.
Der rapide Verfall der Wirtschaft wird nirgends besser gefennzeichnet als durch das Leerstehen der vielen Läden in bevoraugten Geschäftsgegenden. Die Passage in der Friedrichtraße, Ede Behrenstraße, ist hierfür ein treffliches Beispiel. zugten Geschäftsgegenden. Die Baffage in der Friedrich Sämtliche Etagen, die nach der bekannten Passageede zu liegen, stehen, wie auf dem Bilde zu erkennen ist, Icer.
Nur
unten die Läden im Passagedurchgang find vermietet. Die GeschäftsLeitung berechnet den Leerraum mit 11 Prozent der gesamten vermietbaren Fläche. Eine gleiche bekannte Ecke in der Friedrich straße , die durch den spizen Einlauf der Mauerstraße ge
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Unvermietbare Geschäftsräume Ecke Mauer- u. Friedrichstraße
Die
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leerstehende Passage in der Friedrichstraße
bildet wird, steht von oben bis unten leer. Rechnet man die leerstehenden Großwohnungen, Büros und Geschäftsräume, fowie den ungeheuren Leerraum an Fabrikanlagen und Werkstätten insgesamt, so greift man wohl nicht fehl, wenn man trog fehlender Statistik darüber diesen Leerraum bis zu 60 Prozent der vermiet baren Flächen schätzt. Das durch Notverordnung gewährte Kündigungsrecht der Mieter ist besonders ausgiebig von Ladenbesitzern in Anspruch genommen worden. Hausbefizer auf dem Kur fürstendamm haben, obwohl sie in vielen Fällen bis über die Hälfte von der Miete herunterließen, trotzdem die Kündigung ihrer Ladenmieter erhalten, weil diese glauben, auch bei der verbilligten Miete das Geschäft nicht aufrechterhalten zu können. Was feine Warmung und fein Vernunftpredigen in den letzten Jahren vermochten, das hat mit einem Schlage der allgemeine Notstand ver mocht. Der heute noch hohe Stand der Mieten, insbesondere der Geschäfts- und Wohnungsmieten, wirkt sich im Zeichen des Preis abbaus besonders schädlich aus.
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der muß damit rechnen, massafriert zu werden. Wenn einer nur mit dem Stuhl rückt, bekommt die ganze SA. fchon Stielaugen. Dabei machen sie Gesichter, als ob jemand soeben ein Stuhlbein abgebrochen hätte.
* Daß Versammlungen nachher so oft in eine blutige Saalschlacht ausarten, liegt an folgendem: alle Besucher geraten sofort außer Rand und Band. An sich wäre es denkbar, daß ein Mann seinem Widersacher in einer Ecke des Saales eine klebt. Das würden im Saalbau Friedrichshain oder in der Neuen Welt die weiter ab Sitzenden gar nicht einmal bemerken. Aber jeder Versammlungsbesucher bezieht ja diese Backpfeife irgendwie auf sich selbst. Im Nu stehen alle auf, neun Zehntel der Versammelten wissen meist überhaupt nicht, was los ist, es entsteht ein Hin und Her sonder= gleichen, und wenn sich in diesem Stadium alle Leute ruhig auf ihre Plätze setzen würden, ginge ja alles noch einigermaßen. Aber so etwas macht doch keiner, die eine Partei erklärt die andere für Schweinehunde, und dann ist es soweit: über den Köpfen der Besucher schweben bereits die ersten Stuhlbeine und Biergläser. Dann geht es los. Bis die Polizei aufräumt. Und die Ambulanz hat Arbeit. Es ist überdies typisch, wie sich die Massenversammlung mit Diskussion zur Kundgebung ohne jede Disfuffion durchgemaufert hat. Die erste Aufgabe des Bersammlungsbefuchers von 1932 heißt: Strammftehen.
Was die zweite und dritte Rednergarnitur der Nazis in den glauben. Jedes zweite Wort heißt Marrismus. Nun haben diese fleinen Vorstadtversammlungen an Unsinn verzapft, ist faum zu Leute nie in ihrem Leben auch nur die Margfibeln von Karl Mart gelesen, geschweige denn ein Buch von Marg selber. Aber der Marrismus muß es ihnen doch angetan haben. Am Mittwoch jagte
in Oberschöneweide ein bekannter Naziredner: Seht einmal, deutsche Wolfsgenossen, solch ein Stapel Bücher hat der Trierer Rabbinersohn Karl Marx vollgeschrieben und troßdem find wir immer mehr ins Clend gefunten." Das laffen sich die Kleinbürger tagaus, tagein vorbeten und glauben daran, als wären derartige Säße ein Satrament. Wenn der Redner übrigens von dem Stapel Bücher spricht, zeigt er mit den Händen, wie hoch der Stapel ist Bei ihm machen das ungefähr 40 Zentimeter aus. Hat der Mann eine Ahnung! Und es ist schließlich unmöglich, mit solchen Leuten zu diskutieren. Man kann sich doch nicht hinstellen und erst das ABC erläutern. Denn voraussetzen kann man in einer Naziversammlung so gut wie nichts.
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Bie überhaupt diese Erneuerer Deutschlands aussehen! Da saß, die Versammlungsbesucher umzingelnd, in Oberschöneweide der Sturm 21. Vielleicht vierzig, fünfzig Jungens Anfang der zwan ziger Jahre. Die wollen nun Oberschöneweide erobern. Unter Um ständen sogar noch Niederschöneweide und Johannisthal dazu. Nein, diese Fortbildungsschüler werden weder Schöneweide noch Berlin , noch Deutschland erobern. Um 50 schlafende Laubenkolonisten zu überfallen, mußten sie ohnehin 200 Mann aufbieten. Und um ein paar Braunschweiger Arbeiterstraßen zu überfallen, holte man 100 000 Mann zusammen. Es fommt nur darauf an, wie man die Abwehr organisiert. Und daß diese Abwehr gegen die Naziflut fiegen wird, für diese Zuversicht sind die jüngsten Beschlüsse der Eifernen Front Verheißung genug.
Schüsse auf der Potsdamer Brücke.
Bürodieb angeschossen.
Ein aufregender Vorfalt spielte sich gestern nachmittag auf der Potsdamer Brücke ab. Ein Schupobeamter eilte einem jungen Burschen nach. Als der Flüchtende troh mehrmaliger Haltrufe nicht stehen blieb, zog der Beamte seine Pistole und gab auf den jungen Mann einen Schuß a b. Dieser stürzte getroffen zufammen. Die Kugel war ihm in den linken Unterschenkel eingedrungen. Der Dieb wurde zur Rettungsstelle und von dort ins Staatskrankenhaus gebracht. Es ist ein 25 Jahre alter Johannes B. aus Tempelhof . Der junge Mann war in ein Zimmer der Pumpenfabrik von Henry Hall in der Linkstraße 19 eingedrungen. Er benutzte einen Augenblic, wo niemand im Zimmer war, um die Hierbei Kästen des Schreibtisches nach Bargeld zu durchsuchen. wurde er überrascht. Er flüchtete nach dem Schöneberger Ufer zu, wurde aber von den Angestellten eingeholt und einem Polizeibeamten übergeben. Als er diesem auf dem Wege zur Wache ebenfalls ausrüden wollte, spielte sich die unliebſame Szene ab. Es wird festzustellen sein, ob der Beamte wirklich nur mit Hilfe des Revolvers, dessen Anwendung in der belebten Potsdamer Etraße doppelt gefährlich war, den Dieb stellen konnte.
In allen 8 Ausstellungsnallen am Kaiserdamm
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vom
30.Jan- 7 Febr.
ཝཱ
Milch- Butter- u. Käseschau uam.
Industrieschau
Gartenbau, Fischerei, imkerei
Pferdeschau, Reit
und Fahrturnier
HH
Deutsche Jagd
Ausstellung
娘
Geflügel, Kaninchen
Rassehunde
公
Der landliche
Siedlungsbau
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