Schiffer£aurenls Qefchickle trmählung von Sugene 3>abU
lSchlu�) Von Paris bis Neuen, von Conflans bis Tourcoing nannte man ihn den Schifser-Laurent wie in der Schule. Ein Leben der Arbeit hatte ihm einen breiten Brustkasten gegeben, kräftige Arme, unermüdliche Beine und eine Stimme, die man hören konnte. Sein Gesicht mit dem hängenden Schnurrbart und den grünen Augen, aus denen der Glanz des Wassers widerstrahlte, hatten Sonne und Frost gebeizt. Er war arbeitsam, tüchtig, lustig, ein guter Kamerad. Er kannte Schleusenmeister und Befrachter und fand überall sein Fortkommen, ohne jemandem wehzutun. Auch von ihm ließen sich die Jahre nicht festhalten. Sie rannten davon wie das Wasser. Seine Frau hatte er in einer rauchigen Stadt des Nordens getroffen. Mit ihrem fahlen Haar erinnerte sie an seine Mutter. Sie war einfach und tapfer. Sie hatten ein Kind, das sie bei den Alten ließen. So wiederholt sich das Leben, dachte Laurent, die Ruderstange in der Hand, am Heck sitzend, wäh- rend die„Adrienne" wieder einmal die Seine hinabfuhr. Er kannte die grünenden Inseln, an denen man anlegte, die Stellen, wo es die meisten Fische gab, die Schleusen alle, an denen man eine Pause machte, und die Schänken, in denen man ein Glas trank. Gestern, heute, morgen: ein Tag glich dem anderen wie eine Welle der anderen. Es kam ein Jahr, in dem Laurent nur noch mit Mühe Ladung fand. Die Gesellschaften mochten den Bootseignern Konkurrenz, in- dem sie Motorkähne fahren ließen. Neben diesen geschmeidigen Stahlbooten schlich die schwere„Adrienne", rissig und verwittert, mühselig dahin. Laurent fühlte, daß es mit ihr zu Ende ging. Es half nichts, daß er sie pflegte, ihre Wunden immer wieder zu heilen suchte. Auch er begann zu altern. Nicht mehr mit Freude sah er das Kommen und Gehen der Jahreszeiten. Cr fürchtete den rauhen Winter, die grelle Sommersonne, die den Fluß dampfen ließ, den Herbst mit seinen Nebelschwaden. Auch der Frühling beglückte ihn nicht mehr. Die Augen seiner Frau waren nicht mehr so blau, und ihr Junge ging in die Fabrik. Zuweilen mußte er, in Rouen oder Eonflans-Sainte-Honorine, wochenlang feiern. Es half nichts, daß er die„Adrienne" putzte und schön machte. Die guten Tage kamen sobald nicht wieder, und an Laurents Herzen nagte die Sorge. Cr begann, sich an den Kais umherzutreiben. Gelegentlich ging er auch in eine Kneipe und ließ sich einen Schoppen geben, den er langsam austrank. Manchmal kamen auch Freunde hinzu, die ihn lärmend begrüßten. Doch Laurent schüttelte stumm den Kopf. Er sah in sich einen Gescheiterten, ein nutzloses Wesen, wie es die „Adrienne" setzt auch war. Wie lange noch, und er würde nicht mehr aufs Wasser gehen, nicht mehr das leise Murmeln der Wellen hören, ehe er einschlief! Er schlug mit der Faust auf den Tisch und oerlangte einen neuen Schoppen. Einmal war er mit einem Schiffer von einem dieser verdammten Motorkähne in Streit geraten. Cr hatte den kürzeren gezogen und war, schäumend vor Wut und Ver- zweiflung, sinnlos betrunken an Bord gegangen. Die Arbeit fehlte jetzt ganz und gar. Und er verlor die Lust, danach zu suchen. Irgendwo, an einer einsamen Uferstelle, an der ein paar Kähne faulten, lag auch die„Adrienne" und zerfiel. Lau- rent hatte kaum mehr einen Blick für sie. Er teerte sie nicht mehr. Sie zog Wasser. Man mußte täglich an die Pumpe, daß sie nicht sank. In kleinen, schmutzigen Schenken belehrte Laurent die jungen Leute, daß die gute Zeit der Schiffahrt vorüber sei. Seine Er- innerungen schmerzten ihn und trübten seinen Verstand wie der Wein. Die Eltern waren tot. Ihr Haus hatte er verkauft, und da er nicht mehr arbeitete, lebte er von dem Gelde. Eines Tages kam der Krieg, Schweinerei verdammte! Sein Jungs mußte hinaus, und fiel. Ein paar Monate später starb seine Frau. Das war fast ein Glück für sie. Denn sie war verbraucht, abgenutzt wie die„Adrienne". Er blieb allein auf dem Kahn. Stundenlang starrte er prie- mend ins Wasser, oder er sah den Schleppern nach, deren Wimpel an die Stange klatschten. Die„Adrienne" war ein trauriger, stinkender Kasten gevzorden. Im Raum lebten und krepierten die Ratten. Nur die Kajüte mit ihren zwei Betten, ihren wackligen Stühlen, leeren Schränken und der Photographie war noch halbwegs in Ordnung. Sonst war es ein Wrack. Als er das letzte Geld ausgegeben hatte, verkaufte Laurent die „Adrienne" an einen Abbruchsunternehmer. Für ein Butterbrot. Eines Abends zog er in Paris , am Kanal Soint-Martin, in ein Armeleutehotel. Es war nicht schön, aber vor den Fenstern hatte er das schmutzige Wasser, aus dem die Kähne vorüberglitten. Da man ihn kannte, gab man ihm Arbeit. In La Billette treidelte er die Kähne. He— up! Das Seil schnitt ihm in die Schulter. Was tat es? Ihm war, als zöge er alle Bilder, die die Kähne auf ihrer Fahrt gesehen, alle Erinnerungen, die sie bewahrt hatten, zu sich hin. Er hielt inne. Man rief ihm zu:„Bist wohl noch besoffen?" Und er zog weiter, mit gekrümmtem Rücken und gesenktem Kopf, den er zuweilen umwandte. Dann war es ihm, als sähe er die„Adrienne" vorüberfahren. Cr mußte schnell in eine Kneipe und sich einen antrinken. Seine Kleidung war zerfetzt. Zum Friseur kam er nicht oft. Kopf- und Barthaar wucherte. Man nannte ihn jetzt Laurent- Utan. Cr wusch sich kaum. Das Wasser lockte ihn nicht mehr. Sauberkeit, Ordnung, Ruhe waren für ihn tote Begriffe geworden. An Sommerabenden lag er auf der Böschung, unweit der Place Jean-Jaurös. Er sah das Waschboot, auf dem die Frauen die Wäsche mit dem Bleuel schlugen, und die Kähne, deren Namen ihn an die Orte erinnerten, die er von früher kannte. Stunden- lang lag er so im verdorrten Grase neben Pennbrüdern, die ihn Süßwasserkäppn nannten, weil er doch nie von den Flüssen her- untergekommen war. Cr sagte ihnen Bescheid und trollte sich. Schritt vor Schritt ging er den Oai de Jemmapes entlang. In jedem der kleinen Logierhäuser, die dort gelegen sind, hatte er gewohnt. Aus jedem hatte ihn, früher oder später, das Elend wieder vertrieben. Neue Gebäude erhoben sich. Auch dort brachte die Zeit Veränderungen mit sich. Vor dem Hause Poltet et Chausson blieb er stehen. Dort lagen kleine Boote, weiß vom Kalk, mit dem sie beladen waren, vor Anker? sie erinnerten ihn an den Kanal von Berry, den er einmal auf der Zille eines Kameraden befahren hatte. Er setzte seinen Weg fort, ließ das Asyl Benoit Mellon hinter sich, denn er schlief im Stall eines Fuhrmanns. Hie und da erlag er der Versuchung eines Weinschanks, dessen Licht ihn lockte. Wenn er seinen Fuß über die Schwelle setzte, hörte er den Ausruf: „Ah, Laurent-Utan!" Er trank seine Karaffe Roten und nahm von niemandem Notiz. So gingen die Wochen dahin. Familie besaß er nicht mehr, aber von La Billette bis zur Vastille kannte man ihn. Einmal hatte er, in der Schleuse am Arsenal, bei einer Film- aufnähme mitgewirkt. Er hatte die Schleuse geöffnet, durch die die beiden Au-reiher, um die es sich handelte, entkommen konnten.
Das Ereignis war am Kanal erörtert worden: man hatte sogar wieder von ihm als vom Schiffsr-Laurent gesprochen.
Alles ist aus. Laurent fühlt, daß er verbraucht ist. Sein Leben ist eigentlich sehr schnell vergangen. Es gab eine Zeit, wo er ein Kerl war, ein Kerl, der selbst im Winter schwamm, den keine Ar- beit schreckte und für den ein unbekannter Kanal ein spannendes Abenteuer bedeutete. Heute kann ihn nichts mehr reizen. Er hat den Abend in einer Destille verbracht, in der er noch Kredit hat. Er hat in seinen Erinnerungen gekramt, wie es die alten Leute tun. Der Wirt sängt an aufzuräumen. Gut, man muß weiter. Er steht auf. Es ist ein Novemberabend. Laurent friert. Er knöpft-seine dünne Jacke zu, zieht die Schultern zusammen, vergräbt die Hände in den leeren Taschen. Am Kanal ist es einsam, die Lampen sind verlöscht, das Wasser ist schwarz. Aber er ging mit geschlossenen Augen. Hier ist er zu Hause! An einem Schild liest er: Tonkiner Zinnbergwerksgesellschaft. Der Name läßt ihn von fernen Ländern träumen. Kahnschiffer.... Ein wenig weiter stehen die Speicher- Häuser. Sie bergen eine Menge herrliche Dinge, nützlicher und not- wendiger. Er, Laurent, besitzt nichts als seine Haut und die Schütte Stroh, auf der er bald liegen wird. Dann hört er die Pferde gegen die Raumwand scharren, wie er in guten Zeiten, auf der„Adrienne", die Wellen rumoren hörte. Ein Pennbruder ist er nicht! Er hat auch sein Teil gehabt, aber die Reichen haben's ihm genommen, die Reichen und der Krieg. Weib, Sohn, Freunde: alle dahingegangen im Lauf der Tage, weggespült wie Kehricht. Noch ein wenig weiter ist ein Kohlenplatz, auf dem er ein paar Wochen gearbeitet hat. Jetzt haben die Kähne Motorkraft, und die Schleusen sind mit elektrischen
Bratspillen«us gerüstet, lind Zentnersäcke zu schleppen ist er auch nicht mehr jung genug Wozu ouch� Plötzlich bleibt er stehen. Der Gedanke durchfährt ihn: weshalb eigentlich dieses Leben fortsetzen? Er brauchte ja nur in den Kanal zu fallen und sich treiben zu lassen, um Frau und Eltern wiederzu- finden. Einfach so: einen kleinen Schritt vorwärts, Laurent, und alles ist zu Ende. Es gehört gar nicht viel Mut dazu. Ein Windstoß kräuselt das Wasser. Laurent hört ein leises Murmeln. Das ist das Lied des Flusses, eine Stimme, die er kennt. Wie hat er es geliebt, dies graue, blaue, grüne, immer wechselnde Wasser! Mehr als seine Frau. Und wie hat es ihm seine Liebe erwidert! Jetzt fällt ihm ein, daß er vielleicht im Schoß dieser schweren, trächtigen Erde wird ruhen müssen, und ihn schaudert. Er tritt noch näher ans Ufer und sieht seinen Schatten im Wasser.... Er schrickt zurück. Er hat oft gesehen, wie sie Wasserleichen herausfischten, mit grünlichem Gesicht, aufgeschwollenen Gliedern und schlammbedeckten Kleidern. Die Schleusenmeister bekommen eine Belohnung für jede, die sie bergen. Wenn er hier, an der Rue de la Grangs-aur-Belles. hineinsiele, so würde ihn wahrscheinlich der große Charlot mit seinem Bootshaken angeln. Er würde schreien:„Ein Makkabäer!" Und dann:„Ach, Laurent-Utan, der arme Kerl!" Und die Kameraden würden ins Cafe de la Marine gehen und einen heben. So machte er, Laurent, es ja auch immer. Er rührt sich nicht vom Fleck. Das Wasser fließt unaufhörlich weiter. Schäumend fällt es in die Schleuse. Man hört das Brausen. Er hebt die Augen und sieht schwarze Häuser und Fabriken, die ihre Schornsteine wie Arme zum Himmel recken. Plötzlich sieht er sich umringt von Männern, die ihn aushöhnen und bedrohen, wie sie ihn immer bedroht haben seit dem Tage, da sie ihre Motor- kähne auf die Seine gesetzt haben. Er möchte ihnen entwischen, aber seine Beine sind steif. Er möchte hinaus aus dieser Stadt und einmal noch den weiten Himmel sehen und blühende Ufer und den Hafen, in dem die Kähne, Seite an Seite, ausruhen. Er nimmt seine Kraft zusammen, wirft seinen Fuß vorwärts, stößt an ein Haltetau, taumelt und stürzt, ein Ah auf den Lippen, das wie ein Stöhnen und zugleich wie ein Glücksseufzer klingt, ins Leere. Bsrecdtixte Uebertragring von Bernhard Jolle s.
Was hal er gefagi? QuerfchniU durch ein Vli eishaus/ Won 9L K. Weuberl
Ein Querschnitt durch das Mietshaus, in dem ich mich— auf einer Reise— für einige Zeit einlogiert habe, ist gleichsam wie ein Querschnitt durch die von der Wahlleidenschaft aufgewühlte Volks- seele. Dieses Mietshaus steht nicht in Berlin , wo wir konkrete Maßstäbe haben, spndern in einer kleinen schlesischcn Stadt, weitab vom großen Ringen der Parteien. Hier erleben wir keine gewal- tigen Massenaufmärsche der Organisationen wie im Lustgarten, es ist hier schon ein Ereignis, wenn ein Zug von tausend Mann durch die stillen, engen Straßen demonstriert. Aber ist der Kamps darum weniger heftig? Ein Querschnitt durch das Mietshaus beantwortet diese Frage. Am ersten Morgen erwachte ich von den Klängen eines SA.» Marsches. Ich sah auf die Uhr: halb sechs. Ich muß gestehen, daß ich im ersten Augenblick dachte, im Dritten Reich erwacht zu sein! Ich hatte noch am Abend vorher von der geplanten Um- gestaltung des Rundfunks gelesen. Daß der Rundfunk mich schon am nächsten Morgen um halb sechs mit einer nationalsozialistischen Hymne wecken würde, hafte ich jedoch nicht annehmen können. Nun lag ich schweißgebadet da. rieb mir die Augen und entdeckte schließ- lich aufatmend, daß es sich hier nur um ein Grammophon handelte. Da ich nun einmal erwacht war, stand ich auf und begann mit dem Ankleiden. Die Toilette befindet sich hier eine Treppe ftefer und wird von zwei Mietspacteien benutzt. Ich übersah ganz, daß der Schlüssel im Loch steckte, öffnete eiligst und prallte verdutzt zurück. Dort saß jemand.„Guten Morgen!" konnte ich noch stammeln. Ehe ich die Tür wieder zuschlug, traf mich ein durchdringender Blick und eine etwas vorwurfsvolle Sttmme:„Heil Hitler !" So begannen meine Beobachtungen im Mietshaus. Im weiteren Verlauf waren meine Beobachtungen und Erleb- nisse leide? nicht immer so erheiternd komisch. Ich tonnte in die Tiefen eines Kleinkrieges blicken, der ehemals einander freundlich gesinnte Familien als erbitterte, verhaßte, oerachtete Gegner ge- trennt hatte. Der Eisenbahnschaffner F. und der Ziegeleivorarbeiter B., die früher manchen Korn getrunken und zusammen manche Partie „Lochbuhl" gespielt hatten, kennen sich nicht mehr. Ihre Blicke, wenn sie sich begegnen, sind voll eiskalter Verachtung. Neulich lag eins von den Karnickeln, die F. hinten im Garten in Kisten untergebracht hat, tot im Stall. „Das war der B., der Schuft!" sagt F. Denn auf die Kiste ist mit Kreide Hammer und Sichel gemalt worden. Wer ober steckt hier im Hause die rote Fahne mit Hammer und Sichel zum Fenster hinaus? Also war der Ziegeleivorarbeiter B. der Täter. Meint F. Schäumt vor Wut und droht, sich im Dritten Reich zu rächen. Frau F. beginnt ihre Rache schon vorher, indem sie die Tochter des B. auf der Straße ein„öffentliches Schandmal" nennt.„Ich werde Sie verklagen!" ruft das Mädchen, dem Weinen nahe. Ein schrilles Lachen antwortet ihr. „Bitte! Ich habe genug gesehen, schönes Fräulein! Aber das entspricht ja ihrer Weltanschauung." Beifall aus den Fenstery, aus denen an manchen Tagen Haken- kreuzfohnen hängen, Protestrufe aus den anderen. Wenn Frau F. schwören müßte, könnte sie nur schwören, daß sie Fräulein B. ein paarmal mit einer„Mannsperson" nachts im Hausflur gesehen. Aber zum Schwören kommt es nicht.„Wer wird sich mit dem Pack abgeben?" meint die Familie B., und die Tochter weint nicht mehr, fondern steht nachts nur noch länger unter den Fenstern der Frau F. Beim letzten„Deutschen Tag " hat G. eine lange Hakenkreuz- fahne zum Fenster hinausgehängt, die K.» Fenster verdeckt. G. blickt hinunter und schmunzelt.„Der wird sich grün und blau ärgern!" denkt er. Und K.— Zentrumsmann— ist so töricht, sich zu ärgern. Er schickt seinen Sohn zu G. hinauf und läßt sagen, daß die Fahne etwas eingezogen werden müsse, er könnte unmöglich am hellen Tags Licht brennen. Oder ob G. am nächsten Zahltag die Licht- rechnung bezahlen wolle? G. läßt sagen:„Wer long hat, läßt lang hängen." „Was hat er gesagt?" fragt K. und drückt die Hände in die Hüften. „Wer lang hat, läßt lang hängen!" wiederholt der achtjährig« Sohn pflichtgemäß. Von diesem Tage an sind G. und K. unversöhnliche Feinds. Die letzten Koalitionsmöglichkeiten sind zerstört. Ich habe mich bisher noch niemals an den Diskussionen auf der Treppe beteiligt. Ich habe wohl mit diesem und jenem ge-
sprachen, aber noch weiß niemand, welcher Partei ich eigentlich an- gehöre. Man macht freundliche Anstrengungen, mich zu sich herüber- zuziehen. G. hält mir Vorträge, K. und F. und B. halten mir Vorttäge. Frau X. und P. sind um das Heil meiner Seele bemüht. Sie streiten sich schon um mich. „Herrn N. ist auch Nationalsozialist!" sagte neulich Frau F. triumphierend zu einer feindlichen Nachbarin, der sie etwas be- weisen wollte. „Sind Sie wirklich...?" ftagte mich etwa» später die Nach- barin besorgt. Es wird Zeit, daß ich mich zu erkennen gebe. Eine günstige Gelegenheit. Herr D., der mich morgens manch- mal mit seiner Grammophonplatte„SA. marschiert" weckt, hielt im Flur einen lehrreichen Vortrag.„Und glauben Sie das Zeug doch nicht," spricht er zu einer zweifelnden Frau und einem Arbeiter, „was man uns über Arbeiterfeindlichkeit nachsagt. Wir sind im Gegenteil ganz gegen die bevorzugte Behandlung der pensious- berechtigten Beamten. Im Dritten Reich wird auch für die Ar- beiter ein Pensionsanspruch geschaffen werden." In diesem Augenblick erfaßte mich ein unbezähmbarer Lach- anfall. Ich beugte mich über das Geländer zu den Diskutierenden hinunter und lachte aus vollem Halse. Sie sahen ganz erschrocken herauf. „Was ist denn eigentlich?" ftagte Herr D. nervös. Ich lachte nur lauter, bis auch die Frau und der zweifelnd« Arbeiter zu lachen begann. Vielleicht über mich. Vielleicht auch über Herrn D. Er verschwand und zog sein Grammophon auf... Ein trübes Kapitel: die Kinder. Hans spielt nicht mehr mtt Franz, weil der Vater von Franz zur„Eisernen Front" gehört. Man macht immer den sozialistischen Verbänden den Vorwurf, daß sie die Kinder politisieren, ich habe aber immer und überall ge- sunden, daß es gerade die nationalsozialistischen Eltern sind, die chr« Kinder nicht ftüh genug mit politischen Schlagworten bekannt machen können. Sie kommen sich wie„wahrhaft nationale" Deutsche vor, wenn sie ihre fünfjährigen Knirpse fragen:„Wie grüßt Pappi?" und der Kleine prompt den Arm hebt und„Hell Hitler!" ruft. Sie sind stolz auf solche Kinder. Und wenn sie im Hof ein bißchen SA. spielen und das Horst-Wessel-Lied singen, wirft ihnen Mutter ein Stück Schokolade zu. Sie singen es manchmal»och um zehn Uhr abends, unschuldige Kinder. Und Vater sitzt auf dem Balkon, liest den„Beobachter" und schlägt mit der Faust auf den Tisch:„Wieder ein SS.-Mann nieder- geknallt!" Aber unten im Hos sind die Kinder eben über den kleinen Franz hergefallen, weil er nicht mitsingen will. Der Mann auf dem Balkon sieht diesem erhebenden Schauspiel zuversichtlich zu. Auch ich bin zuversichtlich. Noch vor Wochen, bei meiner An- kunft in dieser kleinen Stadt, waren die drei Freiheitspfeile hier unbekannt— und jetzt? Freiheitspfeile überall auf den Straßen. Und wo zwei sich„Heil Hitler!" grüßen, rufen oder denken drei „Freiheit!"_ Ulontafgne(SranaOflfctier!Pro!a{rhrlHfMler, 153S—1892)* Dom ZHr Die Seelen der Kasser und der Schuster werden in derselben Form gegossen. Ziehen wir die Bedeutung der Handhmgen der Fürsten und ihre Tragweite in Betracht, so sind wir leicht geneigt anzunehmen, ihre Beweggründe seien ebenso bedeutsam und schwer- wiegend. Wir täuschen uns: sie werden in ihren Aktionen und Reaktionen von denselben Kräften getrieben wie wir alle. Dieselben Gründe, die un» ,zu einem Streit mit unserem Nachbarn treiben, enssachen zwischen den Mächtigen der Erde einen Krieg Dieselben Gründe, die un« verführen, einen Lakaien zu verprügeln, können einen König auf den Gedanken bringen,«ine Provinz zu zerstören. Ihr Wollen ist wie unser Wollen, aber chr Können sst größer: Appetit ist Appetit— bei der Milbe und beim Elefanten... Was den Krieg anbetrifft, der die größte und die pomphafteste aller Aktionen der Menschen ist, so möchte ich wohl wissen, ob wir uns seiner auf Grund eines Vorrechts zu bedienen vermeinen, oder um im Gegenteil von unserer Dummheit und Unvoll- k o m m e n h e i t Zeugnis abzulegen. Es scheint wirklich, daß die Kenntnis, einander zu vernichten und einander zu töten, unsere eigene Art zu schädigen und zugrunde zu richten, den Tieren, die diese Kenntnis nicht besitzen, nicht besonders wünschenswert sei. (.Aus dem Französischen übersetzt von LinaFrendet�