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In Lebensgefahr

Die Geschichte einer Ueberschwemmung/ Von Karin Michaelis  

( Schluß.)

Wir hörten den Krach, wenn Balken und Bretter an die Mauern des Hauses anschlugen, wir hörten das Aechzen, wenn ein Haus zusammensant und mitgerissen wurde.

3wei Stunden später wurde ich jedoch machgerüttelt, du ver stehst, kurzes Haar, Overalls. Man hielt mich ja für einen Burschen. Wir wurden einfach hinausgetrieben, um zu retten, was gerettet werden konnte. Hicks wich nicht von meiner Seite, ich nicht von feiner.

Weißt du, wie lange es dauerte, bis wir Hilfe von draußen befamen? Drei Wochen! Du glaubst es nicht. Aber ich sage dir:

hids sagen: Mach die Augen zu, Kirsten, und halte dich fest drei volle Wochen. Hicks war mit dabei, als man versuchte, Brücken an mir..."

"

Er selbst war weiß im Gesicht wie ein Stüd Papier  . Das gab mir Kraft. Los! An den Häusern vorbei, eine Schneckenfahrt. Ein Haus nach dem andern blieb hinter und unter uns.

Dann kam der Tag. Ach, dieses erste graue Dämmern... un­glaublich, daß ich in dieser Nacht nicht weißhaarig wurde. Und oben So famen wir auf den offenen Plaz, wo die Schule gestanden und unten und weit und nah, überall dieses schauderhafte Jammern. hatte. Da waren die Drähte heruntergezogen, viele von ihnen sogar Mütter, die nach ihren Kindern riesen, Kinder, die nach ihren Mützerriffen. Aber gerade da liefen die Leitungen ineinander. Noch ein tern riefen, irgendwo läuteten Kirchenglocken. Da war wohl einer aus Angst wahnsinnig geworden.

gibt!

Und die Pferde. Daß es noch so viele Pferde in einer Stadt Einmal tam ein ganzer Eisenbahnzug gefahren. Von hoch oben. Hatten sich die Schienen irgendwo losgeriffen? Unten auf der Straße bricht er zusammen und bildet eine Art Damm. Ich denke: so, jetzt sind wir gerettet. Doch Hicks spricht kein Wort. Nur, daß er ab und zu fragt: ,, Bist du durstig? Frierst du?"

Ich fror, daß mir die Zähne flapperten. Aber was war das schon alles? Nichts. Der Anblick der kleinen Leichen jedoch, die vorbeigetrieben wurden... Das Wasser stürzte vorbei. Immer mehr, immer mehr...

Hicks sagte: Gib mir deinen Gürtel, dann binde ich uns mit deinem Gürtel und mit meinen Hosenträgern zusammen."

Gott   sei Dant hatte ich den Gürtel, den mir seinerzeit mein Combon geschenkt hatte. Kann sein, daß der uns das Leben rettete. Hids band also Gürtel und Hosenträger zusammen, und da hingen wir nun, jeder auf einer Seite des Dachfirstes.

Hids sagte: Wenn das Haus einbricht, find wir fertig!" Und kurz darauf: Kirsten, ob wir jetzt durchkommen oder nicht, eines sollst du wissen: Ich liebe dich so, wie ich nie geglaubt hätte, daß ich noch einen Menschen lieben werde, seit meine Mutter tot ist..." Ich bin ihm heute noch dankbar, daß er gerade damals diese Worte sprach. Es tat so wunderbar wohl. Ich aber dachte gar nicht an Hicks, nein, wirklich nicht. Ich dachte, wenn keine Hilfe kommt, ehe das Dunkel einbricht, werde ich wahnsinnig.

Syics sagte: Wenn wir auf die andere Seite rüber können, dann schaff ich es für uns beide."

,, Na schön, aber wie?" Wir hingen den ganzen Tag an dem First. Herrgott im Himmel, wie lang war dieser Tag! Es wurde dunkel, und niemand kam uns zu Hilfe. Aber das Aergste, das Mergste geschah, knapp bevor es dunkel wurde, so daß wir es noch sehen konnten. Mitten auf der Straße lag ein großes Internat, vierhundert Kinder, Knaben und Mädchen, und dazu noch die Lehrer.

Den ganzen Tag sahen wir sie an den Fenstern, hörten wir fie jammern und schreien. Und dann plötzlich ein Getöse... fort... verschwunden... das ganze Gebäude verschwunden... vom Erd­boden verschluckt. Gleich darauf eine Leiche nach der anderen; einige waren noch nicht ganz tot, aber wir wußten ja, daß es hoffnungs­los war, und dabei konnten wir nicht die Hand ausstrecken, fein

Kind retten.

Hicks benahm sich wunderbar. So oft ich den Verstand zu ver­

lieren drohte, machte er Wige, oder er begann zu singen. Ein paar

mal sagte er: ,, Sing ein bißchen, Kirsten!"

Das einzigemal in meinem Leben, daß ich weder lachen noch fingen fonnte. Und wie ich fror! Hungrig war ich wohl auch, denn Brot und Wasser hatten mir verloren, als mir auf das Dach flet­terten. Aber man denkt nicht ans Essen, wenn man buchstäblich zwischen Leben und Tod hängt. Ein wenig dachte ich ja schließlich an zu Hause. Die ahnten nichts. Nun, ich hatte ja meine Portion Glück genossen.

Plötzlich aber jubelt Hids: Ich hab's! Ich hab's!" Unbegreif­lich. Was meinte er? Er zog alle Telegraphendrähte an sich, daß sie sich an seinen Beinen verfingen. Es sah scheußlich aus.

Als aber wieder heller Tag wurde und ich sah, daß Hicks sich an einem Telegraphenpfahl festklammerte, da begann mir ein wenig zu dämmern, was er wollte. Er sagte: Wagst du es, dich von diefer Stange hier über die Straße schwingen zu lassen, oder soll ich es zuerst versuchen?"

Hicks machte sich los von mir. Er sah unglaublich aus, wie er jo ganz in die Telegraphendrähte eingesponnen war und dabei an dem obersten Ende des Pfahles festhing. So ließ er sich ins Wasser hinausgleiten. Ich wäre beinahe nachgeschwommen. Du verstehst. Kein Laut mehr, kein Jammern. Nichts. Nur Wasser. Nichts als Wasser. Die Bäume zogen so still, so friedlich vorbei. Wurzeln so lang wie ganze Häuser, aus der Erde gerissen.

Ich glaube, der Tod der Bäume muß noch qualvoller sein als der der Menschen. Das ganze dauerte nur eine halbe Minute. Dreißig Ewigkeitssekunden. Dann rannte der Pfahl drüben an die Mauer an. Hicks griff zu. Ich sah ihn an dem Vordach hängen, ich sah ihn hinaufflettern.

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Weißt du, was es heißt, mit dem schweren Pfahl im Wasser hinter sich schwimmen? Wo hatte er nur die Kräfte her? Dann rauf. Er erwischte den Schornstein, legte die Schnüre herum. Nach her behauptete er, er habe gerufen, aber obwohl es so still war wie drei Meter unter der Erde, hörte ich keinen Laut. Vielleicht war es eben diese Stille, die meine Ohren betäubte. Ich spürte nur das Gleiten des Wassers, das Gleiten der Bäume, das Gleiten der Leichen. Dann ging es weiter, immer weiter.

Jezt warf Hicks den Pfahl wieder aus, einmal, zweimal, immer wieder schwang er sich zurück. Und da saß ich nun. Auf dem Dach first. Das Wasser stieg lange nicht mehr, aber es sank auch nicht. Und kein lebendes Wesen weit und breit, außer Hicks, der drüben hockte und auf mich wartete.

Als er zum siebenten Male den Pfahl herüberwarf, kam eine Riesenleiche geschwommen. Die stieß gegen den Pfahl, so daß er zu mir herüberflog und ich die Drähte ergreifen konnte. Sieh die Narbe an meiner Hand! Dieses Andenken wird nie verschwinden. Ich weiß nicht, was ich machte, ich dachte nur: Lieber mit allen anderen zugrunde gehen, als noch eine Stunde länger hier allein sigen.

Dann war ich drüben. Hicks padte meinen Arm, riß ihn mir beinahe aus dem Gelent, aber was scherte mich das? Damals sah ich Hicks zum ersten- und einzigenmal meinen. Er miegte mich hin und het: Kirsten, wir sind gerettet!"

Er mies auf alle die Telegraphendrähte, die wie ein großer Bogen Notenpapier über unseren Köpfen hingen. Wieder band er seinen Hosenträger und meinen Gürtel zusammen und befestigte uns so an den Drähten, damit, falls wir loslassen müßten, weil Drähte zu tief einschnitten, Riemen und Gürtel allein uns halten tönnten. Hast du je gesehen, wie man sich über einen Fluß zieht? Ich sah es unten in Merito. Dort aber hatte man ein Seil, um sich fest­zuhalten. Wir hatten nur die Drähte. So viele mir erreichen fonnten Zwanzig, dreißig auf einmal.

Ich bin das Klettern gewöhnt und fenne feinen Schwindel, sonst wäre es auch nicht gegangen. Aber müde in den Armen wurde ich. Und das Blut trat mir wohl aus den mangen, denn ich hörte

Dutzend Meter an den Drähten und dann... wieder festes Land unter den Füßen... festes Land.

Der eine Teil der Stadt war so hoch gelegen, daß er gänzlich unberührt geblieben war, eine Insel in der ganzen Verwüstung. Und da ragte schon das Rathaus vor uns auf. Groß und mächtig. Aus rotem Stein. Wir famen hinein, wie, habe ich vergessen. Sicher trug man uns. Ich erinnere mich an eine Tasse Hafersuppe, und dann schlief ich.

zu bauen. Der Staat schickte Militär, um Brücken zu uns herüber­schlagen zu lassen.

Unmöglich. Das Ganze ein riesiger schlammiger Tümpel, in den tein Pfahl geschlagen werden konnte, über den man fein Boot hinüberbrachte. Ein paar Flieger tamen mit Milch und Sachen für die fleinen Kinder. Alles wurde rationiert. Jeder bekam seine Konservenbüchse. Niemand wußte, was sie enthielt. Die meisten Etiketten waren schon fortgeschwemmt.

Einmal bekam man eine Dose Bohnen, einmal eine Dose Pfirsich kompott oder Kondensmilch. Einmal bekam ich eine Dose roter Delfarbe, na, dann teilte Hicks mit mir. Damals war es, doch, nein, genug, genug.

Aber nicht wahr, ich darf wohl sagen, daß ich eine richtige Lebensgefahr durchgemacht habe? Und das, ohne auch nur ein meißes Haar bekommen zu haben!

Die Hoinkis kommen nach Breslau  Novelle um einen Bauernhut/ Von Jochen Klepper  

Die Hoinkis waren eine arme Bauernfamilie tief im Osten, in der Gegend von Grajewo   und Szcuczyn. Der Vater konnte die neunzehn Kinder auf seinem Hof nicht erhalten und schickte die fünf ältesten, vierzehn bis neunzehnjährig, fort, einen Erwerb zu suchen. Damals war die Botschaft von den aufkommenden Fabriken in den großen Städten auch in die östlichen Dörfer gedrungen; für sie war Breslau   die große Stadt im Westen. Und dorthin wanderten die fünf Bauernfinder auch aus. Das Geld reichte gerade noch für einige Tage Herberge, und sie liefen noch am ersten Abend in den Straßen umher, einen kleinen Verdienst zu suchen. Aber sie tonn­ten sich nur schwer verständlich machen und wußten gar nicht, was für Fähigkeiten sie anpreisen sollten. Wir müssen einen Plan faffen," sagte Luwa, der Aelteste.

,, Das muß schön sein," erwog Herman, der Siebzehnjährige, so einen erleuchteten Wagen futschieren mit einer Treppe daran und vielen Bänken darin und Pferden davor, die auf Schienen laufen."

Es ist eine Pferdebahn," berichtete Luma kurz. Er hatte sich schon aufklären lassen. Es wird schwer für dich sein, dort eine Stelle zu finden. Geh hin und rede mit den Leuten. Aber du wirst sehen, es ist etwas anderes, unsere zwei Kühe zu führen, als die großstädtischen Pferde zu lenten. Das ist nichts für uns."

Luwa," unterbrach ihn Josepha, die schöne, ihr werdet noch froh sein, wenn ihr den Pferdemist auf den Schienen kehren dürft, und Mascha und Jette und ich werden die Wagen innen ausscheuern." Wir werden schon etwas finden," sah die rundliche Henriette zwei hübschen Soldaten nach, die in ein Bierrestaurant gingen. Mascha, die Vierzehnjährige, mit dem Grübchen in Wange und Rinn, hängte sich in Luwas   Arm: Wir müssen etwas suchen, das uns Freude macht."

,, Das ist gar nicht das Dümmste," wandte fich Luwa zu den anderen, es ist alles gleich schwer. Und hat man keine Freude an der Arbeit was macht uns Freude?" Sie standen an dem Rückpfeiler der düsteren Dorotheenkirche zusammengedrängt und blick­ten in die große Schweidniger Straße hinein.

Mascha hatte sich fest an Luma gedrückt. Ihre Köpfe waren in die gleiche Richtung gewandt. Dort promenierten Damen vor einem überaus herrlichen Kaffeehaus, Damen mit leicht schleppen­den Röcken voller Rüschen, mit wehenden Mantillen aus dunkler Spize. Sie hatten frische Blumen angesteckt und hielten gestickte Beutelchen in den Händen. Und Hüte trugen fie, wie Luwa und Mascha noch niemals welche gesehen hatten; fannten sie doch nur Kopftücher und große, harte Strohhüte, die bei der Feldarbeit gegen die Sonne schützen sollten. Aber diese Hüte in dem Glanz der nächtlichen Stadt waren wie seltsame Vogelfächer, wie Blüten.

Luma faßte Mascha am Handgelent: Hüte werden wir machen, Hüte wie die." Henriette war voller Entzücken, daß sie vielleicht auch einmal wie die Fräuleins von Breslau   vor dem hellen Kaffee­haus hin und her spazieren sollte. Die Soldaten würden kommen und sie anlachen und mit ihr in ein Bierrestaurant gehen. Josepha strich sich das Haar aus der Stirn; sie war sehr aufgeregt. Her mann fühlte sich zum Hütegarnieren zu derb. Er würde die Hüte zum Händler tragen.

Am nächsten Morgen suchten sie ihre letzten Groschen zusam men und tauften ängstlich und erwartungsvoll eine Strohhutform, ein Stüd Band, eine etwas angefnickte Feder, künstliche Blu nen und Aehren, ein Endchen Schleier. Selbst Nadel und Schere und Faden erschienen ihnen als große Dinge. In ihrer Kammer drohen hodten sie sich um die eingekauften Schäze. Luwa legte den Hut in die Mitte und bog mit einer feierlichen, entschlofferen Bewegung die Krempe hach: So war das gestern."

,, und dort fiel ein Schleierchen herab," lächelte Masha( die

Grübchen in Wange und Kinn wurden tiefer als sonst) und steďte den Fezzen Tüll an dem aufgeschlagenen Hut feft. Eine nach vorn herabliegende Feder, das könnte mir stehen, rief die stolze Josepha voller Begeisterung und hat die Feder hinzu Mit viel Bedacht nähte Luma fie fest.

,, Ein paar Aehren, das ist immer richtig." sehnte fichy Hermann nach den Feldern seines Dorfes und nahm die Aehren und Blumen, umwickelte sie mit Seidenband und hielt den Tuff über den Hut rand. Da sah Luma einen ganzen Laden voller Hüte vor sich. Vier Schnüre maren von Ecke zu Ede gezogen. Daran hingen die Hüte. Sie hockten, soweit sie Federn hatten, droben wie 3merg hühner, Yokohamas und sogenannte Italiener. Andere Hüte hingen wie Zweige mit Pflaumen und Kirschen herab, wie Aehrenbündel und Sträuße von Korn und Mohn. Die Hüte trugen zum Schmud, was die Frauen daheim jahraus jahrein pflanzten und ernteten.

Du wirst gar nicht bloß Hüte austragen, menn man uns welche abnimmt," schlug Luma seinen Bruder derb und zärtlich auf die Hand. Henriette faß still und strahlend vor dem Werf her Ge­schwister und verliebte sich ein menig in ihre Brüder. Hermann blieb aber ganz begierig: Soll ich den Hut zu einem Händler bringen?"

Das wäre unvorsichtig." Luma drehte den Hut in seinen Hän den und sah sich im Kreise um: Wir werden einer von euch Schwestern den Hut auffeßen lassen und sie auf die Straße schicken und ihr nachsehen, ob sich jemand an dem Hut erfreut." Josepha griff nach dem Kleinod; aber Luma zögerte: Du bist die Schönere Mascha ist so rührend." Josepha und Mascha blickten den Baber gleich starr an. Der hob den Hut hoch und fegte ihn Majche

-W

auf wie eine Krone. Luma zog aber zugleich Josephas Kopf an seine Schulter und streichelte sie mit seinem Gesicht: Wenn du später selbst einmal prächtige Hüte tragen willst, laß Mascha gehen." Mascha ging. Am Tage getraute sie sich noch nicht, weil ihre Klei­der zu schlecht waren. Aber am Abend, dachte sich Luwa, würde das Licht von den hohen Laternen mehr auf den Hut scheinen. Er, Hermann, Josepha und Henriette geleiteten die Jüngste nur noch bis in die Nähe des Stadttheaters, vor dem jezt Equipage um Equipage anrollte. Mascha wandte sich verschüchtert und sehn­fuchtsvoll nach den Geschwistern um und fuhr erschrocken zusammen, als eine prächtige Dame mit leuchtenden Wangen und tiefrotem Mund, mit einem Federhut und einem über dem Cul gerafften Samtmantel sie anredete:

Du wirst schon noch einen Gönner finden, Kleine, es ist zu zeitig und du bist auch etwas sehr jung. Außerdem bist du schlimm angezogen. Aber einen wunderbar schönen Hut hast du auf. Wer hat dir den geschenkt? Du fönntest ihn mir verkaufen, denn dir ist er zu weit und du hast ihn falsch aufgesetzt. Den muß man so schief tragen." Die Dame griff nach ihrem eigenen Hut, und es war eine herrliche Bewegung, die Mascha durch und durch erschauern ließ. Am liebsten hätte sie den Hut vor lauter Freude verschenkt. Aber er gehörte ja nicht ihr allein und war von solcher Wichtigkeit für ihrer aller Zukunft.

" Den Hut habe ich mit meinen Geschwistern gemacht," lächelte fie felig. Die Dame ſtemmte jegt einen Arm in die Hüfte und beugte sich zu Mascha hinab. Es war mit einem Male gar nicht angenehm, daß fie so nahe fam. Ihre Stimme flang rauh, wenn auch das, was sie sagte, nicht sehr unfreundlich war: ,, Wenn man etwas tann wie anscheinend du und deine Schwestern oder was ihr für Geschwister seid, dann versucht man doch erst zu arbeiten und fängt nicht gleich wie du an. Aber heut sind sie alle wie die jungen Pariserinnen," entrüstete sich das Fräulein nun doch. Das war ein hartes Urteil, obwohl sie Paris   gar nicht fannte." Komm morgen mal zu mir," fing die Dame von neuem an, und sah sich um, da zwei Herren im Zylinder, ein älterer und ein jüngerer, fie vergnügt beobachteten, fomm bald morgen, ich habe einen Freund mit einem kleinen Buzgeschäft, Karlstraße 21. Das tönnte etwas für dich sein." Dann raffte die Dame läffig ihre Schleppe zusammen und promenierte auf die beiden Herren, man darf wohl sagen, auf den älteren zu.

Schwester nicht mehr aus den Augen gelaffen. Bis zum Anbruch Luwa, Hermann, Josepha und Henriette hatten jetzt die der Mitternach berieten die Geschwister in der Herberge, wer morgen mit Mascha zu dem Freund der Dame gehen sollte. Mascha wollte alle Geschwister mitnehmen, weil es ja ihrer aller gemeinsamer Hut war. Aber es wurde ihnen allen selbstverständlich, daß sie nur von Luwa begleitet werden dürfe. Am nächsten Morgen erwachten sie so spät, daß Luma und Mascha sehr erschrafen und die anderen ihnen gähnend Vorwürfe machten. Der Hutladen des fremben Herrn war sehr flein. Er lag in einem Winkel zwischen Junkern und Karlstraße abseits der großen Straßen. Vor allen Ladentüren hingen Felle und alte Kleider. Die Kaufleute der Gasse schrien miteinander, und auch der einzige bekannte Mensch in dieser Straße von verwirrend viel Geschäften, das Fräulein von gestern, schalt vor der Tür laut auf eine Rage ein, die mit gestrecktem Schwanz davonstob. Das Fräulein hatte wieder schöne, dunkle Augenbrauen. einen tiefroten Mund und eine sehr weiße Haut. Aber die Locken schienen am Morgen ein wenig wirr. Auch waren die herrlichen Kleider ohne Glanz, etwas dünn und gedrückt und paßten den Ge­schwistern nicht recht in die Arbeitsgeschäftigkeit des Morgens.

,, Nein, seht mur, einen Burschen bringt sie sich mit," schrie die Dame und zeigte auf Luma. Der Bursche sprach dann eigentlich nur ernst und gemessen mit ihr und dem Herrn, aber gar nicht so höflich, wie Mascha das erwartet hatte und wie sie es selbst nicht so recht fertig brachte. Der Herr in den engen grauen Hosen und dem schmierigen schwarzen Gehrock zupfte sich eine kleine Feder aus dem Bart, segte sich ein goldenes Pincenez auf und stellte Maschas Hut eigenhändig ins Schaufenster, wenn man die trübe Scheibe so nennen will. Von da an wanderte noch mancher Hut der Geschwister in dieses Schaufenster und zum Glück auch wieder heraus. Dem Fräulein fonnte man sich jedoch nicht lange dankbar erweisen. Es prügelte sich einmal eine gut halbe Stunde mit seinem Freunde im Laden herum, wobei er der Unterlegene war, denn fie erwies fich als eine sehr flinke Person trog ihres Culs und der vielen Rüschen. Und dann verschwand sie mit bewunderungs­würdiger Folgerichtigkeit, nicht ohne zwei von Maschas und Luwas  Hüten in einem riesigen Papierbeutel mitgenommen zu haben.

,, Mascha," lächelte der Junge und blickte dem Fräulein nach, daß wir hierher tamen, ist ein ordentlicher Anfang gewesen. Das hier eben mar unser erster großer Erfolg." Da stand auch schon der zerzauste Herr vor ihnen: Nun macht mir bloß die Hüte noch einmal. Lauft ihr nicht etwa auch noch fort."

,, Nein, nein, mir bleiben. Wir holen auch noch mehr Ge­schwister. Wir schaffen Ihnen soviel Hüte, daß Sie vier Schnüre im Laden ziehen müssen, von Ecke zu Ede, für die ganzen Hüte," beruhigte ihn Luma.

,, Das kann ja lustig werden," schnaufte der Herr, das wird ja eine wahre Freude werden."

Mascha und Luwa nickten und sprachen wie mit einem Mund: Das wollten wir nämlich; etwas arbeiten, was luftig ist und Freude macht"