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Morgen- Ausgabe

Nr. 597 A 293 49. Jahrg.

Redaktion und Berlag: Berlin   SW 68, Lindenstr. 3 Fernfprecher 7 Amt Dönhoff 292 bis 297

Telegrammabreffe: Sozialbemotrat Berlin

Vorwärts

BERLINER

VOLKSBLATT

DIENSTAG

20. Dezember 1932

In Groß Berlin   10 Pf. Auswärts....... 15 Pf.

Bezugsbedingungen und Anzeigenpreise fleje am Schluß des redaktionellen Teils

Bentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands  

Das Ringen um die Amnestie

Der Zeitpunkt der Entlassung der Hunderte von politisch Gefangenen und der wegen Ver gehens aus wirtschaftlicher Not Verurteilten ist immer noch nicht gesichert. Die Sozialdemo= fratie, die Urheberin des Gesetzes über die Straf= freiheit besteht natürlich darauf, den Einge ferferten ihre Freiheit vor dem Weihnachtsabend wiederzugeben. Dazu bedarf es einer raschen Zustimmung des Reichs= rates, der Vertretung der Regierungen der Länder. Der Reichsrat hat sich aber Zeit gelassen und seine Beschlußfassung auf heute, Dienstag nachmittag, verschoben. Inzwischen haben die Re­gierungen von Bayern  , Baden   und Württemberg  verlauten lassen, daß sie aus partikularistischen Gründen Einspruch erheben wollen, Kommen zu den 18 Reichsratsstimmen, über die diese Länder verfügen, noch ein paar Stimmen preußi­scher Provinzialvertreter aus dem deutschnatio­nalen Lager, dann ist das Drittel von den 60 Reichsratsstimmen vorhanden, das den Vollzug der Amnestie aufhalten kann. Angesichts dieser Möglichkeit haben die Sozialdemokraten sofort im Aeltestenrat beantragt, noch diese Woche den Reichstag einzuberufen, damit er den Einspruch des Reichsrats durch einen neuen Be­schluß mit Zweidrittelmehrheit unwirksam macht. Ueber den Berlauf der Sigung des Aeltestenrats geht uns der nachstehende Bericht zu.

Wie wir hören, wird die Reichsregierung den Versuch machen, in der zweiten Streitfrage, in der Winterhilfe, eine Ueberbrückung zu fuchen. Zwischen dem Arbeitsminister Syrup und dem Reichsfinanzminister v. Krosigk sollen noch am Dienstag Berhandlungen über das Ausmaß der zu gewährenden Winterhilfe geführt werden, deren Ergebnis dem Aeltestenrat am Abend vor­

Immer noch keine Gewißheit

gelegt werden soll. Von den Zugeständnissen, die dabei gemacht werden, dürfte es in zweiter Linie abhängen, ob der Reichstag   zum Donnerstag vor Weihnachten noch zu einer furzen Sigung ein­berufen wird.

Reichstag vor Weihnachten?

Der Aeltestenrat des Reichstags ist am Montag noch zu keinem Entschluß über die sofortige Einbe­rufung des Reichstags gekommen, sondern wird die Entscheidung erst heute, Dienstagabend, fällen, nachdem die Haltung des Reichsrats zur Amnestie bekannt ist.

In der Sigung beantragten die Sozialde= mokraten die Einberufung des Reichstages für Donnerstag dieser Woche, 1. um in einer neuen Abstimmung mit Zweidrittelmehrheit einen etwai­gen Einspruch des Reichsrats gegen die beschlossene Amnestie unwirksam zu machen, 2. um die Be­schlüsse des Haushaltsausschusses zur Winter= hilfe, über welche die Regierung bisher keine Erklärung abgegeben hat, vom Plenum des Reichs­tages bestätigen zu lassen. Die Kommunisten stellten darüber hinaus noch ihren alten Antrag, auch die Regierungserklärung, die Mißtrauens= voten und die Beschlüsse über die Notverordnung vom 4. Juli noch vor Weihnachten zu behandeln, was praktisch faum durchführbar ist. Die Natio= nalsozialisten schlossen sich zunächst der An­sicht der Sozialdemokraten an, die beiden dring­lichen Angelegenheiten, die auf alle Fälle noch vor Weihnachten   erledigt werden fönnen, nämlich Amnestie und Winterhilfe, auf die Tagesordnung zusetzen. Im Verlauf der Sitzung zogen sie sich jedoch darauf zurück, erst einmal das Schicksal der Amne stie im Reichsrat abzuwarten und dann in

Neuer Tatendrang der SA.

Tränengas gegen Warenhäuser: Beginn einer neuen ,, Aktivität"

Die Nationalsozialisten versuchen in diesen Tagen ihre parlamentarische Unfähigkeit mit außerparlamentarischen Mitteln zu Mit niedrigster und

vermischen. dümmster Art.

Mitteln

In Mainz   und Gießen haben am ,, Golde­nen Sonntag" zur gleichen Stunde Anhänger der Nazis Tränengasbomben in verschiedene Geschäfts= häuser geworfen. Das gleiche geschah in Wien  . Unter den zahllosen, in den Warenhäusern sich befindlichen Käufern und Angestellten entstand eine Panik. In Wien   sind Kinder fast zu Tode getrampelt worden. In Gießen   wurde einer der Täter, ein 18jähriger Naziangehöriger Wayel, von der Polizei gefaßt Er hat die Tat zynisch eingestanden. An einem sich über zahl­reiche hessische Städte erstredenden Nazifom­plott gegen die Warenhäuser fann faum ge= zweifelt werden.

Ist das die gesteigerte Schlag­kraft der NSDAP.  ", die Hitler   in seinen Versammlungen verkündet? Es mehren sich die Anzeichen, daß eine neue ,, Aktivität von Hitlers SA. nicht nur mit Tränengasbomben!- vorbe. reitet wird! Das ist ein verbreche risches Spiel!

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Die Verantwortung dafür wie für die Kon­sequenzen hat die Führung der NSDAP  . zu tragen! Wir stellen mit allem Nachdruck ihre Berantwortlichkeit für diese neuesten Terror­afte fest!

Das Naziverbrechen von Wien Wien  , 19. Dezember. Die Wiener Hakenkreuzler haben den gestrigen Sonntag, an dem die Geschäfte in Wien   geöffnet waren, wie es am Sonntag vor Weihnachten

üblich ist, zu einem niederträchtigen An­griff auf das größte Wiener Waren haus benutzt. Zur Zeit des stärksten Andrangs, als das Warenhaus von unten bis zum obersten Geschoß mit Käufern angefüllt war, warjen dort Hakenkreuzler Tränengasbomben, durch die eine furchtbare Panit im Hause ent­stand.

Taufende von Frauen und Kindern kamen durch diesen Angriff in Lebensgefahr! Nur mit Mühe gelang es den Leuten, die von dem ätzenden Gas schwere gesundheitliche Störungen davontrugen, das Warenhaus zu verlassen. Die Feiglinge, die das Attentat unternommen

einer neuen Sizung die endgültige Stellung zu dem Antrag der Sozialdemokraten einzunehmen. Mit den Stimmen aller Parteien gegen Sozial­demokraten und Kommunisten wurde dann be= schlossen, die Beschlußfassung auf Dienstag zu ver tagen.

Bemerkenswert war, daß Reichstagspräsident Göring erflärte, neue Beschlüsse des Reichstags hätten ja doch ,, feinen Zweck", da die Regierung doch machen würde, was sie will. Das stand in starkem Gegensatz zu den kräftigen Tönen, die Herr Göring in der Deffentlichkeit und vom Präsidenten­stuhl aus riskiert. Herr Stöhr von den National­fozialisten kündigte darüber hinaus noch an, daß seine Partei nicht geneigt sei, ständig von den Kom­munisten beantragten Sigungen des Aeltestenrates die Ehre ihres Besuches zu erweisen, sie würden diese gegebenenfalls durch Wegbleiben beschluß unfähig machen.

Für den Reichsrat, der heute, Dienstag= nachmittag zusammentritt, ist diese Beschluß fassung troßdem ein Warnungssig nal. Es bekundet, daß eine große verfassungs­mäßige Mehrheit des Reichtages gewillt ist, auf alle Fälle ihrem Beschluß vor Weihnachten noch Geltung zu verschaffen. Die Reichsratsvertreter, welche gegen die Amnestie stimmen, können also höchstens erreichen, daß die Gefangenen nicht mehr rechtzeitig vor Weihnachten   entlassen werden- an der Durchführung der Amnestie selbst fönnen fie nichts ändern. Sie würden also höchstens das Odium auf sich laden, in das ,, Friede auf Erden" einen Zug des Sasses hineingebracht zu haben

was besonders den christlichen Regierungen Süddeutschlands   gerade nicht sehr gut zu Gesicht stände. Deshalb hoffen wir, daß der Streit um die Amnestie bereits Dienstagabend beendigt ist.

bei Angehörigen des Reichsbanners Haus­suchungen vorgenommen. Ueber das Ergeb­nis der Erhebungen wird an amtlicher Stelle noch Stillschweigen bewahrt.

Die pfälzische Polizei hätte besseres zu tun, als bei Sozialdemokraten nach Waffen zu haussuchen! In der Pfalz   hatten die Nationalsozialisten engros Sprengbomben fabriziert Gericht und Polizei aber haben den zu Zuchthaus   verurteilten SA.  ­Führer und Bombenverbrecher Eide laufen lassen, so daß er jegt in Südtirol   sizzt!

Die Tränengasattentate in Hessen  , die neu ermachte verbrecherische Aktivität der SA. zeigt, wo die Polizei genügend Arbeit finden würde! Statt dessen Haussuchungen bei Sozial demokraten das läßt tief blicken!

Der Alte­

und wir Jungen

Von Dr. Otto Friedlaender

Eduard Bernstein   blieb das schwere Los, eine Zeit und ihre Menschen zu überleben, nicht erspart. Trozdem war er nicht allein, denn die Jugend, die an Festtagen ihn mit begeistertem Gruß, mit dem Klang der Kampflieder und dem Lodern ihrer Fackeln. ehrte, war auch in stillen Stunden gern bei ihm zu Gast. An den Wänden hohe Bücher­reihen, Bebels, Lassalles, Liebknechts Bilder und, sorglich wie eine Reliquie gehütet, das eiserne Tintenfaß seines großen Lehrmeisters Karl Marr waren Zierden des Rahmens, aus dem das Bild des Patriarchen lebendig und bedeutend hervortrat.

Wenn je, so mochte man bei Eduard Bern­ stein   glauben, daß es der Geist ist, der sich im Laufe der Jahrzehnte den Körper baut oder der zum mindesten die Köpfe der Wissenden meißelt. Hoch wölbte sich die Stirn, die Liebermanns Künstlerauge ent­zückte, über Augen, die von Brillengläsern leicht verschleiert, Güte und jene prüfende Stepsis strahlten, die des Glaubens beste Schwester ist.

Wie eindrucksvoll war aber erst dieser Mann, wenn er sprach. Die einstige Leucht­kraft der Rede war ihm im Alter nicht mehr eigen, aber die Echtheit des Gefühls, die jeden Gedanken nicht nur als gedacht, son­dern als erlebt empfinden ließ, wirfte gerade auf junge Menschen überzeugend. Dieser Mann, der stets ein Kämpfer war, war darum auch ein guter Lehrer. Ganz gleich, ob er nach der Revolution im überfüllten Auditorium Maximum sprach oder ob er im fleinen Kreis plauderte, immer umwehte ihn ein Hauch jenes überzeitlichen Denkens, das dem Alltag gerecht wird, ohne ihm anheim­zufallen. Hatte er die echte Distanz des Könnens, nie jedoch das gipserne Postament der Selbstzufriedenheit, so hatte er auch nie gegenüber der Jugend einschüchternde oder abwehrende Entferntheit. Er suchte sie zu verstehen, indem er mit ihr gleich zu gleich diskutierte. Er liebte diese Diskussionen mit jungen und unbekannten Genossen, die ihn aufsuchten, und schäzte auch das Gespräch über die kleinen Sorgen und Freuden. Denn diesem Kämpferleben war das Idyll nicht fremd. In dem mit Büchern überfüllten Arbeitsraum war ab und zu ein kleines Vogelzwitschern zu hören, und an Sommer­abenden saß der alte Ede" als Schöne­berger Rittergutsbefizer", wie er sich selbst nannte, vor seiner bunt umblühten Laube. Dann brachte das Gespräch in einem sanft

Nazis verlieren 45 Proz. leuchtenden Humor, der gerade in den

haben, machten sich sofort aus dem Staube und Nazis verlieren 45

konnten bisher noch nicht ermittelt werden. Die Polizei nahm sofort einige Berhaftungen vor und besetzte auch noch während der Nacht das Braune Haus   in Wien   wo sie umfang­reiche Hausdurchsuchungen vornahm Das Resul tat der Hausdurchsuchungen ist bis zum Augen­blick noch nicht bekannt. Nachmittags wurde der Führer der Wiener Nationalsozialisten, Stadt­rat Frauenfeld  , von der Polizei vorgeladen.

Bezeichnend ist, daß dieser Mann in der Augenblid, als er glaubte, persönlichen Unan nehmlichkeiten ausgesetzt zu sein, seine SA.- Leute im Stich ließ und plötzlich der Polizei erklärte, er wolle sich mit den Leuten, die die Tränengasbomben geworfen haben, nicht identifizieren.

Haussuchung bei Sozialdemokraten

Cudwigshafen, 14. Dezember.

Im Zusammenhang mit der Untersuchung einer Waffenschiebung wurden in Cudwigshafen und Kaiserslautern   in den Geschäfts­räumen der dortigen sozialdemokrati­ichen Blätter sowie in den Parteifetre. fariaten, Gewertighajtshäusern und

Eigener Bericht des Vorwärts"

Aachen  , 19. Dezember. Infolge Umgemeindungen fand in Alsdorf   am Sonntag eine Neuwahl des Gemeinderats statt, bei der die Nationalsozialisten eine fatastrophale Niederlage erlitten. Es erhielten Sozialdemo­traten 825 Stimmen( 6. November: 1246; 31. Juli 668 Stimmen); Kommunisten 2512 Stim­men( 3318 bzw. 1666); Nationalsozialisten 496 ( 914 bzw. 838); 3entrum 1825 Stimmen( 2637 bzw. 1889); Bürgerlifte 987 Stimmen; Christliche Arbeiter- und Bürgerpartei 238 Stimmen; Ar­beiter- und Bauernpartei 181 Stimmen; Chriftlich­foziale Bürgerlifte 81 Stimmen. Insgesamt wurden 7096 Stimmen abgegeben. Der Verlust der Nationalsozialisten gegenüber den Reichstags­wahlen vom 6. November beträgt 45/10 Prozent. wahlen vom 6. November beträgt 45/10 Prozent.

Eine Bombenexplosion in Havanna  ( Kuba  ) richtete am Gesundheitsministerium großen Schaden an und zertrümmerte die Fenster vieler umliegenden Häuser. Berlegt wurde niemand. Die Attentäter tonnten nach einem Revolvergefecht mit der Bolizei entkommen.

Alterstagen, in denen der Mensch zum Schatzgräber der eigenen Vergangenheit wird, manch föstlichen Fund aus mehr oder minder großer Bergangenheit zutage.

Wie konnte aber dieser Mann, dem der Tod seine Lebensgefährtin, trog aller Freundschaft und Pflege, die ihr zuteil wurde, als besten Kampfgefährten geraubt hatte, noch bis in das hohe Alter hinein streiten! Nicht gehässig, sondern stets unter menschlicher Achtung, ja persönlicher Anteil­nahme für die Gegner, schlug er seine Klinge. Unvergeßlich wie er einmal, furz nach dem Kriege, in einer Versammlung sozialistischer Studenten einen Kanzler der Raiserzeit angriff. Aber das doch in so sach­licher und menschlich vornehmer Weise, daß der Sohn dieses Kanzlers, der zufällig als Gast unter den Hörern weilte, den Wunsch äußerte, diesen Gegner seines Vaters fennen­zulernen und mit ihm zu reden. Ein Ge­spräch entwickelte sich, das von Eduard Bern­ stein   ohne irgendein Rückweichen in der Kritit, doch mit ungemeinem Herzenstaft ge­