Abend- Ausgabe
Nr. 74 B 35 50. Jahrg.
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Vorwärts
BERLINER
VOLKSBLATT
MONTAG
13. Februar 1933
Bentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands
Unruhe
Braunschweig- Staßfurt- Eisleben
Wir leben in der Zeit unerfüllter Verheißungen. Wenn es vom vielen Reden abhinge, so wären wir allerdings im Paradiese. Unser jetziger Reichskanzler reist ebensoviel im Lande herum und hält ebensoviel martige Reden wie Wilhelm II. Leider haben Rundfunkreden den Nachteil, daß sie auf leere Mägen nicht sättigend wirken, so mancher Zuhörer bemerkt nur den Widerspruch zwischen Verheißung und Wirklichkeit.
Zu dem vielen, was uns versprochen wurde, dessen Erfüllung wir aber einmeilen nicht bemerken, gehört auch die Versicherung: Nach der Machtergreifung Hitlers würden die Unruhen in Deutschland aufhören. Rein sachlich ist festzustellen, daß die bisherigen Sonntage unter dem neuen Regime zu den blutigsten zählen, die wir in Deutschland jemals hatten. Am vorvergangenen Sonntag wurde unser Genosse Landtagsabgeordneter Kasten in Staßfurt ermordet. In Breslau wurde ein Reichsbannermann durch Messerstiche getötet, die Zahl der übrigen Opfer ist erheblich. Noch bis heute haben wir kein offizielles Wort des Abscheus oder des Bedauerns über den Staß furter Meuchelmord vernommen. Die Regie: rung hat die Tat ignoriert.
Zu denken geben auch die Bluttaten des geftrigen Sonntag. Eigentümlich war schon die Art, aus welchen Anlässen heute Opfer fallen. In Braunschweig , wo der Eisernen Front öffentliche Versamm: lungen, verboten werden, darf die SA. auf der Straße demonstrieren, auch durch die ihr feindlich gesinnten Arbeiterviertel. Zu diesem 3wed ordnet die Polizei an, daß in der De= monstrationszeit jeder Verkehr von der Straße zu verschwinden hat und jedes Fenster geschlossen ist. Wie die Bewohner eines feindlichen eroberten Landes werden die Arbeiter, die schließlich auch Staatsbürger sind, in ihre Wohnungen eingesperrt. Und dann... dann kommt das Unausdenkbare: Am hellichten Tage schießt die Polizei zwei alte Frauen an, weil
sie ihre Fenster nicht rasch genug geschlossen haben. Ein Arbeiter wird niedergeschossen, weil er nicht rasch genug von der Straße verschwand. Wie sagen doch die Nationalsozialisten: Voltsgenossen...
“
Eisleben ist ein Fall für sich. Wir berichten über die Tatsachen ausführlich an anderer Stelle. Unbestreitbar und unbestritten ist, daß die Polizei dem S.- Zug den Vorbeimarsch am fommunistischen Parteigebäude gestattet, ohne dieses in ausreichender Weise zu beschützen, ohne mit genügenden Kräften zur Stelle zu sein. Die Polizei hat weder verhindern können noch verhindert, daß die das Gebäude stürmende SA. eine Kinderveranstaltung auseinandersprengte und auch eine Anzahl kleiner Kinder verletzte.
Das sind einige Illustrationen zu dem heute herrschenden Zustand von Ordnung, Ruhe und Sicherheit. Eines fönnen wir den Verantwortlichen versichern: Snmpathie wird auf diese Weise für den neuen Kurs nicht erweckt. wohl aber ein anderes Gefühl.
Nach einer im„ Echo de Paris" veröffentlichten Agenturmeldung aus Peting sollen aus dem Landesinnern kommende Kamelreiter dort mitgeteilt haben, daß sich am 26. Dezember im westlichen Teile der Provinz Kansu ein heftiges Erdbeben ereignet habe. Mehrere Städte seien zerstört worden. Man schätze, daß 70000 Menschen ums Leben getommen seien.
Die Wahrheit über Eisleben
SA. überfällt KPD.- Haus- Kein Mensch ist seines Lebens sicher!
Eigener Bericht des„, Vorwärts
Eisleben , 13. Februar. Die Nationalsozialisten hatten am Sonntag SA. - Leute aus der ganzen Umgebung in Eisleben zusammengezogen. Etwa 300 uniformierte Nationalsozialisten, die durchweg mit scharfgeschliffenen Spaten, Stahlruten und Revolvern ausgerüstet waren, terrorisierten seit dem
Vormittag die Stadt. Leute, die das kommunistische Abzeichen oder das Abzeichen der Eisernen Front trugen, wurden verprügelt. Ein Anhänger der Eisernen Front wurde auf der Straße geschlagen, weil er die drei Pfeile trug. Als er in seine Wohnung flüchtete, sekten ihm die Nationalsozialisten nach,
drangen in seine Wohnung ein und zer
trümmerten die ganze Einrichtung.
Der Zug der Nationalsozialisten ging über den Breiten Weg an der kommunisti schen Buchhandlung und Filiale des ,, Klassenkampf" vorüber. Der Führer bes Zuges, der Kreisleiter ber NSDAP . von Alvensleben, trat auf die Stufen und verlangte, daß die Tür geschlossen werde. Ein Kommunist erklärte:„ Wir machen in unserm Hause, was wir wollen." Darauf fiel ein Schuß und nun stürmten die Nationalsozialisten die kommunistische Buchhandlung. Sie wurde voll. ständig demoliert, die Rolladen wurden mit Beilpiden zer. schlagen, der gesamte Inhalt wurde auf die Straße geworfen, zum Teil zer. rissen und verbrannt.
Der Polizeiverwalter stand machtlos dabei!
Hinter der kommunistischen Buchhand
lung befindet sich eine Turnhalle von
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Rotsport. Dort waren Kinder beim Turnen, gleichzeitig wurde eine sehr schwach besuchte kommunistische Parteiversammlung abgehalten. Auch in diese Turnhalle drangen die Nationalsozialisten ein. Sie schlugen auf die Kinder ein. Die wenigen Kommunisten es waren in der Buchhandlung wie in der Turnhalle etwa 30 bis 40 Kommunisten, wurden mit Spaten jämmerlich zerschlagen. Sie wurden in den hinter der Turnhalle fließenden Bach geworfen und immer wieder hineingeworfen, wenn sie sich retten wollten. So erklärt es sich, daß die kommunistischen Toten keine Schußwunden haben.
Zur Vervollständigung des Bildes erhalten wir noch folgende Einzelheiten:
In der Luther - Stadt Eisleben tam es am Sonn
tagnachmittag zu einem blutigen Straßenkampf zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten. Die Opfer sind zwei Tote und 17 Schwerverletzte.
Der Vorfall ereignete sich während eines Umzuges der SA. und der SS. Als der Zug das Gebäude der kommunistischen Buchhandlung am Breiten Weg in der Neustadt passierte, entwickelte sich eine wilde Schießerei. Passanten behaupten, daß der erste Schuß von einem Zug= teilnehmer abgegeben wurde, während die Nationalsozialisten erklären, aus dem KPD. - Haus beschossen worden zu sein. Jedenfalls war der Schuß das Signal zu einem Sturm der SA. auf
das Gebäude.
Der Führer der Stadtpolizei stellte sich mit gezogener Waffe schüßend vor den Eingang
der Buchhandlung, wurde aber von den SA. Leuten überrannt.
In wenigen Minuten war die ganze Ladeneinrichtung zertrümmert und auf die Straße geworfen. Dann drangen Hitlers Rameraden in die hinter dem Haus gelegene Turnhalle der kommu nistischen Sportorganisation ein, wo zur gleichen Stunde eine schwach besuchte Mitgliederversammlung der KPD . stattfand. Wie die Bestien fielen die S.- Leute über die Versammlungsbesucher her, mißhandelten sie und demolierten auch hier den Raum vollkommen. Wenige Minuten später wurde in einer angrenzenden Straße ein Mitglied der Sozialdemokratischen Partei mißhandelt und bis in seine Wohnung hinein verfolgt. Auch hier wurde alles demoliert und die halbe Einrichtung auf die Straße geworfen. Erst als ein starkes Ueberfallkommando aus Halle eintraf, konnte die Ruhe unter Anwendung der Schußwaffe wiederhergestellt werden.
Die Opfer dieser blutigen Schlacht sind ein
Der bisherige Generalintendant des Nationaltheaters zu Weimar , Dr. Franz Ulbrich , wurde zum Intendanten des Staatlichen Schauspielhauses Berlin ernannt.
Nationalsozialist, der sofort getötet wurde, und ein Kommunist, der bald nach seiner Einlieferung ins Krankenhaus starb. Von den 17 Schwerverletzten, fast ausschließlich Kommu nisten, befinden sich noch mehrere in Lebensgefahr. Es ist zu befürchten, daß noch vier sterben.
In letzter Zeit ist es in Eisleben wiederholt zu Provokationen durch die Nationalsozialisten gekommen, nachdem der Nazigauleiter Jordan aus Halle öffentlich aufgefordert hatte, den Marristen die Abzeichen abzureißen. Am Donnerstag wurde ein Sozialdemokrat von Nationalsozialisten lebensgefährlich verlegt, ohne daß die Polizei den Urheber der Tat, der ermittelt wurde, in Haft genommen hätte. Am Sonntagmittag fielen Nationalsozialisten unter den Augen der Stadtpolizei u. a. auch fozialdemokratischen Parteisekretär Keller ohne jeden Grund an.
den
Haussuchungen!
Hallesche Schutzpolizei hat alle Zugangsstraßen nach der Stadt Eisleben abgesperrt. In Eisleben selbst sind von Schutzpolizisten Haussuchungen bei vielen Kommunisten vorgenommen worden. Mehrere Kommunisten sind verhaftet worden. Bei diesen Haussuchungen zeigen sich auch uniformierte SA .- Leute!
Als Opfer der Vorgänge vom Sonntag sind ein Toter und 24 Schwerverlette festgestellt. 3 wei der Schwer verletzten werden wahrscheinlich nicht mit dem Leben davonkommen. Fast alle Schwerverletzten sind Kommunisten. Sie haben zumeist Schädel brüche durch Spatenhiebe und Stahlrutenschläge.
Zwei Nächte vorher wurde der jüdische Kaufmann Helft von drei SA .- Leuten überfallen und schreck= lich zugerichtet. Die Täter sind bekannt und der Polizei namhaft gemacht worden. Eine Verhaftung ist nicht erfolgt. Dagegen wird der schwerverlette Kaufmann von der Polizei heftig bedrängt, weil am Tatort sein- Spazierstock gefunden wurde!
In Dortmund - Affeln wurde am Sonntagmittag ein kommunist von einem SS.- Mann erstochen. Der Kommunist befand sich auf dem Wege zu einer Kundgebung seiner Partei in der Dortmunder Westfalenhalle. Angeblich soll er den Nationalsozialisten beschimpft und beleidigt haben. Ein S S.- Mann sprang aus dem 3uge und stach den kommunisten nieder. Das Opfer starb bald nach dem Vorfall auf der Straße. Der Täter ist noch unbekannt.
Darmstadt , 13. Februar. In Bensheim wurde nach einer schweren Schießerei zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten ein unbeteiligter Passant von einem Reichenbacher SS .- Mann durch einen Brustschuß getötet. 3m Anschluß an eine Kundgebung der Eisernen Front, an der sich auch zahlreiche Kommunisten beteiligten, entstand vor einem Cokal der NSDAP . in Auerbach eine Schlägerei zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten. Die kommunisten flüch- teten schließlich. Auf dem Wege nach Bensheim begegneten ihnen mehrere Nationaljozialisten, die 30 bis 40 Schüsse auf fie abgaben. Ein unbeteiligter Passant und ein Kommunist wurden verlegt. Unterdeffen hatte der
Bensheimer SS .- Führer die Reichenbacher SS. alarmiert, die zum Teil auf Fahrrädern herbeigeeilt fam. Auf einem freien Plah in Bensheim gab ein SS.- Mann mehrere Schüsse ab. Ein auf dem Wege zur Post befindlicher 22jähriger Mann fiel den Schüssen zum Opfer. Als der Täter sah, was er angerichtet hatte, flüchtete er. Er konnte bisher nicht festgenommen werden.
Braunschweig , 13. Februar. In Braunschweig wurden am Sonntag während eines Umzuges der Nationalsozia= listen, an dem sich auch der Stahlhelm be= teiligte, ein Arbeiter durch einen Oberschenkelschuß und eine 62jährige Frau durch einen Oberarmschuß schwer verlegt. Außerdem mußte noch eine Frau mit einer Armverlegung ins Krankenhaus geschafft werden.
Veranlassung zu dem Umzug der Nazis bildete eine Kreistagung der NSDAP . Die Polizei ,, sicherte" den Zug durch drei große Auf= gebote mit Karabinern. An der Spize und am Schluß des Zuges marschierte je ein Aufgebot mit schußfertiger Waffe unter dem Arm. Da der Zug durch die Arbeiterviertel geführt wurde, hatte die Polizei für bestimmte Straßen Sonderbestimmungen herausgegeben, die aber dem größten Teil der Bevölkerung nicht bekannt waren.