Ttx. 5 7. Juni 1931 Hlick in öie Hüchertoelt Beilage des Vorwärts Lravntkal: Zu Bauers neuem Werk. Otto Bauer  , nicht bloh einer der größten politischen Führer der sozialistischen   Bewegung, sondern auch einer der größten Theoretiker, hat ein theoretisches Werk*) begonnen, das in umfassendster Weise die Strukturwandlungen der Wirtschast seit dem Kriege und ihre gewalligen Störungen behandeln und im Zusammen- hang damit die Folgerungen aufzeigen soll, die sich daraus für die sozialistische Bewegung ergeben. Bon diesem großen Werk ist jetzt der 1. Band erschienen, der sich mit der Rationalisierung be- schästtgt; und zwar ist es im wesentlichen nur die technische Seite der Rationalisierung, die in diesem Band behandelt wird, also noch nicht die Frag«, welchen Anteil die Rationalisierung an den ewigen Schwankungen der kapitalistischen   Wirtschaftskonjunktur und welchen Anteil speziell die zusammengedrängte Rationalisierung der Nachkriegszeit an der verschärften Wirtschostskrise der Gegenwart Hot. Dies« große, schwierig« und schwerwiegende Fragengruppe wird wohl in einem nächsten Band behandelt werden. Der Schwerpunkt des 1. Bandes liegt, wie gesagt, auf der technischen Seite der Rationalisierung, in der Beschreibung der einzelnen Rationalisierungsvorgänge. Es ist geradezu be- wunderungswürdig, wie dieser groß« Führer der österreichischen Arbellerschaft neben seiner ungeheuer intensiven politischen Arbell noch die Zeit und Energie fand, den ganzen gewaltigen Komplex der technischen Rationalisierung in allen seinen Derzweigunzen auf das gewissenhafteste zu studieren. Und es ist ebenso bewundemngs- würdig, ein wie lebendiges, klares und allgemein verständliches Bild Otto Bauer   von diesem schwierigen und vielseitigen Rationalisierungs- prozeß entwirft. So ist in diesem Band weitaus das beste Lehrbuch des technischen Rationali siernngs- Prozesses entstanden, das man sich vorstellen kann. Aber natürlich begnügt sich Otto Bauer   nicht mit der Auf- Zählung der technischenWunder' der kapitalistischen   Wirtschaft, sondern verbindet sie mit einer scharfen Kritik nicht nur an der verschärften Anspannung der Arbeitskraft, sondern auch an der Un- rationalität, die die kapitalistische Rationalisierung vielfach in sich birgt. Zu diesem Zweck ergänzt er den üblichen Begriff der Fehl- rationalisierung durch den Begriff dergesellschaftlichen Fehlrationalisierung'. Er versteht darunter vor ollem die Tatsache, daß eine Rationalisierung, die sich vom Privatwirtschaft- lichen Standpunkt als durchaus erfolgreich und rentabel erweist, sich vom Standpunkt der ganzen Gesellschaft als unrationell und ver- fchwenderisch herausstellen kann, wenn nämlich für die Erhaltung der Arbeitskräfte, die durch diese Rationalisierung auf die Straß« gesetzt werden, bis zu ihrer Wiederaufsaugung im Produktionsprozeß mehr Mittel verwandt werden müssen, als durch die Rationalisierung iersport werden. An diesen und an zahlreichen anderen Beispielen zeigt Bauer auf, wie unrationell im Grunde genommen die kapUalistische Wirt- schast trotz aller ihrer Rationalisierung arbeitet der Ausdruck Ilnrationalität' wäre uns allerdings lieber als der derFehl- rationalisierung', mit dem man eben doch üblicherweise eine ganz andere, kaufmännisch-konjunkturelle Vorstellung verbindet und wie dadurch die proletarische Lebenshaltung andauernd gedrückt bleibt. Daraus ergibt sich mit zwingender Notwendigkeit die Schluß- folgerung, daß die s o z i a l i st i s ch e Wirtschaft, wenn sie vielleicht auch ein langsameres Tempo der Rationalisierung einschlagen wird als die kapitalistische Wirtschast, um wesentliche Fchlrationali- sierunge» im oben erwähnten Sinne des Wortes zu vermeiden, doch die Lebenshaltung der breiten Massen viel rascher und dauernder heben kann als der Kapitalismus  . Freilich könnte man nun Sowjetrußlnnd als Gegen- besspiel anführen. Aber Bauer weist nach, daß in Sowjetrußland im Grund« genommen so etwas wie ein f r ü h k a p i t a l i st i s ch e r Sozialismus vorliegt mit allen Schrecken des Frühkapitalismus, also ohne Beweiskraft für den liebergang hochindustrieller Länder zum Sozialismus. Es zeugt für den starken Optimismus, der Otto Bauer   feit jeher, beseelt und der in diesem Fall nicht von allen sozialistischen   Beobachtern Sowjetrußlands in gleichem Maße ge- teilt wird, daß er hofft, Rußland   werde über diese forcierte In- dustriealisierungsperiode glücklich hinwegkommen und dann daran- gehen können, die Fesseln der Diktatur zu lockern und einen wirk- lichen, nämlich demokratischen Sozialismus einzuführen. So wenig uns das heutige Rußland als ein Beispiel sozialistischer Entwicklung erscheinen kann, so muß doch die von Bauer aufgestellte Perspektive als der wünschenswerteste Verlauf des gefährlichen und dos russische Proletariat schwer bedrückenden Experiments bezeichnet werden. Die siegreiche Kraft der Demokratie. Hans Schlange-Schöningens originelles Buch? ».Führer und Völker'(Verlag von Paul Parey, Berlin  1931) zerfällt in fünf Kapitel. Die drei ersten Abschnitte beschästigen sich mit Clemenceau  , Lloyd George   und Wilson. Da« viert« Kapitel heiß:»Nikolai N i k o la je w i t sch, der letzte Vertreter der absolutistischen Epoche'. Das fünfte Kapitel lautet: »Das Vermächtnis des Freiherrn vom St e i n." Da? erscheint *) Offo Bauer:Kapitalismus   und Sozialismus nach dem Weltkri e g.' l. Band: Rationalisierung Fehl- rationalisierung. Wiener   Volksbuchhandlung, Wien   1931. Revolution von rechts? Eine soziologische Auseinandersehung. Jede Wissenschaft steht in der gegenwärtigen geschichllichen Situation im Zwang des Dienstes an der Gesellschaft. Je schwie- riger der Aufgabenkreis ist, den diese Gesellschaft zu bewältigen hat, um so dringender und aktueller ergibt sich für die Wissenschast die Notwendigkeit, diesen Aufgabenkreis zu analysieren und aus der Analyse die Wege zur Lösung zu bestimmen. Eine besondere Schwierigkeit liegt aber für die Wissenschaft darin, daß sie sich mit der Wandlung der gesellschafllich-geschichtlichen Situation selbst wandelt. Heute darf die Eule der Minerva nicht erst in der Dämmerung mit ihrem Flug beginnen, die Wissenschaft muß nicht über eine fertige, sondern über eine im Umbruch befindliche Welt Aussagen machen. Das ist für die Wissenschaft eine ungeheure Gefahr, namentlich für diejenige Wissenschast, deren vorzüglichster Gegenstand die sich wandelnde Gesellschaft ist: die Gesellschafts- Wissenschaft, die Soziologie. Nichts dient der Gesellschaft weniger als eine vorschnell«, das ganze Gewicht sachhaltiger Zusammenhänge überglöttende Wissen- schast. Eine solche Wissenschaft gibt sich selbst auf, wird zur Prophetie, zum Mißverständnis. Für diese Tendenz gibt das soeben erschienene Büchlein des Leipziger   Soziologen, Hans Freyer  ,Revo- lution von rechts'(Verlag Eugen Diederichs  , Jena  , 72 Seiten, 2 Mk.), ein Beispiel. Schon der Titel ist mißverständlich. Freyer   ist durchaus kein Anwalt des deutschen   Nationalsozialismus  . Er ist durchausexklusiv gegen die Nationalisten des Gemüts, die schon zufrieden sind, wenn Fahnen wehen und Herzen höher schlagen'. Er wendet sich auch ausdrücklich gegen den Abbau der Sozialpolittk, vielmehr fordert er ihren Einbau in den neuen Staat. Wie ist nun dieser neue Staat Freyers beschaffen, wie und warum kann ihn nur eine Revolution von rechts entstehen lassen? DieRevolution von links', die Reoolutton der Arbeiterklasse, ist Freyer   ein« Angelegenheit des 19. Jahrhunderts, der er zwar ihre historische Berechtigung zuerkennt, die jedoch lediglich die Arbeiterklasse nur in dieindustrielle Gesellschaft' hineingeschoben hat. ohne ernst den Versuch zu wagen, diese Interessengesellschaft zu überwinden. Der Staat dieser Gesellschaft, in der sich Proletariat und Bourgeoisie kämpfend gegenüberstehen, ist bestenfalls nur der Garant eines Gleichgewichtszustandes, er ist ein Neutrum, weder Fisch noch Fleisch. Parlamentarismus, Demokratie werden so zu leeren, sich ist Zufallsmehrheiten bzw. Koalittonen erschöpfenden unpolitischen Institutionen. Freyer   will diesenunpolitischen' Staat durch das Volk ersetzen, das Träger feinerRevolution von rechts' sein soll. Es wird kaum klar, was Freyer   konkret und darauf käme doch alles an unter Volk versteht: Ueberall wo sich unausgetragen« Geschichte aufftaut. überoll wo sich Menschen besinnen, daß sie mehr al» gesellschaftliches Interesse sind, überall wo sich Front gegen das Prinzip der in- dustriellen Wirtschaft bildet, wird Volk frei.' Die emphatische Sprach« täuscht uns durchaus nicht hinweg über die fehlende Konkretion des Inhalts. Freyer   verkennt Absicht und Aufgabe des Sozialismus, wenn er meint, daß dieindustrielle Gesellschaft' nur fortgesetzt und nicht radikal, auf höherer Stufe, umgeschaffen werden soll. Nur daß der Sozialismus nicht bei einem geheimnisvollen Volk ansetzt, sondern an konkret gegebenen Gesellschaftsschichten und Klasien: Arbeiter, Bauern, Angestellte, Beamte, Mittelstand, Intelligenz müssen in eine Front formiert werden, wenn die heutige formale Demokratie in eine soziale Demokratie u m g e st a l t e t werden soll. Aber ist diese Idee der Demokratie heute nicht etwas endgültig Ueberwundenes? Alfred Weber   versucht in einem Vorttag, Das Ende der Demokratie?"(Verlag Juncker und Dünn- Haupt, Berlin  ), die Idee der Demokratie in der gegenwärtigen ge- schichtlichen Situation zu fixieren. Staat und Wirtschaft sind heut« nicht mehr zu trennen.Diese wirtschaftsliberalistisch« Phantasie ist erledigt." Auch die Wirtschastsfteiheit gibt Alfred Weber  «nd- gültig auf: dennoch hält er den Sozialismus nicht für vollziehbar, er ist nach seiner Meinung für Deutschland   sogarexistenzgesähr- dend". Welche demokratischen Wege schlägt Weber vor? Es ist für uns wichtig, festzuhalten, daß ein so bedeutender demokratischer Theoretiker wie Weber denParlamentsabsolutismus als eine miß- verstandene Form der Demokratie" bezeichnet. Dieser parlamentarische Absolutismus   hat versagt. Er hat überall versagt vom Reichstag bis herunter zur letzten Stadt- verordnetcnversammlung. Nur eine Verschiebung im Gewicht der öffentlichen Gewalten kann in dieser Lage helfen, eine Verschiebung zugunsten der führenden Personen." Autoritäre Demokratie ist die Forderung der Stund«. Weber grenzt diese Demokratie jedoch ausdrücklich gegen den Autoritarismus des italienischen Faschismus ab.Autoritarismns ist nicht identtsch mit Autorität." Alfred Weber   fordert eine stark« Staatsführung, der es gelingen muß,die heute durchorganisiert« kapitalistische Wirtschaft... zu einem kollektiven Eigen- handeln nach den Gesetzen der kapitalistischen  Wirtschaftstechnik zu bringen, einem Eigenhandeln, das zugleich das Soziale, Nationale und Weltwirtschaftliche berücksichtigt." Fürs erste sieht es noch nicht so aus, als ob die Wirtschaftvon selbst" zu solchen Einsichten käme. Hier offenbart sich der liberale Zug in der Ideenführung Webers. Die Machtbefugnisse der Re- gierung sind bis aus weiteres von den gegebenen sozialen Macht- Verhältnissen abhängig. Di« sozial« Ordnung der Welt wird allein von der Stärke und der Geschlossenhest einer sozialistischen   Front bestimmt werden. J. P. Mayer. etwas bunt, aber die Anordnung hat doch ihren guten Sinn. Was der Verfasser ausdrücken will, formuliert er auf S. 179:»Clemen- ceau, Lloyd George  -»Nikolai Nikolajewstsch! Alle drei in ghn- lichen Situationen und grundverschieden in ihrem Handeln: Zwei freie Männer erkämpfen sich die Macht und retten ihr Land ein gehorsamer Soldat besitzt die Macht und verliert sein Land. Männer formen die Schicksale der Völker. Aber Systeme formen die Männer, die in entscheidenden Augenblicken oft aus den Tiefen des Volke? steigen, System« trogen sie an ihren Platz oder lassen sie im Dunkeln und zerbrechen selber an der eigenen Er- starrung.' Der Verfasser zeigt, wie der Engländer, der Franzose und der Amerikaner in ihren Demokratien gewaltige Kräfte ontfesseln kann- ten, während der russische Großstürst an der absolutistischen Rück- ständigteit seines Vaterlandes zugrunde gehen mußt«. Im letzten Kapitel zieht Schlonge-Schöningen daraus die Folgerungen für die deutsche   Gegenwart. Der Freiherr vom Stein wollte aus den Deutschen   das bewußte Staatsvolk machen. Aber dann ist in dem Jahrhundert, das auf Steins Regierung folgte, sein« Idee ver- gessen worden. Das fei die ljauptursache des deutschen   Zu­sammenbruchs gewesen(S. 22S):Wollen wir nicht imm.-r wieder nach leidensvollem Aufstieg den neuen Niedergang erleben, dann steht vor uns als historische Pflicht unserer Zeit, dieses Staats- volk zu schaffen, mag die Staatsform dabei heißen wie sie will." Der Verfasser fordert, daß in Deutschland   die Besten aus allen Lagern sich zusammenfinden müßten,»ohne Vorurteile, ohne Klassenhaß und-llberhebung". Die Tatsache der Klassengegensätze läßt sich freilich mit einem so bequemen Rezept nicht aus der Welt schaffen. Der Verfasser erhebt nicht den Anspruch, neue historische Erkenntnisse zu vertreten, aber er hat doch ein Buch geschrieben, das den Diktaturschwärmern und nachgemachten Faschisten bei uns Stoff zum Denken geben sollte. Gerade wer mit starkem Na- tionalgefühl die Geschichte überdenkt, muß die Ueberlegenheit des sich ftlbst bestimmenden Volkes auch über den stärksten Despoten anerkennen. So kann das Buch Schlange-Schöningens gerade im bürgerlichen Lager etwas zur Ernüchterung beitrogen. Artur Rodenberg. Das Wahlprüfungsrecht. Mit Recht spricht Kurt Ball von einem»Unikum" in unserer Rechtsentwicklung, wenn er feststellen muß, daß ein in der demokra- tischen Republik so wichtiges Rechtsgebiet wie das materielle Wahl- prüfungsrecht noch heute jeglicher umfassender Rechtsvorschriften entbehrt. Trotzdem ist eine sehr umfangreiche Rechtsprechung vor- Händen. Der Verfasser hat e- sich nun zur Ausgabe gestellt, in der Abhandlung:Das materielle Wahlprllsungsrecht' (Verlag Otto Liebmann  , Berlin   1931) eine bisher unbearbeitete Dar- sdellung der Entwicklung dieses hochpolitischen Rechtszweiges von 1839 bis jetzt zu geben, um die durch die Praxis der Wahlprüsung> gerichte ausgestellten, klar und eindeutigen Rcchtserundsätz« heraus- zuschalen und rechtshistorisch zu begründen. Diese Ausgabe ist mit Aufwendung von viel Fleiß und Mühe gelungen mußten doch die ganzen Drucksachen der Parlamente zur Untersuchung heran gezogen werden. Wissenschast und Politik sind ihm für dieses Werk zu Dank verpflichtet. Das Wahlprüfungsrecht ruht mehr als irgendein andere? Recht auf politischer Grundlage. Bis 1918 kämpfte das Paria- ment gegen die Krone um das Recht der ifeahlprüsting zur Stärkung seiner Machtstellung. Nach der Reoolutton ist diese Frag« zu einer sekundären geworden, das Parlament kämpst nicht mehr um die Macht, es besitzt sie ganz, denn die Regierung bedarf sein«? Ver- trauen«. Interessant ist das Ergebnis, daß vor dem Kriege die amtliche Wahlbeeinflusfung«ine bedeutende Rolle ge- spielt hat, während sie heute fast gar nicht mehr vorkommt. Form-, Beteiligungs- und Berechnungsfehler lönnen auf das Wahl- ergebnis von größtem Einfluß sein. In ihren Entscheidungen geht die modern« Rechtsprechung der kommunalen und parlamen- tarifchcn Wahlprüfungsgerichte stets von dem Grundsatz« aus, daß es im Einzelfall« darauf ankomme, einen Einfluß auf da; Wahl- ergebnis festzustellen und falls dieser Einfluß vorhanden ist, entweder die Wahl für ungültig und wiederholbar zu erklären oder nach Umberechnung der Stimmenzahl die Wahl des zu Unrecht ge- wählten Abgeordneten für ungültig' und die eines anderen B«° werbers für gültig zu erklären. Hier zeigt sich die gewaltige Macht- Verschiebung zwischen konstitutioneller Monarchie und Parlamentär:-