Fretheil

Nummer 144-1. Jahrgang

Einzige unabhängige Tageszeitung Deutschlands

Saarbrücken, Freitag, den 8. Dezember 1933 Chefredakteur: M. Braun

Aus dem Inhalt

Berlin   erwartet

Paciser Antwort Seite 2

Dec blamiecte

Obecceichsanwalt

Seite 3

Schlesische Elendstufe

Seite 4

Chinas neueste Revolution

Seite 8

100000 politische Gefangene

50 000 in den Konzentrationslagern Konzentrationslagern- 50 000 in den Gefängnissen

Legende und Wahrheit

von Konrad Heiden  

Das beste Buch über die Idee und das Werden des Nationalsozialismus hat vor etwa 2 Jahren Konrad Heiden   geschrieben. Es beruht auf einer tiefgehenden Sach- und Personen kenntnis, die zu einem glänzenden historischen Wert verarbeitet ist. Dasselbe Lob läßt sich einem neuen Buche Konrad Heidens spenden Geburt des dritten Reiches"( Europa  - Verlag Zürich  ). Der Verfasser ist Gegner des National­sozialismus, aber er hütet sich wohl, ein agitatorisches Pamphlet zu schreiben. Er bemüht sich mit großem Erfolg, das Phänomen des Nationalsozialismus aus objektiven Ursachen zu verstehen und zu erklären. So wird das Buch zu einer aufschlußreichen Arbeit über die Geschichte Deutschlands   nach dem Kriege und zu einem aufrüttelnden, das Denken und den politischen Aktivismus belebenden Dokument. Wir geben nach­stehend den Schlußabsatz des Buches wieder:

Aus dem Tageslicht eines allzu grellen Schicksals flüch­tete die deutsche   Seele in den wohltätigen Schatten einer zauberhaft heroifchen Legende. Ueber die deutschen  Bühnen ging kürzlich ein Stück, das sich mit den strate­gischen Vorgängen der Marneschlacht befaßt. Da treten die deutschen   Generalstabsoffiziere des Weltkrieges vor fähnchengespickten Landkarten auf und lassen in brama­tischen, vom Autor erfundenen Gesprächen den Zuhörer wissen, daß das deutsche   Heer eigentlich die Marneschlacht und damit den Weltkrieg gewonnen hätte, wenn nicht bei ein paar unglücklichen Offizieren im kritischen Augenblick die Nerven versagt hätten. Deutsche   militärische Fachleute haben gegen diese unrichtige Darstellung protestiert. Was nüßte es? Ein breites Publikum ließ sich von dem Theaterdichter nur zu gern überzeugen, daß die Marne­Schlacht eigentlich" ein deutscher   Sieg war, und der Theaterkritiker einer westdeutschen Zeitung schrieb: die Kriegsgeschichte in Ehren, aber der Dramatiker habe einen Mythos zu schaffen.

Einen Mythos..

Und wer sagt dem Bolke die Wahrheit?

Die Wahrheit, die Gerechtigkeit und die Freiheit haben gegenwärtig keine guten Tage in Deutschland  , und auch in andern Ländern werden ihnen vielleicht Prüfungen nicht erspart bleiben. Die Echtheit politischer Ueber­zeugungen wird heute auf scharfe Proben gestellt. Und, als persönliches Bekenntnis sei es hier gesagt: das ist gut fo. Die Schrecken dieser Zeit sind groß, groß aber auch ihre Möglichkeiten. Wieder stehen wir an dem Punkt, wo nur Ketten zu verlieren sind und eine Welt zu ge­minnen ist.

Und hier berühren wir einen Bunkt, über den unbe­dingt und bei jeder Gelegenheit gesprochen werden muß. Mancher, der ein Opfer des Nationalsozialismus wurde, hadert heute mit seinem Volke. Männer und Frauen, an Deren Zugehörigkeit zum deutsche   Volke, auch nach den jezt so zeitgemäßen Merkmalen der Abstammung, hein 3weifel ist, fällen scharfe und schärfste Urteile; nicht über das gegenwärtige Regime, sondern über das ganze Bolk, das dieses Regime erträgt und ihm zustimmt. Hier wird ein Jrrtum vom Grunde aus begangen. Das Volk ist kein ausgebildeter Charakter, sondern eine Summe von Charaktermöglichkeiten. Daß das deutsche   Volk heute Wefensheiten hervorkehrt, die wir nicht lieben, und da­gegen Züge verwischt, die uns an ihm teuer sind, müssen wir als unsere eigene Schuld betrachten. Der Charakter eines Volkes ist kein Geschenk des Schicksals, sondern das Ergebnis erzieherischer, ja das Wort im aller­höchsten Sinne genommen politischer Arbeit. Jede Generation, die doch das Kind ihres Volkes ist, hat auch wieder die Aufgabe, das Volk zu ihrem Kinde, zum Ge schöpf ihres Willens und zum Gleichnis ihrer Sehnsucht zu machen. Wer in solchem Verhältnis zu seinem Bolke steht, den können die Jrrungen dieses Kindes an dem Kinde selbst nicht irre machen. Weil wir Deutschland   unver ändert lieben, darum kämpfen wir um es; und wenn wir nicht um es kämpften, würden wir nicht das Gefühl haben, es richtig zu lieben.

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Andere wiederum hassen die heutigen Machthaber Deutschlands  , aber sie wollen nicht gegen fie kämpfen,

KONZENTRATIONSLAGER

In keinem Lande der Welt wird ein Staatsbürger seiner Freiheit beraubt, wenn er sich nicht gegen die Gesetze ver­gangen hat. Nur in Deutschland   erfolgen Verhaftungen ohne jeden ersichtlichen Anlaß und in Willkür. Heuchlerisch wird diese Art der Haft Schußhaft" genannt. Da die Gefängnisfe und Strafanstalten für die große Zahl der Schubhaft gefangenen nicht ausreichen und die Grausamkeiten der SA.- Wachmannschaften verborgen bleiben sollen, so find Konzentrationslager" geschaffen worden. Die Zahl dieser Zager sowie die Zahl der Gefangenen hat sich ständig erhöht. Nach einer zuverlässigen Statistik des Vorstandes der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands  , Siz Prag, bestehen noch immer 68 Konzentrationslager, in denen etwa 50 000 Gefangene sich befinden, und zwar sind das folgende Lager:

Ostpreußen  : Grundaus bei Königsberg  , Soldin. Brandenburg  : Bernau  , Börnice bei Nanen, Bökow,

Brandenburg   a. Havel  ( früheres Zuchthaus, das wegen Baufälligkeit und Gesundheitsgefährdung ge= räumt war- 1600 Gefangene), Jüterbog  , Oranien: burg  ( bient jetzt im wesentlichen der Unterbringung rebellierender SA.- Männer 1000 Gefangene), Sonnenberg  ( ebenfalls längst abbruchreifes und da her geschlossenes Zuchthaus, 600 Gefangene). Schlesien  : Frankenstein, Münsterberg  , Leschwitz bei Görlig.

Provinz Sachsen  : Erfurt  , Lichtenburg   bei Torgan ( etwa 1000 Gefangene), Gräfenhainichen  , Zörbig  . Schleswig- Holstein  : Eutin  , Glückstadt  , Ridling. sannover: Moringen  , Willede( 1300 Gefangene, and zwar revolutionierende SA.- Männer). Westfalen  : Bergkamen  , Börgermoor  ( etwa 2000 Gez

fangene, berüchtigt wegen seiner Grausamkeit), Efter: wegen, Neusustrun bei Lathen   a. d. Ems, Sennelager  , Wanne- Eidel.

Geffen Nailan: Ginsheim  , Fochenbach, Kassel  , Rödel­ heim  , Weßlar.

Rheinprovinz  : Bayenburg   bei Wuppertal  , Brauweiler  , Roblenz- Narmerita( 700 Gefangene), Koblenz  - Kar: thause( 300 Gefangene), Düren  , Jülich  , Kemna bei Wuppertal  , Siegburg  ( 2500 Gefangene). Bayern  : Dachau  ( 3000 Gefangene, noch immer die Stätte graufamster Folterungen).

Sachsen  : Banzen, Coldig( 900 Gefangene), Crimmitschau  , Dresden  ( Mathildenschlößchen), Grünenhainichen, Hainichen   bei Döbeln  , Heinewald bei Zittan( 380 Gefangene), Burg Hohnstein  ( 600 Gefangene),

weil sie meinen, daß das im Ergebnis doch ein Kampf gegen Deutschland   sei. Sie sagen etwa, ein Sturz dieses Regimes sei das Chaos und Deutschlands   Ende. Nun, aus Gründen, die hier teilweise dargelegt wurden, wird kein Gewissensopfer und keine Verzweiflungstat den Sturz dieser Machthaber verhindern. Wenn aber dieser Tag eintritt, müssen Menschen da sein, die auf ihn vor­bereitet sind, die ihn gewollt haben und nicht nur von ihm überrascht merden. Eine Bewegung muß da sein und muß imstande sein, in die gewiß graufige Lücke zu treten. die die Gestürzten hinterlassen. Dann, aber auch nur dann wird der Tag dieses Sturzes kein Tag des Chaos und auch keiner des deutschen   Endes sein.

Gefangs

Gefängnis

Sachsenburg bei Flöha  ( 1600 Gefangene), Sonneburg bei Chemnitz  , Ofterstein bei Zwickau  . Württemberg  : Gotteszell   bei Gmünd  . Baden  : Ankenbud bei Billingen, Bad Dürheim  ( 500 Ges

fangene), Heuberg( gemeinsames Lager von Baden  und Württemberg  , troß Entlassungen noch 1600 Gefangene), Rißlau bei Bruchsal  , Rastatt  ( 300 Gefangene).

Thüringen  : Blankenhain   bei Weimar  , Jena  , Ohrdruf  ( 1000 Gefangene), Untermaßfeld  . Hessen  : Ofthofen, Langen  . Oldenburg  : Vechta  .

Braunschweig  : Wolfenbüttel  ( 600 Gefangene). Hamburg  : Fuhlsbüttel  , Wittmoor.

Bremen  : Haftett( für rebellierende SA.), Insel Langs lüttgen, Miesler( 400 Gefangene), Bremen   hat außerdem ein Konzentrationslager auf einem stills gelegten Schiff.

Anhalt: Dornburg.

Mindestens die gleiche 3ahl von Gefangenen befindet sich in den Polizei und Gerichts­gefängnissen, ohne daß gegen sie eine Untersuchung geführt oder ein Strafverfahren eingeleitet worden ist. Hunderttausend Menschen sind also der Freiheit sowie ihrer Existenz beraubt, ihren Familien entrissen, ohne daß man sie überhaupt eines Vergehens gegen die Gesetze beschuldigt.

Nach den Wahlen vom 12. November versprachen die nationalsozialistischen Machthaber eine Amnestie. Statt der Amnestie erfolgen jetzt täglich Massenverhaftungen, polizei die Presse nicht mehr berichten darf. Wie die in Prag  über die auf ausdrückliche Anweisung der Geheimen Staats­erscheinende Sopade- Information mitteilt, sind allein in den leste vier Wochen mehr als 1000 frühere Mitglieder und Funktionäre der Sozialdemokratischen Partet verhaftet worden. Und zwar allein in Dresden   500, in Chemnitz   190, in Breslau   120. Da auch unter den übrigen oppositionellen Gruppen zahreiche Verhaftungen vorgenommen wurden, so

sind die Gefängnisse und Konzentrationslager so überfüllt, daß häufig Entlassungen von Inhaftierten nicht aus recht­lichen oder politischen Erwägungen erfolgen, sondern einfach aus Mangel an Plazz. Das ist um so bemerkenswerter, weil entsprechend den barbarischen Grundsäßen des neuen natio­nalsozialistischen Strafvollzuges die Gefängnisse bereits vier­bis sechsfach so stark belegt sind als früher. Wenn also über­haupt eine Amnestie erfolgt, so nicht, weil man begangenes Unrecht fühnen oder einen Strich unter das Vergangene ziehen will, sondern nur, weil Gefängnisse, Zuchthäuser, Konzentrationslager und SA.- Folterstätten überfüllt sind.

Der Faschismus hat auf die Dauer nur die Wahl zwischen Armut und Krieg. Beides wird ihn vernichten. Wir wollen wünschen, daß sein Unheil den ersten Weg nimmt, aber auch auf den zweiten gefaßt sein. Jeder, der die Freiheit liebt, hat dazu beizutragen, daß das Ende des Faschismus nicht das Ende, sondern der Beginn von Europa   werde. Dieses Europa   muß, wenn sein Tag in der Geschichte anbricht, in unsern Herzen und unsern Köpfen fertig sein. Bis dahin aber haben wir uns so zu verhalten, baß ein kommendes Geschlecht von uns wird sagen können:

Jhr Leben war doch schön. Sie durften für die Freiheit kämpfen, die wir nur genießen.