Deutsche   Stimmen Beilage zur Deutschen Freifieit" Ereignisse und Geschichten

Freitag, den 20. April 1934

Antwort des Ungeborenen

Am 7. April brachte die Deutsche Freiheit" den Brief eines Vaters an seinen ungeborenen Sohn, von Georg Wilman. Hier ist eine Antwort darauf:

Vater!

Dein Wort hat mich erreicht in dem dämmernden Reiche derer, die sich rüsten, geboren zu werden auf Eurer Erde. Es ist wie eine Höhle und aus ihr ein Ausblick nach einem Himmel.

Weite Hallen sind mit den Bildern dessen, was war und sein wird. Da wählen die Seelen ihre Zeit. Warum willst Du mich hindern, einzutreten in die meine?

Warum willst Du mich hindern zu wachsen ins Dasein? Wann, sage mir, war die Erde ohne Leid? Solches wissen wir wohl und drängen dennoch ihr zu.

Du sagst, ich werde kein Vaterland haben. Ich soll warten, bis auch Ihr wieder eins hättet.

Weißt Du, wie lang das dauern wird? Weißt Du, wann wieder Menschlichkeit herrschen wird in Deutschlands  Gauen? Ob noch zu Deinen Lebzeiten Du hoffst es, aber bist Du dessen sicher?

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Die Lawine ist ins Rollen geraten, o wir hören es hier wohl, die Lawine von Unmenschlichkeit. Tausende sind begraben, Zehntausende verschüttet, wissen sich nicht herauszuarbeiten.

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Ihr brachtet Euch in Sicherheit zu rechter Zeit. Ihr habt es auch für mich mitgetan. Ich danke Euch. Aber nun wollt Ihr mir wehren zu kämpfen für ein besseres, ein schöneres Vaterland. Zu kämpfen für eine neue Welt, denn sie wird nicht ohne Kampf errungen.

Wie viele Menschen waren schon in Eurer Lage im Lauf der Geschichte! Hin und her geworfen zwischen zwei Sprachen, zwei Völkern! Solches übt, solches stählt auch.

Es klingt ein Wort an mein Ohr, ein heiliger Gesang schallt aus der Höhe. Die Höhle öffnet sich von oben und es wird licht.

,, Wie Pfeile in der Hand des Helden sind die Söhne der Verbannten."

Wie Pfeile in der Hand des Helden! Wo erklang er doch, dieser Gesang? Ich sehe sie stehen, mit Kelle und Hacke die einen. Bauen gewaltigen Mauerbau. Die andern aber wachen und schützen sie. Diese stehen in Waffen, die andern im Arbeitskleid.

Jünglinge sind es und Männer, aber auch Frauen, Greise. Kinder helfen.

Gebaut, wieder gebaut wird Jerusalem   von den Söhnen der Verbannten, den Heimgekehrten. Lobgesang steigt auf und Truggesang.

Fortgeführte waren es, noch ganz anders als ihr in die Knechtschaft Geführte. Dort wuchsen ihnen Kinder. Helden wuchsen auf, ein seliges Dennoch" auf den Lippen.

Siebzig Jahre währte es, ehe der fremde Befreier kam. Da durften sie heimkehren in das wüste Land, es wieder zu bebauen.

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Aber Deutschland   das ist doch etwas anderes? Ja und nein. Menschenwüste ists und wirds immer bleiben, wenn ihm nicht neue Kämpfer wachsen im ,, Elend". Im ,, Elend", das ist im Ausland auch, und gerade dort, wo es noch leichter ist. Blieb Euch doch das Kostbarste: die Freiheit.

Ihr malt mir mein Los, als Bastard zu gelten, weil Rassen­wahn zwei Völker scheidet, die sehr eng zusammengehören. Mir genügt, wenn ich Euch kein Bastard bin, noch irgend einem Verständigen.

Ihr malt mir den Krieg aus, den Greuelkrieg der Zukunft. Was fürchtet Ihr Euch? Wehe dem menschlichen Geschlecht, wenn seine Besten die Furcht faßt.

Noch kenne ich nicht meinen Körper. Er wird vielleicht nicht gefeit sein gegen Giftgase. Und doch ist mirs, als wäre er gefeit. Als würden einem neuen Geschlecht auch neue Heilkräfte mitgegeben. Innere und äußereja innere und äußere gegen die Teufelei, die Hitlerei.

Mit mir wartet eine neue Jugend, diese jetzt droben

Gewalt und Geist

Wer mit Gewalt den Mund des Gegners schließt, Bescheinigt nur die Dürftigkeit der Meinung, Die auf dem Oedland seines Geistes sprieẞt, Und seine Angst vor Abfuhr und Verneinung.

Wer vor dem Denken seines Volkes zittert, Des Sache steht fürwahr entsetzlich schlecht Und würde, wär' die Wahrheit nicht vergittert, Zerschmettert werden wie sein Gangster- Recht.

Konkreter Fall: Im Maulkorbparadiese Des ,, dritten Reichs" gibt sich die Dummheit nackt Und flüchtet vor der kleinsten Geistesbrise In Folterkeller, wo sie Knochen knackt.

lebende, schon in der Wiege verkaufte, verfronte, abzulösen Bronislaw Huberman  

und zu erlösen.

Mit mir warten Tausende, Millionen, die Schmach des Krieges und die Tyrannei des Kapitals abzuwehren von der Menschheit.

Sie werden nicht mit Zinnsoldaten spielen, sondern sie in den Kehrichtkasten werfen. Sie werden höchstens mit Schmerzen der Gefallenen dabei denken, aller Völker, Klassen, Rassen.

Sie werden nicht Hände genug haben, die verwüstete Erde neu aufzubaun.

Das Maschinenelend aber soll ganz aufhören, darin der Mensch selbst zur Maschine ward. Man wird die Macht des Verstandes nicht fürder vor allem an tote Werke wenden. Menschen recht zu bilden, ihrem Schöpfer zu, wird die große Aufgabe sein.

Aber Ihr glaubt ihm nicht, den wir spüren, und deshalb seid Ihr mutlos.

Ich mag nicht aufwachsen in bequemer Zeit. Ich will kämpfen, daß andere Zeit werde. Ob sie bequemer werden wird, weiß ich nicht, aber anders soll sie sein, menschlicher.

Ihr wollt mich nennen nach einem geistigen Helfer der Unterdrückten, der Fronarbeiter. Nehmt Euch erst ein Bei­spiel an ihm. Es war viel Schöpferkraft in ihm und also auch

viel Mut.

Der überwand alles Träge und hieß ihn glauben, auf seine Art.

Ich sage nicht, daß jemand blindlings uns heraufrufen soll. Wers aber tut, in uns die Sehnsucht weckte nach Dasein, der verbaue uns nicht wieder den Weg. Ihr wißt nicht, was für Leiden damit verknüpft sind.

Wißt nicht, daß Ihr Euch jung und stark erhaltet in Euren Kindern.

Ich soll das Elend nicht sehen, nur davon hören. Vielleicht werde ich Euch nun niemals sehen sondern entstehen, irgendwo anders.

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Denn zu Verbannten will ich, gerade dahin. Und mit mir möchten viele, viele, Euch Söhne und Töchter sein. Euch und sich einst zu schaffen ein neues Vaterland.

Leb wohl, mein Vater. Meine Mutter, leb wohl. Vielleicht, daß ich doch noch zu Euch komme, kommen darf. Und mit Euch heimkehren.

Arturo Labriolas Entwicklung

Kurs höherer Kultur in Locarno  

Wie schon seit Jahren fanden auch diesmal in der Oster­woche die von der Fraternella", einer Schöpfung des Tessiners Bettellini, ins Leben gerufenen Kurse höherer Kultur in Locarno   statt.

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Unter den zahlreichen Vorlesungen. hauptsächlich volks­wirtschaftlichen und soziologischen Inhalts und zwei litera­rische Beiträgen, einem Referate Thomas Manns   über ,, Leiden und Größe Richard Wagners" und Hans Rei­sigers über ,, Walt Whitmann, der Sänger der Kamerad schaft" ragte neben einer Skizze Stephan Bauers, des ehemaligen Vorsitzenden des Internationalen Arbeits­amtes und Professors an der Universität Basel   über L'abou­tissement de la crise économique mondiale" durch eine neuartige große Sicht ein fünfstündiger Vortrag Arturo Labriolas, des früheren italienischen Ministers und Professors an der Universität Neapel hervor, der, wie er im Eingang seines Vortragszyklus betonte, Italien   seiner anti­faschistischen Gesinnung wegen verlassen mußte.

Labriola   geht von der Analyse des Kapitalismus, der vor­herrschenden Gesellschaftsform unserer Epoche aus, als deren wesentlichen Motor er den Geist der Technik, der per­sönlichen Initiative bezeichnet, die ihn angriffe, lustig zum Zerstörer aller vor ihm und neben ihm bestehenden Kul­turen und Zivilisationen gemacht hat. Er erinnert an die Kulturen der Inka   in Mexiko   sowie verschiedener Neger­stämme, die die egoistische Menschheit des europäischen  Westens in ihrer Sucht nach Gold und Profit mit Waffen­gewalt vernichtete. Die Angriffslust des Kapitalismus er­lahmt aber bereits. Die Begrenzung der Kapitale in den Hinden einiger weniger Besitzenden hemmt den technischen Fortschritt. Erstarrt, ruft der Kapitalismus   die Hilfe des Staates an, sich seiner Kontrolle unterwerfend. Die Büro­kratisierung der Wirtschaft, ins Politische übersetzt- der Cäsarismus, prägt unsere Gegenwart ,,, in der das Schwert als Symbol der organisierten Gewalt die Gesellschaft be­herrscht". Der Cäsarismus bedeutete den Tod der Antike. In der Form des Faschismus und des Nationalsozialismus ist er auch die letzte Existenzform unserer westlichen Kultur, letzte dekadente Form ihrer Organisation. 16

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Labriola   wirft die Frage der Zukunft der menschlichen Gesellschaft auf. Wird der ,, marxistische" Sozialismus den Plats des Kapitalismus einnehmen, die Gesellschaft nen formen? und verneint resignierend. Die Kulturen erscheinen

Euer Sohn

Exul.

ihm als Organismen, in denen alles solidarisch ist. Stirbt eins ihrer Elemente dahin, so müssen auch die anderen erlöschen. Sozialismus und Kapitalismus   sind nach Ansicht Labriolas mit­einander geworden. Der Kapitalismus als die Wirtschaft unter dem Gesichtspunkt der toten Produktion, der Sozialis­mus als die Wirtschaft unter dem Gesichtspunkt der leben­digen Kräfte. ,, Wenn der Kapitalismus untergeht, so muß auch der Sozialismus untergehen." Feindliche Brüder, aus dem gleichen Lager geboren, ist ihnen ein gemeinsames Schicksal beschieden.

Es gibt also keine Zukunft der westlichen Menschheit. Der Untergang des Abendlandes droht. Und ziemlich gleichgültig ist es, ob es Vico, der neapolitanische Philosoph des 17. Jahr­hunderts war, der zuerst aus der bisherigen Geschichte auf diesen Untergang schloß oder Spengler, der nach Labriolas Meinung wenig originell Vicos Thesen übernommen hat.

Labriola  , einst Hegel- Schüler, hat seinen Meister gründ­

Horatio.

Ein Geiger von Können und Charakter Aus Straßburg   wird uns geschrieben: Bronislaw Huberman  ! Im großen Saal des Palais des Fetes in Straßburg   gab der berühmte polnische Geiger seinem Straßburger   Freundeskreis ein Konzert, in dem er Schöp­fungen der Komponisten Bach  , Chopin  , Mozart  , Frank und Szymanowski   meisterhaft, mit einer tiefen Einfühlungs­gabe und einer vollendeten technischen Beherrschung seines königlichen Instruments interpretierte. Das Publikum be­reitete dem Künstler nach jedem Vortrag begeisterte Ova­tionen und zwang ihn am Schluß, wie eine gläubige Gemeinde ums Podium versammelt, zu mehreren Zugaben.

Huberman ist ein Künstler von Weltruf, ein politi­sierender Künstler, ein Mann von Charakter und Grundsatzfestigkeit. Noch vor nicht allzu langer Zeit rief ihn der musizierende Staatsrat Furtwängler   nach Berlin  , damit er den Größen des dritten Reiches", die seine

jüdische Herkunft in diesem Falle nicht gehindert hätte, seine große Kunst offenbare. Aber Bronislaw Huberman  bewies mehr Charakter als Herr Jan Kiepura  , sein Lands­mann, der trotz seiner jüdischen Abstammung vor den Hitler, Göbbels   und tutti quanti zugunsten der Berliner   Winterhilfe ein Konzert gab. Er lehnte a b. Eindeutig und klar lieẞ er Herrn Staatsrat Furtwängler wissen, daß er den Boden des ,, neuen Deutschland   nicht betreten könne, solange man in diesem Land die Angehörigen seiner Rasse unter Aus­nahmezustand stelle und berühmte Wissenschaftler sowie Künstler ihrer jüdischen Abstammung wegen außer Landes weise. Ein politisierender Künstler, der trog der Kriegs­wolken, die von Deutschland   her Europa   zu überlagern drohen, seinen Traum von Paneuropa noch nicht auf­gegeben hat, dem der große Briand sogar die Ehrenlegion für sein europäisches Denken lieh. Weil er Deutschland   liebt, das Land, in dem er in vielen Konzerten seine große Kunst Menschen schenkte, deren Ideale von Hitler   in den Staub gezerrt wurden, haßt er jene, die heute in gleißenden Uni­formen das Ansehen des deutschen Volkes in der Welt ver­nichten. Ein Künstler, der wie selten einer seinesgleichen begriffen hat, daß wahre Kunst keine Ländergrenzen, keine Rassenunterschiede und keinen bornierten Nationalismus kennt. Die Kompromißlosigkeit dieses der Kunst lebenden Mannes ist bewundernswert. So geht man aus seinen Kon­zerten mit dem erhabenen Gefühl, einen großen Künstler und einen noch größeren Menschen kennen gelernt zu haben.

Wieder einmal ,, Uca Linda"

In der ,, Literarischen Welt" hat eine neue Debatte begonnen um die Echtheit von ,, Ura Linda". Es paßt den Deutschen  nun einmal zu gut, daß dieses Buch echt ist. Ueber die wissen­schaftlichen Tatsachen schweigt man sich mit bewunderungs­würdiger Unwissenschaftlichkeit hinweg. Man will sich den schönen Verwandtschaftstraum mit dem Weltgeist(..Wralda") nicht nehmen lasen. In diesem Sinne dient das Buch dem neuen Deutschland  . Darum ist es echt und damit basta. ,, Het Vaderland"( den Haag) schreibt hierzu u. a.

,, Die Möglichkeit, die( für Nicht- Deutsche) ziemlich dicht bei der Sicherheit liegt, daß der Philologe Eelco Verwijs   das ganze Ura- Linda- Buch aus seinem sarkastischen Daumen ge­sogen hat, ist in Deutschiand schon lange in den Hintergrund gedrängt und spukt anscheinend allein noch in den Köpfen der Ausländer herum. Es ist jedoch die Frage, ob man auf solche Hirngespinste heute noch Rücksicht nehmen mag. Wenn es sich doch so deutlich zeigt, daß ein Bindeglied da ist, kann man doch über so ein bißchen Unechtheit hinwegsehen. Wir treten in ein Zeitalter ein, in dem man die Wissenschaft als Spielverderber betrachtet und die Wunschträume zu wissenschaftlicher Wahrheit erhebt."

lich zu verleugnen gelernt. Keine Spur mehr von Hegelscher Zeit- Notizen

Dialektik. Keine Spur mehr von Marx, der diese Dialektik materialistisch unterbaute. Keine Spur mehr von jener Er­kenntnis immerwährenden Werdens, des Geschehens, das die Geschichte formt, des Ringens zwischen These und Anti­these zur Synthese, die als neues Sein, als neue Ordnung solange besteht, bis auch sie erstarrt und immer wieder neue Formen der menschlichen Gesellschaft hervorruft. Weiß Labriola   wirklich nichts mehr von den Sklavenkämpfen unter Spartakus  , von den Bauernaufständen, von den immer wie­der auch unter faschistischen Diktaturen aufflammenden Er­hebungen der unterdrückten, entpersönlichten Menschheit im Kampi um ihre Emanzipation? Eine große historische Kette, die nicht abbricht, die Antike, Mittelalter und Jetztzeit ver­bindet und im Kampf der modernen sozialistischen   Bewegung die sicher einen guten Teil ihrer Kampfmittel, sicher auch einige ihrer Organisationsformen dem Kapitalismus ins Grab legen kann ihren mit der Vergangenheit verglichen gewaltigsten Höhepunkt erreicht.

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Wir glauben an den Untergang des Kapitalismus, an die Notwendigkeit seines Unterganges und beeilen uns, seine Totengräber zu sein. Wir glauben aber zugleich und die Erkenntnis der Bewegungsgesetze der menschlichen Geschichte bestärkt uns in diesem Glauben und Wollen eine neue

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Welt zu künden, die wir nicht im Orient suchen, die wir Sozialismus nennen.

F. R.

Hirschfelds neues Institut

Der berühmte Sexualwissenschaftler, Dr. Magnus Hirsch­ feld  , dessen Berliner   Institut vor Jahresfrist von SA.- Van­dalen zerstört wurde, hat in Paris   erneut ein Institut der Sexualwissenschaft gegründet. In dem Pariser Institut be­findet sich ein Teil des Archivs und der Bibliothek des früheren Berliner   Instituts, der durch besondere Umstände gerettet und nach Paris   überführt werden konnte.

Gleichzeitig ist das Zentralbüro der von Professor Have­ lock Ellis  , August Forel   und Magnus Hirschfeld   gegründeten Weltliga für Sexualreform von Berlin   nach Paris   verlegt worden.

Stratosphären- Konferenz. Die in Petersburg   zusammen­getretene Stratosphärenkonferenz russischer Wissenschaftler hat die Einberufung einer Weltstratosphärenkonferenz be­schlossen, die im Jahre 1936 in Rußland   abgehalten werden soll. Der Termin der Konferenz, von der schon seit einiger Zeit die Rede ist, soll auf die Zeit der totalen Sonnenfinster­nis von 1936 gelegt werden, da man mit der Tagung den Aufstieg von Stratosphärenballons verbinden will, von dessen Ergebnissen man sich eine wertvolle Erweiterung unserer Kenntnis von den solaren Vorgängen verspricht.