Völker In Sturmzeiten Nr. 2

Völker in Sturmzeiten

Im Spiegel der Erinnerung- im Geiste des Sehers

Revolutionsnächte

Von Rétif de la Brétonne  

Freitag, 24. August 1934

" 17.- 18. April 1791

Wir drucken hier einige Kapitel aus den Erinnerungen Rétifs de la Brétonne ab. Es sind Er­lebnisse, mitten aus den sich überstürzenden Ereignissen der französischen   Revolution heraus in Hast niedergeschrieben. Diese Unmittelbarkeit gibt den ,, Revolutionsnächten" den höchsten Reiz. Sie gehören zu den wichtigsten Quellen beim Studium der Menschen in jenen Jahren der großen europäischen   Wende, farbig und naiv und dort am glaubhaftesten, wo die Schwächen der Kreatur in welterschütternden Zeitläuften sichtbar werden. Darin liegt aber zugleich die überzeitliche Aktualität der ,, Revolutionsnächte".

Der Mann und sein Leben

Er ist am 22. 11. 1734 in Sacy( Burgund  ) geboren, hieß Nicolas- Edme, stammte aus einer alten Bauernfamilie, die schon lange in Sacy ansässig, hat als Junge die Schweine ge­hütet, ein paar Brocken Latein gelernt, um bald in die Stadt geschickt zu werden und ein abenteuerliches Leben zu führen, das ihm den Stoff für sein Lebenswerk geliefert hat. Er kam als Lehrling in eine Druckerei der Stadt Auxerre  , ver­führte" die Frau seines Meisters, die ihn vergeblich mora­lisch" zu beeinflussen suchte, beteiligte sich an jansenistischen Streitigkeiten, wurde in eine Duellaffäre verwickelt und er­schien eines Tages wieder zu Hause, um Mädchen zu lieben und Allotria zu treiben; der Vater eines Mädchens warf ihn aus dem Hause und verhöhnte ihn wegen seiner Verse, die er damals zu dichten begann, ein anderes Mädchen starb seinetwegen aus Gram und viele andere hatten Kinder von ihm. Endlich kam er als Drucker nach Paris   und begann 1768 zu schreiben. J. J. Rousseau   hat ihn damals noch stark be­einflußt, den er später heftig angriff. Richardson und Mari­ vaux   sind seine Vorbilder gewesen. Den Stoff gab immer das eigene bunte Leben.

Nach langen unruhigen Jahren hat er eine Druckerei ge­gründet, in der er selber mitarbeitet. Er ist nie Unternehmer geworden. Er hat unter dem Volfe gelebt, immer in engster Fühlung mit dem Proletariat gestanden, Freundschaften mit Arbeitern und Handwerfern geschlossen, Liebschaften mit Arbeiterinnen und Ladenmädchen, Grisetten und Tänze­rinnen, kleinen Bürgermädchen und Freudenmädchen gehabt, und ist nur ungern in die Kreise des Adels und der Bour­geoisie gegangen, deren Frauen er niemals verschmäht hat. Er hat wirklich gelebt, jahrzehntelang nur einen einzigen Rock getragen, auf einer Dachfammer in Not und Krankheit gehaust; arme alte Weiber haben ihn unterstützt. Die eigene Frau bereitete ihm die Hölle auf Erden, verluderte ihm das Wirtschaftsgeld und hetzte seine Gläubiger gegen ihn auf. Seine Tochter Agnes, die ehelich geboren war, heiratete einen Verbrecher, der seinen Schwiegervater tätlich bedrohte und fast steinigen ließ.

Rétif hat in seinen Werken immer mit unendlicher Rüh­tung den sanften Frieden eines einträchtigen Familienlebens geschildert. Er selber hat ihn nie erlebt.

Die Zahl seiner Werke ist nicht gezählt. Er hat Romane und Dramen, Schäferspiele und Verse gemacht, er errang seinen größten Erfolg mit einem Roman in Briefen: Le Paysan perverti"( 1776), zahlreiche Werke verharren in der Ichform. Er hat überall sich selber geschildert. Sein Leben war ein Roman und er gestaltete sein Leben in der Kunst. Immer erscheint irgendwie seine eigene Gestalt, immer wie­der erscheinen Freunde, Bekannte oder Verwandte die Biographie, die sein Leben schildern soll, soll sein Werk schil­dern; und bunt, abenteuerlich, wie sein Leben war, ist auch das Werk. Aber er hatte stets einen Zwed im Sinne, wenn er schrieb. Er schauderte vor den Grauen des alltäglichen Lebens und glaubte an die Besserung der Zustände durch das Wort. Er wollte bessern. Er hat fast feine Zeile ohne diese Absicht geschrieben. Er gibt immer irgend einen Fall, läßt Gesellschaftsschichten einander berühren, miteinander kämp-, fen, immer versinkt rettungslos jemand in der Tiefe, manch­mal wird er noch gerettet und kehrt in seine ursprüngliche Schicht zurück, welche doch auch längst verrottet ist. Am Ende des Werkes steht dann meist die Lehre, ein Programm, ein Ge­

segesvorschlag, manchmal nur eine Warnung. Und immer beruft er sich auf den sittlichen Wert des Menschen, der ihm angeboren und nur verschüttet ist. Der Mensch ist gut. Aber die Verhältnisse sind schlecht.

*

Rétif beherrscht alle Formen der Darstellung, des Aus­drucks; seine Sprache, beweglich, lebendig, schmiegt sich allen Herzensregungen an, spricht immer zum Gemüt, zum Her­zen, wird blühend und beredt, strömt in Klängen der Liebe, hat die tiefsten Schatten der Melancholie und die zackigen Firste des Menschenhasses.

Kurz vor Ausbruch der Revolution fehrte Rétif aus der Schweiz   zurück, um Paris   während der Revolutionsjahre nicht wieder zu verlassen, er lebte wie immer unter dem Volke und war von seinen Stimmungen unterrichtet, man sah ihn Tag und Nacht in seltsamem Aufputz durch die Straßen wandern, das Volk nannte ihn Hibou", er strich in den Kaffeehäusern und Theatern herum, war ein ständiger Besucher des Palais Royal  ", saß auf den Tribünen der Legislative   wie des Konvents, sah mit eigenen Augen viele Ereignisse, welche Epoche gemacht haben, hörte immer Be­richte von Augenzeugen und wußte alles.

Er hat in drei Werken die Aufzeichnungen seiner Revolu tionserlebnisse hinterlassen in der Autobiographie Mon­sieur Nicolas", in der dramatisierten Darstellung seiner Er­lebnisse Le Drame de la vie" und endlich in den Nuits de Paris", die 1788 begonnen, tagebuchartig fortgeführt und meist noch unter dem Eindruck der Ereignisse niedergeschrie­ben wurden.

Als die Revolution im Laufe war, hat Rétif immer ver­langt, daß die Zügel der Regierung in die Hände entschlos­sener revolutionärer Männer des Volkes gelegt würden, die sich nicht vor den Folgen eines elementaren Ereignisses fürch­teten. Er hat im Königtum eine Gefahr für die ganze Ge­sellschaft gesehen, weil es mit seiner schwankender Politik des Zauderns, der Hinterhältigkeit und der inneren Unredlich­keit nur das Volf heftiger auseinanderriß, eine friedliche Lösung unmöglich machte und den Ruf der Revolution ge­fährdete. Er glaubte an die Unschuld des Königs- o Louis vous étiez aveugle, mais vous n'étiez pas criminel!" Seine Schuld waren seine Verständnislosigkeit, sein Mangel an flarem Blick. Und deshalb mußte er sterben.

Rétif hat die Septembermorde gebilligt, Rétif   ist ein großer Anhänger Marats   gewesen, so sehr sein Herz wahrhaft er­schüttert war; er fürchtete den Untergang der Republik  , die Unterwerfung des Landes durch die Alliierten und die Mög­lichkeit der Rückkehr des alten Systems, dessen Anhänger ständig in Paris   fonspirierten und Beziehungen zum Feinde hielten. Wenn das Volk gerettet werden sollte, mußte es den Weg gehen, den ihm Robespierre   vorschrieb nur der Berg  " vertrat die wahren Interessen des Volkes.

Aber der Berg ist gefallen, Robespierre   endete unter der Guil­lotine, das Direktorium ließ die Macht der Aristokraten wie­der erstarken, am Ende kam Bonaparte und das Imperium. Rétifs Kräfte waren lange erschöpft. 1795 brach er zusam­men, mitleidige Arme brachten den Greis ins Hospital. Drei Monate nach dem Aufgang der Sonne von Austerlitz   starb er in jämmerlichem Elend. Kurt Kersten  .

Die Pariser   widersehen sich der Abreise des Königs: was Rétif de la Bretonne   auf seinen Spaziergängen hört

der König werde am nächsten Tage nach Saint- Cloud   gehen. Gin Jakobiner, einer von den Fanatikern, der sich im Gafe befand, fagte:

Zwei Monate später hörte ich im Cafe Robert- Manoury,

Man darf diese Reise nicht dulden. Das ist eine Falle, und La Fayette und Bailly sind mit im Komplott."

billigten seine Worte und hatten völliges Vertrauen zu Lud­Er sprach lange. Einige stimmten ihm zu, andere miß­wig. Aber so geheim man am Hofe die Beratungen auch ge­führt hatte, eine der Kammerfrauen der Königin( dieselbe, von der später noch die Rede sein wird) hatte doch alles ge­hört. Die setzte weder Bailly noch La Fayette davon in Kenntnis, sondern ging geradewegs zu den Jakobinern, die ja nur zwei Schritt entfernt waren. Sie verlangte einen der ihr Bekannten zu sprechen und sagte ihm, was sie wußte, wie sie es wußte, das heißt in den wirklich angewandten Ausdrücken. Ax

Ich war bis nahe an diesen Park gegangen, in den ich nicht hinein konnte, und ging um das Schloß. Ich blickte durch die Türen der Höfe, die zum Fuhrpark gehören, als ich bemerkte, daß in den Hof, der an die Louvregalerie stößt, zwei Frauen eine kleine Treppe herunterkamen und sich dem Tor näher­ten. Ich trat beiseite. Man öffnete ihnen leise, und sie gingen hinaus. Der Türhüter suchte mit den Augen; er bemerkte mich und gab mir ein großes Paket mit den Worten:

Folgen Sie ihnen nicht zu unmittelbar, Jhr Genosse wird in einer Viertelstunde nachkommen."

Ich nahm das Paket und ging in vierzig Schritt Entfer­nung hinter den beiden Frauen her, die sehr schnell gingen, ohne zu sprechen. Die Aeltere mochte 22 Jahre alt sein. Sie war sehr liebreizend und machte einen guten Eindruck. Die jüngere war wohl faum 16 Jahre alt. Sie famen an den Wagenha: ieplaz am Pont Royal, wo ein Wagen auf sie war tete. Jetzt drehten sie sich um, und ich übergab ihnen das Paket.

Nun, und?" sagte die Weltere ,,, wo ist mein..." Sie hielt inne.

Des zwette Paket wird in einigen Minuten kommen,* jaate ich.

Wer sind Sie?"

Fürchien Sie nichts, meine Damen. Zwei Damen Jhres Alters und Ihres Aussehens können feine bösen Absichten haben..."

Die Größere wollte mir Geld geben, wahrscheinlich für mein Bemühen, aber ich zog mich zurück. Mein Genosse tam außer Atem an, mit dem anderen Paket beladen, das er vor den Damen wiederwarf, sehr überrascht, das erste zu sehen. Er sprach zu leise, als daß ich ihre Unterhaltung hätte hören Fönnen, außer den letzten Worten:

» Ich muß ihn fennen."

Er eilte über den Pont Royal zurück, aber ich hatte mich neben der Tür hirter Wagen versteckt. Dort blieb ich bis 8 seiner Rückfehr stehen: Dann stiegen die Damen in eine Sänfie und entfernten sich über die Brücke. Ich sah keine einzige Patrouille. Um Mitternacht fam ich über den Vol­tairi quai nach dem Quai de la Vallee( heute des Augustins) ... Man wird diesen beiden Damen noch begegnen.

Am anderen Morgen begab ich mich nach den Tuilerien, vol Erregung über das, was ich am Abend erfahren und in der Nacht gesehen hatte. La Fayette hatte die Politif, jedermann hereinzulassen. Es war großer Lärm in den Tuilerien, aber nur wie von vielen, vielen Stimmen, die olle durcheinander sprechen. Doch bemerkte ich, daß sich größere Gruppen der Informierten um den Wagen des Königs scharten und sich die ganze Straße längs der Tui­lerien hinzogen; ich vermutete sofort, daß Ludwig nicht ab­reisen werde. Ich setzte damals, wie so viele andere, mein Vertrauen in La Fayette, den ich für einen Anhänger der Revolution hielt. Ludwig kommt heraus. Er besteigt sogar den Wagen. Sofort erhebt sich in den verschiedenen Gruppen ein furchtbares Geschrei. Der Kommandant, der Bürger­meister ermahnen das Volk, den Monarchen abfahren zu lassen. Aber sie predigten tauben Ohren.

( Fortsetzung folgt.)

zitterten. Der Alte machte einen Versuch zu sprechen, aber sein Gast hörte nichts, sah nur, daß sich sein Mund bewegte. Der Alte erhob sich und zeigte auf eine Gravüre von den

Gerichtstage e lich sund

( Schluß.)

Ein Korsikoner, im selben Jahr geboren, als Frankreich  fein Land nahm. Er wird es rächen, und da er sich nie als Franzose fühlen kann, wird er unser Land nur für seine 3wede benutzen. Aber trotzdem, trotz seiner unerhörten Selbstsucht, trotz seinen Lastern und Verbrechen wird er der Menschheit dienen, denn alles dient!"

Und nachher?"

Wer kann das sagen! Wahrscheinlich geht es gut wie bis. her: bald vorwärts, bald etwas Ruhe, und dann wieder vorwärts!"

Und dann tauchte das Alte wieder auf..

Ja, wie der Ertrinkende. Dreimal kommt er in die Höhe, um zu atmen, das viertemal aber bleibt er auf dem Grund. Oder wie die Wiederkäuer: kleine Aufstöße, Wiederkauen, und dann hinaus durch die Speiseröhre, wenn alles Gegen­wärtige in den Kreislauf aufgenommen ist!"

Glaubst du an die Wiederkehr des goldenen Zeitalters!" ,, Ja, ich glaube wie Thomas, wenn ich gesehen habe! Und ich habe gesehen! In dem Augenblick, an den ich eben er­innerte, auf dem Marsfeld, da sah ich! Wir ahnten die Zu­funft, wir waren sicher, daß wir eine Offenbarung aus der fernen Zukunft gesehen hatten, aber wir waren unsicher, ob sie sich jetzt gleich einstellen werde."

" Wie lange sollen wir warten?"

,, Wir sollen nicht dasizzen und warten, sondern wir sollen arbeiten! Dann vergeht die Zeit. Die Gelehrten jagen ,, der

Von August Strindberg  

Hügel Montmartre   habe eine Million Jahre gebraucht, um sich aus dem Wasser abzusetzen! Nun, unsere Geschichte ist nur dreitausend Jahre alt; in dreitausend Jahren kann die Menschheit über ihre Vergangenheit nachdenken, und in sechs­tausend vielleicht ist es zu merken, daß eine Verbesserung ein­getreten ist! Wir sind ungeduldig, Herr, und hochmütig. Und doch geht es schnell. Vor dreihundert Jahren ist Amerika   ent­deckt, und jetzt ist es europäische Republik  . Afrika  , Indien  , China  , Japan   sind eröffnet, und die ganze Erde gehört bald Europa  ! Sehen Sie, jetzt ist die Verheißung an Abraham  : In deinem Samen sollen alle Geschlechter gesegnet werden!" auf dem Wege, sich zu erfüllen; auf dem Wege, sage ich." Die Verheißung an Abraham?"

Ja, haben nicht Christen, Juden und Mohammedaner teil an der Verheißung?"

Christen aus Abrahams   Samen?"

Durch Christus, der von Juda war, sind wir geistig von Abraham. Ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und aller Vater!"

Ich habe dich angehört, und ich muß sagen: dein Glaube ist groß und der hat dich erlöst!"

Wie er die Menschheit erlösen wird."

Jetzt verstummte das Gespräch, denn die Großglocke be gann im südlichen Turm zu läuten. Sie überstürmte den Sturm und sie erfüllte die Kammer mit ihrem Getön, er­schütterte den Tisch, die Stühle, so daß die beiden Menschen

vielen.

Sie stellte Anacharsis   Glovß vor, den Philanthropen, den Philosophen, wie er sich im Konvent einfindet mit einer Schar aus allen Völkern der Erde, schwarzen, gelben, weißen, fupferroten Menschen, und ersucht, fie als Bürger in die Weltrepublik aufzunehmen.

Der Graf lächelte zur Antwort, halb mißtrauisch, halb freundlich nachsichtig.

Der Alte versuchte zu sprechen, er war aber nicht zu hören. Aus der Tiefe der Jahrhunderte schien das Geläut zu kommen, das alte Jahrhundert aussingend, das neue ein­läutend, das in einigen Wochen begann; das neunzehnte Jahrhundert seit der Geburt des Erlösers, der versprochen wiederzukommen, und es vielleicht in der einen oder andern Weise tun wird.

Der Graf saß da und befingerte den Briefbeschwerer, die Guillotine. Er ergriff ihn plößlich und fragte eine Frage mit den Augen, worauf der Alte mit einem Niden ja antwortete. Der Briefbeschwerer wurde mit einer schnellen Bewegung in den Papierkorb geworfen.

Da schwieg die Großglocke, das Zimmer wurde ruhig, und die Arme über der Brust gekreuzt, sprach der Alte wie in einem Seufzer der Dankbarkeit aus:

Die Revolution ist aus." " Diese Revolution!"

Trübsal gibt Geduld; Geduld gibt Erfahrung; Erfahrung gibt Hoffnung; Hoffnung läßt nicht aufchonden werden!"