netismu
Donnerstag, den 30. August 1934
OX
Man schreibt uns:
Jeden Morgen, wenn ich zur Arbeit gehe, führt mich mein Weg bei ihr vorbei. Sie hat ein kleines sauberes Geschäftchen mit appetitlichen Auslagen, die mich mitunter verlocken: ein paar Tomaten, ein halbes Pfund Zwetschgen oder Trauben zum Frühstück. Immer haben wir eine kurze, aber freundliche Unterhaltung, ein gutes, oft aufmunterndes Wort, das wir uns vielleicht gegenseitig mit in den Arbeitstag nehmen. Denn sie ist nicht nur ein hübsches, sondern auch tüchtiges, junges Mädchen. Ich dachte stets: wie gut sie ihre Kunden zu nehmen versteht.
Und heute?
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Waren Sie auch in Koblenz ?" beginnt sie unser Gespräch, während sie mit flinken Fingern einige saftige Butterbirnen abwiegt. Ich verneine und harre der weiteren Dinge, die sich auch prompt ereigneten.„ Ach wissen Sie, da haben Sie recht gehabt."
Nanu? Ich staune.
,, Ich bin nämlich mit meiner Mutter gefahren. Die ist schon 70 Jahre! Und das war eine furchtbare Anstrengung. Samstag nacht um 3.15 Uhr hier weg, Sonntag um 3.15 Uhr wieder nachts fort von Koblenz . So zwei Nächte um die Ohren geschlagen, das spürt man."
Ich stimme zu, bedaure, heuchlerisch wie ich bin, die alte Dame, die für den ,, Führer" so viel Strapazen auf sich nimmt.
„ Natürlich," pflichtet die Verkäuferin bei.„ Sie konnte auch Sonntag mittag kaum noch voran. Denn, denken Sie, der Zug
fuhr nur bis Vallendar und wir mußten eine endlose Stunde zu Fuß laufen. Alle Wirtschaften ringsum waren schon geschlossen. Da war aber ein Wäldchen, ich ließ mich mit der Mutter nieder; und wir machten Mittag. Sie sagte auch schon, wenn sie das gewußt hätte..."
,, Aber Essen? Essen hatten Sie das bei sich?"
Ja, an die Gulaschkanonen war nicht ran zu kommen, und unter uns gesagt: es war doch heiß, und da roch es so, wissen Sie, so nach-"
Der Satz blieb unvollendet. Ich wollte mehr hören, sonst hätte ich vollendet: nach Volksküche anno 17, weißt du noch? Aber darum schwieg ich...
Wir wurden jedoch für alles entschädigt, für alles." Das verblühte knittrige freundliche Mädchen blühte auf: ,, Ich habe den Führer gesehen." Ihre Augen glänzten wie die einer Fieberkranken. ,, Also er stand mir gegenüber wie Sie mir jetzt stehen. Ganz nah."
Verzückt spricht mein Obstmädchen weiter: ,, Achtmal habe ich ihn geknipst. Wenns nur einmal geworden ist. Es waren zu viele Heils und Arme hoch immer dazwischen." Ich denke, so nah wie ich und du..
,, Offengestanden," ihre Stimme wurde plötzlich ein Flüstern I hat sie das schon hinter dem Guckloch des eisernen Vorhangs für die Saarländer gelernt? Ich war ja nie so ganz und gar mit ,, drüben" einverstanden, und vor allem die Bilder. Finden Sie nicht, seine Bilder, sieht er nicht auf allen so dumm aus, also wissen Sie, richtig dumm. Aber in Wirklichkeit, ganz anders! Nein, so ein Mann! Der ist nicht zu fotografieren."
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Wieder die Rosenblüte unter hysterischem Blick: Wir sahen ihn zuerst, als er zum Ehrenbreitstein heraufkam. Hoch rot war sein Kopf, und er schien furchtbar aufgeregt. Denken Sie auch mal an, vor soviel Menschen!"
,, Und dann waren wir dabei, wie er fortging. Da war er ganz anders. So befreit."
Ja und dann?"
,, Ach dann hab 1 wir Glück gehabt. Es war nämlich ein bekannter SA.- Führer bei uns. Der hat gesorgt, daß uns eine Wirtschaft noch einließ, die gleich wieder hinter uns geschlossen wurde. Sonst hätten wir die ganze Zeit nichts War
A
bontod
Das Neueste: Entjudung
Kohn- Koncad
In Deutschland ist es große Mode geworden, einen unbequemen Konkurrenten, einen Nachbarn, den man nicht ausstehen kann, einen persönlichen Gegner als ,, Judenstämmling" zu verdächtigen. Landauf, landab beriechen die Rasseschnüffler jeden Eckstein der Familienchronik, die Suche nach der Großmutter hat sich vom Gesellschaftsspiel zur Landplage entwickelt. Jegt mehren sich die öffentlichen ,, Ehrenrettungen" und immer mehr Leute sehen sich genötigt, sich selbst oder ihre Freunde vom Verdacht einer anrüchigen Abstammung zu reinigen.
Wilhelm Stapel , ein reichsdeutscher Wortführer im Kirchenstreit, schreibt z. B. in seiner Zeitschrift ,, Deutsches Volkstum":
Manchmal genügt der Name, der auch als jüdischer Name vorkommt, um Mißtrauen entstehen zu lassen. Aber nicht einmal der Name Cohn ist immer ein Zeichen für das Judentum seines Trägers. Kohne und Cohn kommen, als Abänderung des Namens Conrad in Norddeutschland als echte deutsche Familiennamen vor... Mag man einen Menschen nicht leiden, so genügen schwarze, krause Haare oder eine dinarische Nase, um das Mißtrauen hervorzurufen. Wer nicht fest in der Rassenkunde ist, verwechselt leicht dinarische und jüdische Nasen... Es gibt sogar Fälle, in denen jüdisches Aussehen völlig unerklärlich ist."
Nach dieser Feststellung, die ihm das Propagandaministerium und sein Leiter sicher danken werden, geht Stapel zu einigen mehr persönlichen Entjudungen über, und seine Plädoyers sind so bezeichnend für den neudeutschen Unfug, daß sie wenigstens auszugsweise zitiert werden sollen:
Ernst von Wildenbruchs Großmutter war Henriette Fromme, die Geliebte des Prinzen Louis Ferdi
to Einheitsfront, wachse! fise! USM
mes zu essen bekommen. Aber was meinen Sie, was wir be zahlen mußten? 55 Pfennig für eine Tasse Kaffee, es war ein unverschämter Nepp, aber man mußte sich glücklich schätzen, überhaupt etwas zu erhalten, und nur durch die sehr nachdrückliche Hilfe unseres bekannten SA.- Führers."
Schade, hab' ich gedacht. Es kam dir und deines gleichen nichts anderes zu.
Ein betontes ,, Guten Tag" von mir. Ich gehe der Arbeit entgegen.
Oben auf dem Bahnsteig ist wieder ein Zug eingefahren. Sie schreien ihr„ Sieg Heil", sie singen ihr Horst- WesselLied, und die Fenster außen sind mit grünen Reisern ge
schmückt.
Wie 1914!
Sie haben alles vergessen und nichts gelernt.
Ein gütiger Himmel möge geben, daß sie erwachen aus dem Massen- Rausch, ehe es zu spät ist. Wir wollen alle dazu helfen!
Und es werden täglich mehr, die zu denen gehören, die unablässig in die braune Trostlosigkeit rufen: Deutschland erwache!"
Mit Bengt Berg ,, herzensgut zu den Tieren" Reichsjägermeister Hermann Göring hat sich wieder einmal für den ,, Völkischen Beobachter" fotografieren lassen. Diesmal im Sepplanzug- Lederhose, Hemdsärmel, gestickte Hosenträger, den Speer in nerviger Mannesfaúst. Daneben ist ein Gast zu sehen, ein Gast in Zivil, den Kopf mit gelichteten Haaren leicht gesenkt, als schäme er sich. Dieser Gast ist Bengt Berg , der schwedische Vogelfreund und Naturschilderer. Bengt Berg , der angeblich nur mit der Kamera jagt.
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Er hat dem Völkischen Beobachter" ein Interview über seinen Besuch bei Göring gewährt, in dem es heißt:
,, Wer Hermann Göring sieht, wenn er seinen jungen Löwen in die Arme nimmt und tätschelt, der weiß sofort, daß hinter dem stahlharten, hellen Blick dieses blonden Teutonen heiße Liebe zur Natur und Herzensgüte zu den Tieren zu finden ist."
Bengt Berg , der schwedische Zeitungen zu lesen pflegt, weiß natürlich genau so gut wir wir, daß in Görings Namen und unter Görings polizeilichem Oberbefehl abertausend wehrlose, schuldlose Menschen in Konzentrationslagern und SA.- Kasernen auf teuflische Art mißhandelt, gedemütigt, gepeinigt, gemartert, daß viele erschlagen, erschossen, zertrampelt, zu Tode gefoltert worden sind. Aber Bengt Berg mit dem zarten Herzen geht dennoch hin und macht seine Reverenz.
Wir wundern uns nicht darüber, wir begreifen, warum sich diese beiden seltsamen Tierfreunde zueinander hingezogen fühlen. Bengt Berg , einer der verlogensten Schriftsteller unserer Zeit. Worin besteht die Anziehungskraft seiner viel gekauften Bücher? In der Vorspiegelung, daß der Autor außerstande sei, ein Tier zu töten. Diese vermeintliche Zartheit und Güte haben dem Autor des ,, Abu Marküb", des ,, Regenpfeifers ", der Mutterlosen" viel blankes, gutes Geld eingebracht. Und da ein reicher Mann sich Passionen leisten kann, ist Bengt Berg in seinem Privatleben leidenschaftlicher, wenn auch heimlicher Jäger. Aber nicht mit der Kamera, sondern mit dem Schießprügel. In den gewinnbringenden Büchern verschweigt er diese Tatsache sorgfältig und wohlbedacht.
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nand von Preußen. Sie wird, weil der Name Fromme auch als Judenname vorkommt, als Jüdin bezeichnet. Aus der Ahnentafel berühmter Deutscher in der Leipziger Zentrale für Per sonen- und Familiengeschichte geht unwiderleglich hervor, daß... Uebrigens sind Wildenbruchs Werke so unjüdisch wie möglich.
Walter Flex ' Mutter soll eine Jüdin gewesen sein. Warum? Weil sie Margarete Pollack heißt... Der Sachverständige für Rassenforschung beim Reichsministerium des Innern hat den Fall Flex nachgeprüft und die rein arische Abkunft der Mutter ist durchaus festgestellt.
Dem Göttinger Theologie- Professor Emanuel Hirsch wird jüdische Abstammung angehängt. Grund: der Name und dinarischer Einschlag in den Gesichtszügen. Der Name Hirsch braucht nicht auf den Judennamen Hersch zurückzugehen, es gibt auch deutsche Hirsche.„ Zum Hirsch" ist ebenso wie ,, Zum Löwen",„ Zum Ochsen",„ Zum Kaiser" ein guter alter Hausname...
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Der Frankfurter Professor der Soziologie, Heinz Marr , soll von jüdischen Vorfahren abstammen. Hier liegt eine ganz besonders üble Verleumdung vor... weil es sich um einen Racheakt der Gegner handelt. Die Stammbäume liegen nach allen Richtungen vor und schließen jeden jüdischen Ein schlag aus.
Kameraden, heut werden sie drüben am Rhein Mit dröhnenden Worten die Saar befrein Und neuen Haßgeist impfen. nobis si Euch werden sie als Gesindel bespein Und als Hochverräter beschimpfen.
Sie sagen, ihr wärt nur ein Häuflein klein, Von dunklen Agenten bestochen.
Wir wissen, warum sie euch so beschrein. Das Häuflein wird bald ein Volksheer sein! Sie spüren es in den Knochen.
Kameraden, noch ist das Saarland frei Von Folterkasernen, Sklaverei
Und Rasseparagrafen.
Gesittung und Freiheit sind drüben zerstört Und wer das für recht hält, der gehört Zu den geborenen Sklaven!
Die Saar ist deutsch ! heißt ihre Parole. Wer hat das jemals bestritten? Auch ihr nicht. Ihr hättet es nie gelitten, Daß sie ein anderer hole!
Ihr, Arbeiter, Bauern und Mittelstand, Sozialisten, Juden und Christen, Sie sagen, ihr hättet kein Vaterland, Und schimpfen euch Separatisten!
Ihr wißt, wie euer Vaterland heißt: Deutschland ! Und das wird es bleiben!
Doch was sich dort drüben als Deutschtum prefst, Das ist nicht Geist von eurem Geist! Das ist ein Feind, der gegen euch hetzt! Denn Deutschland ist heute vom Feind besegt! Und den gilt es zu vertreiben!
Unser Deutschland , das ist nicht der braune Gott Nicht Phrasen- und Fackelnparaden, Unser Deutschland ist nicht das graue Schafott Hinter buntbehängten Fassaden
Unser Deutschland , das ist die leidende Masse, Zu kommandierten Statisten degradiert, Die unterirdisch, in schweigendem Hasse Krieg gegen ihre Bedrücker führt!
Und dieses Deutschland wird bald erwachen, An einem stürmischen Tag!
Und die Barbarei wird zusammenkrachen Unter dem ersten Schlag!
Und ein neues Deutschland ersteht im Gefecht, Ein Deutschland des Wohlstands, für Freiheit und Recht! Von diesem Vaterland, Kameraden, Scheide euch keine Grenze mehr! Doch für Pogrome, Foltern, Paraden Gebt eure Heimat niemals her!
Die Zahl der Verblendeten ist noch groß, Der Einfältigen und der Feigen. Macht ihnen Mut zum Gegenstoß! Reißt sie von ihren Beschwätzern los! Ihr habt die Pflicht, nicht zu schweigen! Dann bleibt bald nur eine kleine Schar, Von braunen Phrasen behext. Aber die Freiheitsfront an der Saar Wird mächtig und lebt und wächst! Arbeiter, Bauern und Mittelstand! Sie soll'n sich die Zähne ausbeißen! Haltet der blutigen Brandung stand, Auf der letzten Schanze im Vaterland! Die soll'n sie euch nicht entreißen! Einheitsfront wachse! Es kommt der Tag! Euer Sieg wird der Todesstoß sein!
Von hier aus führt den entscheidenden Schlag! Und der heißt: Deutschland befrein!
*) Erich Weinert trug dieses Gedicht auf der großen Freiheitskundgebung in Sulzbach vor. Er hat es für sie f schaffen. Es fand stürmischen Widerhall.
Zeit- Notizen
Eine Hand wäscht die andere
Unter den Sechs Büchern des Monats August", die da Propagandaministerium ausgezeichnet hat, befindet sich je eins von Friedrich Griese und Wilhelm von Scholz . Im Ber liner Tageblatt" lesen wir von Griese über das Buch von Scholz: ,,... Vielleicht die dichterischste Lösung des oft behandelten Vorwurfs: ein Totgesagter kehrt heim" und von Scholz über das Buch von Griese: ,, Das Buch ist auf die Reichsliste für den Monat August gesetzt. Es hat dort seinen guten und eigenen Plat, weil es ein bestimmtes Gebiet der deutschen erzählenden Kunst mit hoher Meisterschaft vertritt."
Carl Sternheim , der große deutsche Komödiendichter, der scharfe Kritiker des Spießbürgers, um den es in den legten Jahren sehr still geworden ist, wird im kommenden Winter zum ersten Male in Paris aufgeführt werden. Ein Pariser Theater kündigt die Aufführung des Lustspiels Die Hose " an, das bekanntlich nicht nur auf der Bühne, sondern auch in der Verfilmung einen Welterfolg hatte. Sternheim hat lange Zeit kein neues Werk veröffentlicht. Er lebt schon seit vielen Jahren in Brüssel und ist mit Pamela Wedekind , der Tochter Frank Wedekinds, verheiratet.
Also das sind wirklich Sorgen! Es kann der Beste nicht in Eine Schule für Zirkusklowns in Moskau Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn gefällt, ihn als Judenstämmling auszuklingeln, und so ein dinarischer Einschlag in den Gesichtszügen ist im dritten Reiche" gefähr licher als ein kleiner Mord. Hitlers geeintes Volk, vor Edelmut strotend, bietet in seinem privaten Dasein einen erhebenden Anblick..
In Moskau wurde soeben eine technische Hochschule für Zirkuskunst eröffnet. Das Ziel dieser besonderen Einrichtung ist die Schulung von Akrobaten, Clowns und anderen Zirkuskünstlern. Außer dem Unterricht im Jonglieren, Kunstreiten, Trapezkunst werden auch Kurse abgehalten in fremden Sprachen, Sozialwissenschaft, Geschichte, Geographie usw.