Deutsche   Stimmen. Bellage zur Deutschen  ..Deutschen Freiheit Ereignisse und Geschichten

Freitag, den 28, September 1934

Sozialismus und Philosophies

Von Professor Dr. Siegfried Marck  ( Pacis)

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Unsere geschichtliche Epoche kennt wahrlich keine philo­sophische Beschaulichkeit, kein ruhiges Ernten historischer Erfahrungen in besinnlichen Systemen. Nicht nur dem ,, dritten Reich" konnte ein preußischer Ministerialdirektor bestätigen, daß es nicht aus dem Geiste der Philosophie, sondern aus dem Geiste der SA. geboren sei auch sym­pathischere Gebilde werden im geschichtlichen Kampfe aus individuellen Leidenschaften und kollektiven Interessen geschaffen. Erst die nachdenkliche Philosophie soll dann Reflexion und Rechtfertigung bringen. Und dennoch ist Gs starke, auch gelegentlich des Prager Kongresses wieder hervorgetretene Interesse für die Philosophie in einer so wildbewegten Zeit nicht nur der Ausdruck einer Flucht aus der geschichtlichen Wirklichkeit in die Metaphysik. Sondern man sucht im Gegenteil nach Orientierung für die Zukunft und man hat das richtige Gefühl dafür, wie stark auch die Politik, ja vor allem sie, von einem Gesamt­welthilde abhängig ist.

Der Marxismus hat die Philosophie von ihrem nachträg­lichen Charakter, ihrem hinter den Ereignissen Herhinken, befreien wollen. Der Sat, daß die Philosophen die Welt nur verschieden interpretiert haben, daß es aber darauf an­kommt, sie zu verändern, ist nicht nur der Ausdruck einer kämpferischen Stimmung, sondern einer sich ihrer selbst klar bewußten kämpferischen Philosophie. Und doch steckt in diesem Real- Humanismus" oder dialektischen Materialismus auch eine antiphilosophische Tendenz: Auf­hebung, Ueberflüssigmachung der Philosophie durch ihre kämpferische Selbstverwirklichung. Als eine ganz ursprüng­liche wesentliche Richtung des menschlichen Geistes aber läßt sich Philosophie schlechterdings nicht auf. lösen: weder in den Klassenkampf für den Sozialismus, noch in dié menschliche Alltagsarbeit einer verwirklichten sozialistischen   Ordnung Philosophie ist nicht eine Haltung, die nur aus der bisherigen Struktur der menschlichen Ge­sellschaft und ihres elenden Alltags ableitbar wäre, und die mit einem besseren Alltag verschwinden müßte. Sie bleibt grundsätzlich und wurzelhafte Einstellung, die über jeden denkbaren Alltag herausstrebt. Wegen des antiphilosophi­schen Moments im Marxismus   gelingt es nicht, ein philo­sophisches Weltbild aus dem Geiste des dialektischen Materialismus allein zu schaffen.( Wie alle Versuche dazu deutlich gezeigt haben.) Der historische Materialismus hat als Methode der Geschichtsforschung sein selbständiges Eigen­

tueller Rechtsbeschaffenheit den Geist der Wissenschaftlich keit den Geist der Wisseneaklisist tKrardgoveeniatumlhw keit gegen reaktionäre Romantik setzt, kann er unserer vollen Sympathie gewiß sein. Wo dieser Positivismus jedoch den durchaus bürgerlichen Materialismuss des achtzehnten Jahr­hunderts zu erneuern sucht, wo er diejenigen Elemente des Aufklärungsdenkens, die nun einmal überwunden sind, fest­hält, da leistet er selbst einer dogmatischen Enge Vorschub. Wir aber brauchen nach dem politischen Zusammenbruch in Mitteleuropa   mehr denn je Weite und Aufgeschlossenheit, Unnachgiebigkeit zwar gegen Modeströmungen, aher Offen­heit für alles Neue und Werdende. Als kritische historische Materialisten haben wir keine Veranlassung, das natura­listische Dogma mitzumachen, welches das Eigenrecht der Psychologie, die methodische Selbständigkeit der Geistes­wissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften leugnet. Diejenigen, die heute mit den Methoden einer Spezialwissen­schaft der Philosophie erst zur Wissenschaft erheben wollen, verkennen die Autonomie der Philosophie, die in dem Kritischen Kants ihre grundlegende Methode erhalten hat. Der kritische Idealismus ist wahrhaft wissenschaftlich und wahrhaft frei gegenüber jedem, auch gegenüber dem posi­tivistischen Dogmatismus. Gerade darum hat er sich sehr oft und sehr gut mit dem historischen Materialismus ver­bünden können.

Gewiß kann es nicht mehr der alte Idealismus von anno dazumal sein, mit dem sich ein heutiger Sozialismus zu­sammenschließt. Denn dieser alte Idealismus war ein System der Freiheit, das ist unrealistisch überall an den harten

Bedingtheiten des menschlich- gesellschaftlichen Daseins ge­

stoßen hat, Unter den Stößen des 19. und 20. Jahrhunderts hat sich ein solcher Idealismus erheblich gewandelt, und mußte sich wandeln, sofern er lebensfähig und bündnisfähig anderen Richtungen gegenüber bleiben wollte. Ein etwas schulmäßiges: ,, Kant und Marx" von früher ist heute eben­falls überlebt. Es kann sich nur um die Verbundenheit mit einer allgemeinen großen Tradition und Methode des kriti­schen Idealismus handeln. Aber diese Tradition der Frei­

heit ist uns eben näher in ihrer kritischen Voraussetzungs­losigkeit als das Bekenntnis zur Gebundenheit und Fesse­lung des Geistes! Es bleibt ein seltsames Schauspiel, wenn aus einer solchen Liebe zu gebundenen Voraussetzungen und aus Abneigung gegen den kritischen Idealismus ein Marxist tären Denken des geistvollen Jesuitenpaters zu kokettieren beginnt.

Deutschland  

Von Bert Brecht

O Deutschland, bleiche Mutter! Wie bist du besudelt Unter den Völkern Und den befleckten Fällst du auf.

Von deinen Söhnen der ärmste

Liegt erschlagen.

Als sein Hunger groß war Haben deine andern Söhne Die Hand gegen ihn erhoben Das ist ruchbar geworden.

nisM

Mit ihren so erhobenen Händen, Erhoben gegen ihren Bruder, Gehen sie jetzt frech vor dir herum Und lachen in dein Gesicht, Das weiß man.

In deinem Hause

Wird laut gebrüllt, was Lüge ist,

Aber die Wahrheit muß schweigen

Ist es so?

Warum preisen dich ringsum die Unterdrücker, aber Die Unterdrückten beschuldigen dich: Die Ausgebeuteten

Zeigen mit Fingern auf dich, aber Die Ausbeuter loben das System,

Das in deinem Hause ersonnen wurde!

Und dabei sehen dich alle

Den Zipfel deines Rockes verbergen, der blutig ist Vom Blute deines Besten Sohnes.

Hörend die Reden, die aus deinem Hause dringen, lacht man, Aber wer dich sieht, der greift nach dem Messer, Wie beim Anblick eines Räubers.

O Deutschland, bleiche Mutter!

A 260

Wie haben deine Söhne dich zugerichtet, Daß du unter den Völkern sitest, Ein Gespött oder eine Furcht! ( Aus ,, Gedichte, Lieder, Chöre", Editions du Carefour, Paris  ,)

recht. Seine philosophische Tendenz muß sich jedoch je auf dem Prager Philosophenkongreß sogar mit dem autori. Die Scham

weils einordnen in eigentlich philosophische Konzeptionen, und so hat er stets bei anderen Gesamtweltbildern An­lehnung gesucht.

In der heutigen Situation der Philosophie hehen sich aus der Fülle der Richtungen drei besonders deutlich hervor: 1. der kritische Idealismus, 2. die erneuerte Metaphysik ( die sich in ihrer wirksamsten Strömung Existenzohilosophie nennt), 3. der radikale Posivitismus und Empirismus. Die existenzphilosophische Metaphysik ist zum großen Teil( es gibt einige Ausnahmen) heute die Modephilosophie des Faschismus Wie dieser selbst enthält sie pseudosozialistische Motive und unzureichende Lösungsversuche für Probleme, die gestellt zu hahen allerdings der Marxismus für sich in Anspruch nehmen kann. Aber die antikritische und antizivilisatorische Haltung dieser Metaphysik, ihr romantischer Nehel, ihre Feindschaft gegen Vernunft und Wissenschaft macht sie zum natürlichen Gegenspieler der marxistischen   Einstellung. Dieser Metaphysik ist der Aus­druck bürgerlichen Niederganges und eines dekadenten Krampfes, der sich selbst als Anbruch eines tausendjährigen Reiches verkündet. Wo Positivismus als Ausdruck intellek­

In der Verbundenheit mit dem kritischen Idealismus ist auch eine Verbundenheit mit dem Liberalis­mus eingeschlossen, der in seiner besten Form das Prinzip der sokratischen Kritik und der Geistesfreiheit auf sein Banner geschrieben hatte. Nicht zufällig lebt der Faschis­mus vom antiliberalen Pathos und von einem fanatischen Haß den Liberalismus. Der marxistische Sozialismus gegen hat stets die schärfste Kritik am Liberalismus geübt, aber nicht weil er ihn in der Art des Faschismus ermorden, sondern weil er ihn aus seinen Halbheiten be. freien und restlos verwirklichen wollte. Ein Bekenntnis zur liberalen Tradition der kritischen Geistesfreiheit hat an sich noch nichts zu tun mit dem Be­kenntnis zur Demokratie als einer Form der politischen Technik. Aber es ist in der Tat ein Bekenntnis zu den kulturellen Werten dieser liberalen Tradition. Sie ist vom Bürgertum überall im Stiche gelassen worden und kann allein vom kämpfenden Sozialismus wieder aufgenommen und ver­wirklicht werden.

50 Jahre Dicigent Felix Weingartner  

In diesen Tagen begeht Felix Weingartner   das fünf­zigjährige Berufsjubiläum als Dirigent, und namentlich die musikalischen Kreise in Basel  , seinem ständigen Wohnsitz, rüsten zu einer würdigen Feier des Jubilars. Es ist ein seltenes und stolzes Fest, das der Künstler um so freudiger begehen mag, als die Rückschau auf die fünfzig Jahre seines Wirkens als Dirigent ihm keinerlei resignierte, melancholische Betrachtung auferlegt: Weingartner führt den Taktstock he­kanntlich auch heute noch mit dem gleichen inneren Feuer und mit der gleichen jugendlichen Spannkraft wie vor fünfzig Jahren, und so mag er mit dem Gefühl heiterer Be­glückung an jene fernen Anfänge zurückdenken.

Er hatte es nicht eben leicht, wie er in seinen Lebens­erinnerungen erzählt, und der zwanzigjährige Musiker mußte immerhin eine Zeitlang warten und suchen, bis er an eine der freiwerdenden Dirigentenstellen einrücken konnte, ob­schon er sich als Schüler Liszts als erfolgreichen Pianist und als Autor einer verheißungsvollen Oper Sakuntala"- bereits einen Namen gemacht hatte. Indessen:, Dem einen war ich zu jung, dem andern zu modern, dem dritten paẞte nicht, daß ich komponierte; überall war ein Hemmnis. Bis er endlich in Königsberg   als zweiter" Kapellmeister unter­kam und vom September 1884 bis Ende April 1885 mit einem Monatsgehalt von 180 Mark engagiert wurde. Dort fand er nichts weniger als erfreuliche Verhältnisse vor; aber es ist kennzeichnend für seine künstlerische Impetuosität, daß er sich durch die Miseren eines abgewerkelten Betriebes von allem Anfang an nicht einschüchtern oder abschrecken ließ.

Die erste Oper, die ich dirigieren sollte, war Troubadour. Ich erregte auf dem Büro des Stadttheaters ein sehr miẞ­liebiges Aufsehen, als ich verlangte, ein Stunde mit dem Orchester allein probieren und außerdem vor der Gesamt­probe mindestens zwei Soloproben am Klavier halten zu können." Sie werden beim Theater kein langes Leben haben, wenn Sie solche Forderungen stellen," meinte der Herr Regisseur ,,, Opern wie, Troubadour' gibt man mit höchstens einer Probe." Und mit überlegenem Lächeln fügte

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er hinzu: Allerdings muß man Erfahrung im Dirigieren haben Bei seiner zweiten Oper ,, Zar und Zimmer­ mann  " hatte er bereits die geforderte Erfahrung und wurde tatsächlich mit einer Probe fertig, während bei der dritten Oper Freischüt" sich auch sein individuelles Talent so kräftig durchsetzte, daß der erste" Kapellmeister auf seinen zweiten" eifersüchtig zu werden begann. Also wurde der junge Weingartner bei einer Vorstellung des Nachtlagers von Granada" vorsäglich zu Fall gebracht.

Damit aber setzte die Peripetie dieses seines ersten Engage­ments ein, das mit allen seinen Freuden und Leiden immer­hin ein charakteristisches Präludium zu den nächsten Engage­ments, ja überhaupt zu dem kommenden halben Jahrhundert künstlerischer Tätigkeit darstellt. Jenes Vorspiel und alle die folgenden Kapitel, Abschnitte und Episoden seines fünfzigjährigen Wirkens werden durch den einheitlichen Zus seiner Persönlichkeit verbunden und zusammengehalten.

Gerhart Hauptmann   wird angeranst Der Gefangene der Gleichschaltung

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ZTA. Unter der Ueberschrift Kleine Anfrage   an Gerhart Hauptmann  " bringt die Scherlsche Nachtausgabe" die Mel­dung der Wiener Sonn- und Montagszeitung" über den Geburtstagsglückwunsch, den Hauptmann dieser Tage an den in Oesterreich   lebenden jüdischen Schriftsteller Franz Werfel   gesandt und mit den Worten zum Zeichen der Verbundenheit unterschrieben hat. Die Nachtausgabe" knüpft an die gleichzeitige Mitteilung des Wiener   Blattes, daß Werfel an dem jüdischen Faust"-Drama über die gegenwärtige Not des jüdischen Volkes arbeite, die Be­merkung, daß bekanntlich auch Hauptmann vor Jahren einen jetzt vergessenen Faust- Torso in Knüttelversen ge­schrieben hat. Das Blatt schreibt schließlich, es werde gut sein, wenn Hauptmann sich bald über den Fall äußere. Denn die deutsche   Oeffentlichkeit habe wohl ein Interesse zu erfahren, worin jene ,, Verbundenheit" zwischen Gerhart Hauptmann   und Franz Werfel   bestehen solle

Kleine Erinnerungen

Eine Arbeit, mit der ich beschäftigt bin, zwingt mich zur Lektüre älterer deutscher Zeitungen. Da stoße ich mit­unter auf interessante Tatsachen, von denen ich heute zwei mitteilen will.

Pg. Hanns Heinz Ewers  , der Pornograf aus Gewinnsucht und der Homer des Zuhälters Horst Wessel  , hielt sich bei Ausbruch des Weltkrieges in Neuyork auf. Von dort richtete er an die B. Z. am Mittag" eine in der Nummer vom 11. September 1914 abgedruckte Zuschrift, worin er über die toll antideutsche" Berichterstattung der amerikanischen  Presse klagte. Aber in dem von ihm gezeichneten trüben Bilde fehlte es nicht an einem Lichtpunkt. Sehr erfreu­lich," sagte Ewers, ist dieser Massenhege gegenüber der mannhafte Kampf der deutsch  - amerikanischen Presse, vor allem des Neuyork Herald" und der Neuyorker Staats­zeitung" Ihnen tritt die jüdische Presse, so die Wahr­heit" und der Vorwärts", sehr energisch zur Seite. Ueber­haupt ist es eine Freude zu sehen, wie sich ganz allgemein das jüdische Element und Neuyork hat weit über eine Million Juden sehr kräftig für die Deutschen   einsett, wie sich überall werktätige Hilfsbereitschaft zeigt."

ララー

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Der junge Goethe hat bei einem Besuch im Hause van Vater Gieim in Halberstadt   die kühne These vertreten, daß Dankbarkeit das größte aller Laster sei. Diesen Satz haben die Nazis anscheinend zur Richtschnur ihres Handelns ge­macht. Wer hätte sie für so helesen und so tugendhaft ge­halten! Dagegen versteht sich ihre Dummheit von selbst, die sie nicht erkennen läßt, daß sie möglicherweise in naher Zukunft eine Quittung präsentiert erhalten werden, bei deren Anblick ihnen Hören und Sehen vergehen wird.

Herr Goebbels   hat vor einiger Zeit in der gleichgeschalteten Karl Schurz   Gesellschaft das Andenken des großen Deutschamerikaners gefeiert, von dem sie ihren Namen hat. Nun finde ich in der Freisinnigen Zeitung" vom 18. Dezember 1888 einen Bericht über eine Rede, die der damals in Deutschland   zu Besuch befindliche Karl Schurz  auf deutschem Boden gehalten hat. Darin heißt es:

" Ich habe jüngst Gelegenheit gehabt, den Ursprung, den Charakter und die Ziele der antisemitischen Be­wegung zu beobachten, einer Bewegung, deren dunkler Geist des Fanatismus und der Verfolgung die menschliche Erleuchtung des 19. Jahrhunderts beschimpft, welche sich an das dümmste Vorurteil und die blödeste Leidenschaft wendet, deren Ungerechtigkeit jeden Sinn für Billigkeit und Anstand beleidigt und deren Feigheit die Verachtung des sich selbst achtenden Menschen hervorrufen sollten." Schade, daß Herr Goebbels   das wohltuende Gefühl der Scham nicht kennt. Sonst würde er jetzt, wo er erfahren hat, wie Karl Schurz   über den Antisemitismus gedacht hat und mithin über ihn geurteilt haben würde, seine Festrede zurücknehmen. Das wäre die schönste posthume Ehrung für Karl Schurz  . Denn so erhehend es ist, von Menschen einer Kategorie gepriesen zu werden, zu der Herr Goebbels  nicht gehört, noch mehr bedeutet es, von Leuten seines Gr. Schlages nicht geachtet zu werden.

Ich habe oft einen bitteren Schmerz empfunden bei dem Gedanken an das deutsche   Volk, das so achtbar im einzelnen und so miserabel im ganzen ist.

Goethe an den Historiker Luden in Jena  , Nov. 1813,