Donnerstag, den 20. Dezember 1934
Zwei wichtige Bücher
In einigen Ländern Europas spekuliert man wieder einmal in monarchistischen Restaurationsplänen. Der Boden für dynastische Lebensbilder ist locker und die entsprechende Literatur läßt nicht auf sich warten. Ein Lehrmeister der Staatsstreichler aller Art bleibt Napoleon III , jener nicht ganz legitime Neffe des großen Korsen und späterer politischer Routinier, der für sein Jahrhundert dargetan hat, wie ein Thronanwärter auf verfassungsmäßige Weise an die Spitze einer schwachen Republik gelangen und dann die Verfassung abwürgen kann, Alfred Neumann hat diese Tragödie in einem umfangreichen. graziösen und lebendigen Roman eingefangen.(..Neuer Casar". Verlag Allert de Lange , Amsterdam .) Dieser falsche Napoleon ist, ehe er in Fahrt kommt, allezeit mehr ein Geschobener. denn ein Schiebender gewesen. Im Anfang war es die Mutter, die ihn schob Die große dynastische Spekulation umgibt ihn schon in der Kinderstube, der ererbte große Name treibt den dekadenten Zauderer vorwärts. Das andere besorgen die Trommler und Spekulanten des bonapartistischen Lagers. Ein paar anfängerhafte Putsche gehen daneben, ein paar Jahre Festungshaft und Emigration machen ihn zum Märtyrer. Er lernt warten, bis sich die bourbonische Konkurabgewirtschaftet hat: er entwickelt sich zum Meister der Programmlosigkeit; er lernt allen alles versprechen, ein Virtuose der Unbestimmtheit, denn das Jahrhundert hat sich noch immer nicht klar für Republik oder Monarchie entschieden. Exerzierte nicht des Neffen gewaltiges Vobild, das große N, auch mit allen möglichen Parolen und Regimes?
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Das Klischee ist gegeben. Napoleons Stern strahlt noch immer magisch in die Zukunft. kleinbürgerliche Massen hungern nach Wiederholung des Wunders, die Kraft der Napoleonlegende umgoldet den kleinen Neffen. Kokotten, Hasardeure, Entgleiste und Hochstapler bereiten seinen Weg. So wird er im Sturmjahr 1848 Abgeordneter der zweiten Republik , dann Präsident, dann Kaiser durch eine mit allen Mitteln des Terrors, der Lüge und der Bestechung
durchgepeitschten Volksabstimmung". Aber das Geseg, nach dem er angetreten, muß ihn weitertreiben. Er hat den Liberalismus durch scheinliberale Tyrannis vergiftet und damit sein Jahrhundert verderben helfen; sein Name ist mit
der Eroberungslegende verbunden, er muß, geschoben und wie immer nur halb freiwillig, in unglückseligen Krieg hineintreiben und dabei Land und Thron verlieren. Das Volk aber wird damit vom Wunderglauben endgültig genesen und sich den neuen Realitäten zuwenden.
Diesem falschen Cäsar in der Zeitfolge benachbart ist Leopold 11, der ungeliebte Belgierkönig aus dem Hause Sachsen- Coburg . hinter dessen Kulissen gründlich und nicht ohne Liebe tür sein Objekt ein neues Buch von Ludwig Bauer leuchtet( Querido- Verlag). Dieser Leopold gehört zu den gekrönten Geschäftemachern großen Stils. Als er 1865 den Thron besteigt, ist die Macht unter den Klassen seines Landes einigermaßen verteilt, aber die fremden Erdteile noch nicht ganz. Er hat daheim in der Politik nicht viel zu besorgen, also wirft sich seine Vitalität auf das Kongogebiet und erlistet sich einen eigenen Sklavenstaat. Es gehört zu den grimmigsten Tragödien, wie Stanleys ungeheuerliche Forscherleistungen von diesem König zu Blut und Gold gemacht werden. Bauer rollt den Kongskandal erschütternd auf dieses traurige Kapitel der entsetzlichsten Kolonialgreuel, welche die moderne Geschichte kennt. Bis das Parlament dem Skandal ein Ende machte, den Kongo
der Diktatur des einzelnen und seiner vichischen Prätorianer entriß, und die Kolonie annektierte. Wobei der Monarch noch immer an die hundert Millionen profitierte. Wie er im Verdienen war, gierig und seelisch unbeteiligt. so war er im Genuß. und so wurde er zum Symbol seiner Zeit and des er nicht mit: den reichen Belgiens . Nur eines machte Schwindel von der allgemeinen, sozialen Klassenversöhnung. Das war diesem gewandten Zyniker zu dumm, das überließ er den unechten Napoleonen und falschen Propheten.
Dirigentendämmerung
Ein Nachwort zum Fall Furtwängler
Nach dem Kirchenkampf der Musikkampf, nach der Reichsbischofskrise die Staatskapellmeisterkrise. Es ist für Abwechslung gesorgt im dritten Reich", wenn auch die Maulkorbpresse des Herrn Dr. Goebbels nichts davon profitieren darf. Was ist geschehen? Daß die Musik, die ,, deutscheste aller Künste", wie es so schön in allen Festreden heißt, ihren Exodus aus Deutschland angetreten hat, ist seit dem Veggang Bruno Walters, Klemperers, Buschs und eines
We
B. Br.
licher Werte und Sympathien die sind nach fast zweijähriger Kultur-. Kunst- und Geistessterben im ,, dritten Reich" ist auch dieser Fall Furtwängler interessant.
Eine Warnung für jene Geistigen" Europas , die noch immer mit dem Gespenst des Faschismus liebäugeln. Wer es als geistiger Mensch berührt, stirbt daran! P. W.
Dutzend anderer berühmter Dirigenten. nach der Ver- Liebenswürdigkeiten
Er hat
treibung Schönbergs, Schrekers, Weills, Eiẞlers und eines Dugend anderer Neutöner aus dem ,, dritten Reich" Tatsache und Weltmeinung. Nun folgen die letzten Reste einstiger Pracht mit mehr oder minder glänzendem Abgang nach. Hindemith war die letzte lebendige Kraft der ,, Neuen Musik ", die noch in Deutschland geblieben war. keine Kompromisse mit den neuen Machthabern geschlossen, sondern er verhielt sich still, blieb im Hintergrund, ein Fremdkörper im neudeutschen Musik gestammel. Jegt hat ihn der Bannstrahl erreicht. Die Gründe sind nebensächlich, sie wurden gefunden. Und diesem Herzog fiel der Mantel nach: Der letzte Rest künstlerischen Anstandes trieb dem Herrn Staatsrat und Operndirektor, Philharmoniedirektor und Staatskapellmeister Dr. Furtwängler das Blut in den Kopf. Er protestierte öffentlich gegen den Fall Hinde mith , sein Abschied wurde unvermeidlich.
lassen.
In diesen Blättern ist oft und ausführlich über den..Fall Furtwängler " berichtet worden. Es wäre verkehrt, sich durch die Ereignisse der letzten Wochen den Blick verwirren zu Daß Furtwängler diesem oder jenem jüdischen Kollegen gegenüber sich anständig benommen hat, ist und bleibt nebensächlich. Wichtig für die Beurteilung seines Charakters und seiner künstlerischen Persönlichkeit bleibt es, daß er es nicht verschmäht hat, auf dem Rücken des ,, dritten Reiches" zum Gipfel seiner Karriere aufzusteigen. Er hat sich von einem Manne wie Göring zum Staatsrat, Operndirektor und Musikkammerpräsidenten lassen, er hat 12 Jahre dem ,, dritten Reich" kulturpolitische Auslandspropaganda geliefert, er hat alle Wohltaten der braunen Machthaber dankhar angenommen. Er hat nicht verschmäht, zur Rettung seiner ersten ,, braunen" Auslandstournee einen verlogenen Briefwechsel mit Goebbels veröffentlichen zu lassen, der ihm in der Fremde ein moralisches Alibi sichern sollte, während er in Berlin den offiziellen Nazikurs kräftig mitmachte.
ernennen
Für die Deutschen , die heute innerhalb und außerhalb des Vaterlandes den Freiheitskampf gegen die braune Diktatur und Geistesknebelung führen, besteht nach alledem kein Grund, Herrn Furtwängler Lorbeeren zu winden ob seines Abgangs aus braunen Diensten, von dem nicht einmal feststeht, wie weit er freiwillig oder unfreiwillig geschah. Und was für Herrn Furtwängler gilt, das trifft in noch höherem Maße für die musikalische Wetterfahne Erich Kleiber zu, dessen Sympathieerklärung für Furtwängler ein reiner wahrscheinlich verabredeter Propagandatrick für eventuelle Auslandsfahrten war. Kleiber wird wie so oft schon bleiben, und Furtwängler wird durch Karrieremacher wie SO hohlen Routinier und Clemens Krause. das Wiener Protektionskind Richard Straußens, ersetzt werden. Der Betrieb der großen deutschen Opernhäuser, der großen deutschen Orchester geht mit Leerlauf, in zweiter Besetzung" weiter, Nicht wegen persön
einen
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Wenn du gescheit bist, machst du der Tochter eines einflußreichen Mannes den Hof; dann kannst du ruhig dumm sein und bringst es doch zu etwas.
In unserer Zeit muß man sich beeilen, einen Dummkopf auszulachen, morgen ist er vielleicht schon ein sehr einflußreicher Mann.
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Man muß seine Vorzüge zu verbergen wissen, um vorwärts zu kommen.
Wie tief sinken viele, um zu steigen!
Die Moden haben mit den Gespenstern das eine gemeinsam, daß sie keinen Gebrauch machen von ihrem Tode und immer wiederkehren.
Ich bin nicht mehr ganz jung. trage dies aber den Jüngeren
nicht nach.
Ich bin immer sehr höflich gegen die Dummköpfe: ich lebe ja von ihnen!
Obwohl er ein großer Geizhals war, unterhielt sich doch alles auf seine Kosten.
Die Kälber sind so anmutige, kluge Geschöpfe: erst durch den schlechten Umgang mit den Menschen werden sie zu Ochsen.
Unrecht Gut gedeiht nicht- wenn es von Unfähigen verwaltet wird.
Man muß in homöopathischen Dosen verleumden, wenn man wirken will.
Mein Humor ist das Vermächtnis meiner Mutter wäre sie doch ohne Testament gestorben!
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Ereignisse und Geschichten
Kriminalpolitische Algebra
Man soll die Dinge nennen, wie sie heißen, Betrug und Raub und Menschenmord und Brand, das sind nach Adam Riese vier Verbrechen. Daran ist nicht zu rütteln und zu reißen. In jedem mittelkultivierten Land wird die Justiz die Freveltaten rächen, wird laut Gesetz ein strenges Urteil sprechen und es vollziehn mit strafgewohnter Hand.
In manchen wenig kultivierten Ländern geschiehts, daß einer tausendfach betrügt und tausendfach in fremdem Blute badet. Dann muß man schleunigst die Gesege ändern. indem man neu zum alten Texte fügt: Ein Mord ist Mord. Doch der ist gottbegnadet, der ihrer tausend auf sein Konto ladet. Er tötet wie ein Großer. Das genügt.
Man stellt den Großen nicht vor die Gerichte. Man stellt ihn vielmehr über die Nation,
wo ihn kein Recht und kein Gesez mehr bindet, Mun stockt ihn auf und klittert ihm Geschichte und preist ihn als des Volkes größten Sohn. Woraut er seine Untertanen schindet.
bis einst das Volk die rechte Gleichung findet: Mord ist gleich Mord! Der Henker wartet schon. Derrote Hans.
Applaus Applaus für Claire
h. b. Aus Berlin wird uns berichtet:
Gegenwärtig tritt in der Berliner Scala mit großem Erfolge unsere alte Freundin Claire Waldoff auf, die sich trotz ihrer herrlichen Kodderschnauze noch immer in Deutschland halten konnte. Und immer noch sind es die lieben alten Gesänge, in denen sie in ihrer kessen Art Berliner Volkshumor vorträgt, die das Publikum begeistern. Unter ihren Gesängen befindet sich der vom Hermann. Da bei der Claire Waldoffschen Kunst eigentlich alles am Vortrag liegt, war es dem Berliner nicht schwer. dieses Couplet auf Lamettahermann zu beziehen. Das führte dazu, daß dieses Couplet allabendlich in der Berliner Scala stürmisch als Zugabe verlangt wurde. Claire Waldoff überwandt ihre Bedenken, trug das Gewünschte vor und ernetete stürmische Erfolge mit diesem alten Schmarren. Das ermutigte sie dazu, noch ein wenig mehr aus ihrer Reserve herauszugehen und deutlicher zu werden.
Sie fügte der bekannten Stelle:
,, Hermann heeßt er",
eine neue zu:
..Durch die Lüfte manchmal chaist er, In Preußen ist er Jeegameester. Hermann heeẞt er!"
Die Berliner tobten vor Freude. Auch der ReichspostenJägermeister Göring erfuhr davon. Er wollte der Sache persönlich ein Ende bereiten und fuhr kurz entschlossen eities Abends, mitten im Programm, zur Scala:
..Bitte eine Loge!"
Der Kassiererin schwant nichts gutes. Sie gibt nach hinten Bescheid, Göring sei gekommen, wohl von wegen dem Couplet. Claire Waldoff pubbert das Herz ein bißchen. Sie beschließt, den Hermann heute nicht zu singen. Inzwischen bemerkt das Publikum den Lamettahermann. Eine Welle unfaßbaren Humors( Im Gestaposinne unfaẞbar! D. Red.) ergießt sich in Lachkaskaden in das Theater.
Claire Waldoff erscheint. Stürmischer, ostentativer Applaus. Sie singt Zu Ehren des ,, hohen Gastes" sind es alte Soldatenlieder, die sie von sich gibt. Ihre Nummer ist vorbei. Applaus. Sie verschwindet. Applaus. Neue Verbeugung. Applaus. Stürmischer Applaus.
Schließlich fragt sie, ein wenig unsicher: ,, Na, Kinder, wat soll ick denn nun noch singen?"
Das Publikum tost von der Galerie bis zum Parkett:„ Das Lied vom Hermann! Das Lied vom Hermann!"
Die gute Claire erschrickt ehrlich und versucht zu brezen. Es glückt ihr nicht. Sie muß ihn singen, den Refrain vom starken Hermann.
Hermann Göring aber sitzt in seiner Loge und kneift die Lippen aufeinander. So hatte er sich sein Erscheinen hies nicht vorgestellt. Das Lied ist vorbei. Wohl se hat ein Berliner Theater einen derartigen Orkan an Beifall vernommen. Als Göring merkte, daß er eine komische Rolle spielte applaudierte er mit. Schließlich das beste, was er tun konnte.
Eine stark besuchte Kundgebung zugunsten der jüdischen National- und Universitätsbibliothek in Jerusalem hielt im großen Saal des Logenhauses in Berlin die Gesellschaft der Freunde der Jerusalem - Bebliothek ab. Als Vorsitzender der Gesellschaft, die sich mit dem Verband zur Förderung der Universität Jerusalem vereinigt hat, gab Professor Dr. Otto Warburg einen Abriß der Geschichte der Bibliothek und oh, Universität in Jerusalem . Rabbiner Dr. Leo Baeck , der Präsident der Reichsvertretung der deutschen Juden, drückte seine Verbundenheit mit der jüdischen Universität und Bibliothek aus. Dr. Alfred Klee versprach namens der Bibliothek der Gemeinde weitere tatkräftige Hilfe für die National- Bibliothek. Professor Dr. Ismar Elbogen hob die völkerverbindende Mission der Bibliothek hervor. Sie sei heute mit ihren fast 300 000 Bänden die größte Bibliothek des Vorderen Orients. Professor Dr. David Baumgardt umriß die Bedeutung der Jüdischen Universität, die heute über 1000 Hörer zähle. Als Bevollmächtigter der Jüdischen National- und Universitäts- Bibliothek gab Ernst Hoffmann bekannt, daß weit über 20 000 Bände in diesem Jahre in Deutschland gesammelt und zum größten Teil nach Jerusalem befördert wurden. Damit hat das deutsche Judentum den größten Anteil an dem Sammlungsergebnis dieses Jahres.
Wie die Hose unter den Kleidungsstücken, ist unter den Tagesfragen die soziale Frage die unaussprechliche, die man in guter Gesellschaft möglichst nicht bei ihrem wahren Namen nennen soll.
( Uebertragen von Hans B. Wagenseil.)
überall
Aus einer Leipziger Zeitung:„ Am 20. November findet auf Grund der Erfahrungen der letzten Verdunklungs. übung eine Verdunklung im Stadtteil Leipzig- Großzschocher statt..." Sonet nirgenda?