3O*(lnterQaltung<0eilape. 1931.Der Gehalten des andern.Es ist peinlich,«inen Brief zu erhalten,der«inen nicht aus den ersten Blick den Absender erraten läßt. Diese- unangenehmeGefühl hatte ich, als man mir den Briefbrachte, von dem hier die Rede sein soll.Mißtrauisch öffnete ich den Umschlag.Die Unterschrift brachte mir einen alten Re-gimentSkameraoen, den ich seit Kriegsausbruch nicht mehr gesehen hatte, in Erinne-rund.„Ich hab« in Erfahrung gebracht",so schrieb er mir,„daß Du Verwaltungskommissär im Bezirk Altwied geworden bist. InDeinen Amtsbereich fällt daher das Städtchen Grumbach. Nun gibt es in Grumbachein deutsches Gericht, dessen Vorsteher eingewisser Bröhmer sein soll. Dieser Bröh-mer war während des Weltkrieges Kommandant des Kriegsgefangenenlagers vonMärchen... Er war ein mitleidsloserBursche... Wenn Du Gelegenheit findest,so gehe nicht zu zart mit ihm um!"Der Brief mißfiel mir in doppelterWeise: ich liebe eS nicht, persönliche Rachezu nehmen, und noch weniger gebe ich michals Werkzeug für die Rachegelüste eines andern her. Schließlich hätte mein Freundauch wissen müssen, daß mir mein Amt diePflicht völliger Unparteilichkeit auferlegte,die durch nichts, am wenigsten durch Gehässigkeiten, beeinflußt werden kann.In diesem Sinne antwortete ich demBriefschreiber. Der aber teilte mir grauenvolle Einzelheiten mit, wie sehr die französischen Kriegsgefangenen und wie sehr erselbst unter dem Schreckensregime desMajors zu leiden gehabt hatten. Er batmich dringend, ihn doch wenigstens wissenzu lassen, ob Bröhmer noch lebe und wie esihm ergehe... Es war mir gar nicht inden Sinn gekommen, mich zu vergewissern,ob der ehemalige Kriegsgefangenenschindervon Märchen jetzt zu jenen deutschen Beamten gehörte, die meiner Kontrolle unterworfen waren. Ich brauchte nur ein Verzeichnis aufzuschlagen. Da las ich:„Bröhmer(Albert, Gustav), geboren am 1. Oktober1862 in München. Seit 1. März 1913 Präsident des Amtsgerichts Grumbach. Landwehrmajor. Seit 1. Mai 1922 im Ruhestand. Hat sich nach Grumbach zurückgezogen."Es bestand also kein Zweifel darüber,daß mein Freund gut unterrichtet war. AberDon 9icm Dtocatoto.Bröhmer war nicht mehr Beamter. Ichkonnte ihm also nichts anhaben und wollteauch gar nicht irgendetwas gegen ihn unter-nehmen. Die Gedanke kam mir jedoch, ihnzu besuchen. Was sollte mich daran hindern, diesen Bröhmer einmal aufzusuchen?Konnte ich ihm nicht, ohne meine Amtsbefugnisse zu überschreiten, zu verstehengeben, daß ich sein Verhalten im Weltkriegeverdamme? Warum sollte ich nicht seineMuße stören und ihm klarmachen, daß erden grausamsten und feigsten aller Kriege geführt hatte, den gegen völlig wehrlose Menschen, die niemandem mehr gefährlichwaren? Vielleicht würde mein Besuch dasGewissen in ihm wachrufen? Vielleichtwürde ich ihn zu unablässiger Reue über seinVerhalten verurteilen können? Ich fühlte,daß ich mit der Vollbringung einer solchenAufgaoe gewissermaßen einer Verpflichtunggegenüber allen meinen Kameraden, die derKrieg härter als mich mitgenommen hatte,nachkommen würde.Ich benützte eine Rundreise in meinemBezirk, um mich in Grumbach aufzuhalten.„Herr Bröhmer?"„Jawohl, der wohnt hier. Es ist nichtnotwendig, daß ich Sie anmelde. Er freutsich immer so, wenn er Besuch bekommt..."Die Frau, die mir geöffnet hatte, ließmich in ein dürftiges Speisezimmer eintreten, in dem es muffig roch.„Sie bekommen Besuch!" schrie die Megäre. Ein Greis,in einen Lehnstuhl gebettet, versuchte einmattes Lächeln. Seine geröteten Augenblickten mich fragend an. Ich nannte meinen Namen.„Sie müssen laut sprechen.Er ist fast taub!" sagte das Frauenzimmer.„Sie müssen ihm ins Ohr sprechen, wenner sie verstehen soll." Um mir zu zeigen,wie man es machen müsse, neigte sie sich zudem Kranken und rief, indem sie die Händezum Trichter formte, in sein Ohr:„Dasist der französische Delegierte... HabenSie verstanden?..." Froh über die Abwechslung herrschte sie den gebrechlichenalten Mann wie ein unartiges Kind an undrief:„Dieser Herr wird Ihnen Gesellschaftleisten. Ich brauche also heute nicht mehrzu kommen. Ich gebe Ihnen gleiche Ihrewarme Milch..."Die Haushälterin entfernte sich undachtete nicht der protestierenden Geste de-älten Mannes.„Sehen Sie sich," sagte sienoch, indem sie mir einen Stuhl heranrückt«,ohne sich darum zu kümmern, daß mir di«körperliche Nähe des Kranken widerstrebte.„Sie müssen ihn kräftig schütteln, wenn Siewollen, daß er wach bleibt. Er schläft ohnehin den ganzen Tag! Nun, er hat aberauch einen schrecklichen Schlaganfall gehabt.Seine Frau und seine vier Kinder sind beider Eisenbahnkatastrophe von Altenbrombachumgekommen. Seither hat er sich nicht wieder aufgerafft. Und früher war er so kräftig. Jetzt kümmern sich nur noch die Aerzteum ihn."Ich hatte Lust, auszustehen und Wegzugehen... Wie hätte ich auch den Mut aufbringen können, diesem menschlichen Wracknoch Vorwürfe zu machen! Aus einem unerbittlichen Feinde hatten Zeit und Schicksal einen Krüppel geformt, der nur nochdes Mitleids würdig war. Bon diesemkraftlosen, taubstummen und fast gelähmtenGreise konnte ich keine Rechenschaft fordern.Ihm konnte ich seine früheren Verfehlungen, an die er sich vielleicht gar nicht mehrerinnerte, nicht mehr zu schmachvollem Bewußtsein bringen. Dieser Bröhmer? Dawar nichts mehr als der Schatten seinerselbst, der Schatten des Kriegsgefangenenschinders, der er einst gewesen war. Seinemitleidslose Person lebt« nur noch in derErinnerung feiner Opfer fgrt. Dieser Bröhmer glich einem Gespenst, das für sich verlangte, was es andern nie gewährt hatte:Gnade. Wohl machten es die verkniffenenGesichtszüge des Alten glaubhaft, daß ereinst mitleidslos gegen Greise, Frauen undKinder gewütet hatte. Verdiente er nundas Wohlwollen, das er jenen verweigerthatte?„Ja! Trotz alledem!" dacht« ich.„Bin ich denn sicher, daß er alle mir geschilderten Untaten auch wirklich begangen hat?Ich verurteilte ihn, ohne ihm den Prozeßzu machen... Auf eine vage Zeugenschaft,auf bloße Vermutungen hin... Und inwelchem Zustande sitzt er mir jetzt gegen:über!"Mit stumpfsinnigem Gesichtsausdruckblickte mich der Greis an und überhäufteseine Bedienerin mit einer zerbrochenenStimme mit Borwürfen. Aus seinem zahnlosen Munde, der dereinst Verwünschungen,Drohungen und grausame Befehle ausge-