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alle Dinge, die man den Kindern verbirgt. Wenn sie dürfte, würde sie einmal fragen, wer einen fo in die Welt feht, damit man hungert.

Ohne ihrem Mann etwas zu sagen, ist auch sie sei zu   flein; um das zu verstehen, müsse, dante macht ihr Freude. In ganz fleme Stücke fie auf die Suche gegangen. Aber die arbeits- man erwachsen sein. Die Mutter weiß sicher wird sie ihr Brot schneiden und langsam eines lose Zeit laftet noch mehr auf Frauen als auf nach dem andern essen. Sie wird mit ihrem Männern. Auf der gleichen Flur mit ihnen Brot spielen. wohnen einige unglüdliche Frauen, die fie nachts schluchzen hört. Eine hat sie getroffen, die stand regungslos an einer Straßenede; eine andere ist gestorben; eine dritte verschwunden.

Zum Glück hat sie einen braven Mann, der nicht trinkt. Hätten tote Zeiten sie nicht um alles gebracht, sie hätien ihr gutes Auskommen. Ihr Kredit ist erschöpft: sie hat Schulden beim Bäder, beim Spezereihändler und bei der Ge­müsefrau, sie wagt sich kaum mehr an den Laden vorbei. Nachmittags war sie bei ihrer Schwester, um sich einen Franken zu leihen; aber auch dort hat sie ein solches Elend ange troffen, daß sie in Tränen ausgebrochen war, und wortlos hatten beide lange miteinander geweint. Beim Fortgehen hatte sie noch ver­sprochen, ein Stück Brot zu bringen, falls ihr Mann mit etwas heimkomme.

Der Mann kommt nicht heim. Es regnet, sie flüchtet unter die Tür; große Tropfen flat schen vor ihren Füßen auf den Boden, und nasser Staub durchdringt ihr dünnes Kleid. Manchmal wird sie ungeduldig, dann wagt sie sich trotz des Regens auf die Straße und geht bis zur nächsten Ede, ob sie ihn nicht sicht. Und wenn sie zurückommt, ist sie bis auf die Haut durchnäßt; sie streicht sich mit den Hän­den über die Haare, um sich abzutrocknen; und wieder faßt sie sich, von turzen Fieberstößen geschüttelt, in Geduld.

Der Strom der Borübergehenden drückt sie an die Wand. Sie macht sich ganz klein, um niemand im Wege zu sein. Männer guden ihr voll ins Gesicht; manchmal streift heißer Atem ihren Hals. Das ganze zveideutige   Paris, die schmuzige Straße, das grelle Licht und das Wagengerassel scheint sie paden und in den Rinustein werfen zu wollen. Sie hat Hunger, sie gehört aller Welt. Gegenüber ist ein Bäder, da fällt ihr das Kind ein, das oben schläft.

Und kommt endlich der Mann heim wie ein Verbrecher drückt er sich an den Häusern entlang, so stürzt sie ihm entgegen und sieht ihn angstvoll an.

"

Nun?" stantmelt sie.

Er antwortet nicht und seuft den Kopf. Dann geht sie ihm voraus die Treppe hinauf, blaß wie eine Tote.

IV.

Droben die Kleine schläft nicht. Sie ist aufgewacht. Und beim Kerzenstümpfchen, das auf einer Tischede jämmerlich stirbt, denkt fie träumerisch nach. Und irgend etwas Entsetz­liches und Herzzerreißendes überfliegt das Ge­Sicht dieses siebenjährigen Kindes mit den wel Ten und ernsten Zügen einer reifen Frau.

Sie sitzt auf dem Rand eines Koffers. der ihr als Lagerstätte dient. Ihre nackten Beine hängen schlotternd herab; ihre franken Buppen­hände halten die Feßen, die sie bedecken, über der Brust zusammen. Sie fühlt ein Brennen, ein Feuer, das sie löschen möchte. Sie denkt

nach.

Sie hat niemals Spielzeug gehabt. Sie fann nicht zur Schule gehen, weil sie feine Stie­fel hat. Als sie kleiner war, hat ihre Mutter sie im Sonneusdein spazieren geführt: daran erinnert sie sich. Aber das liegt lange zurüd. Sie mußten umziehen; und seither, scheint ihr, hat ein Eishauch durchs Haus geweht. Seit dem fühlt sie sich nicht mehr glücklich; sie hat immer Hunger gehabt. Etwas Unergründliches ist es, darin sie verjinft, ohne es begreifen zu fönnen. Hungert denn alle Welt? Sie hat sich doch solche Mühe gegeben, sich daran zu gewöh­nen, und sie hat es nicht gefonnt, Sie glaubt,

Und dann ist es so häßlich bei ihnen! Sie betrachtet das Fenster, dagegen der Matratzen­bezug auf und niederschlägt, die fahlen Wände, die zerstoßenen Möbel, dieses ganze Dachstuben­elend, darüber der Mangel an Arbeit Verzweif­Iung ergießt. Sie glaubt in ihrer Unschuld, von warmen Bimmern mit schönen, glänzenden Dingen geträumt zu haben; sie schließt die Augen, um alles wieder zu sehen, und zwischen ihren dünngewordenen Lidern wird das Kerzen­licht zu einem mächtigen goldenen Schein, in den sie eingehen möchte. Aber der Wind weht, und vom Fenster zieht es so falt herein, daß ein Hustenanfall jie packt. Ihre Augen sind boller Tränen.

Die Mutter ist heimgelehrt, der Vater schließt die Tür. Ganz überrascht betrachtet die Kleine ihrer beiden Hände. Und da keines etwas sagt, so sagt sie nach einer Weile in halb singendem Ton:

Ich habe Hunger, ich habe Hunger!" Der Vater stützt in einer dunklen Ecke sei­nen Kopf in die Hände; er rührt sich nicht. Heftiges Schluchzen schüttelt lautlos ſeine Schultern. Die Mutter zwingt ihre Tränen hinunter und legt die Kleine wieder hin. Sie bedeckt sie mit allen Fehen, die sie auftreiben kann, und sagt, sie solle brav sein und schlafen. Aber das Kind, dessen Zähne vor Kälte auf­einander schlagen und das den Brand in seiner Brust stärker fühlt, faßt sich plöglich ein Herz. Ließ man sie früher allein, jo hatte sie Sie schlingt die Arme um der Mutter Hals und Angst; jetzt macht sie sich nichts mehr daraus. j fragt ganz leise: Da man seit gestern nichts gegessen hat, glaubt ,, Sag, Mutter, warum haben wir denn fie, ihre Mutter hole Brot. Und dieser Ge- Hunger?"

Bei den Juden in der Wildnis.

Von Albert   Londres.

Der   französische Journalist Albert  Londres, rasch bekannt geworden durch ein aufsehenerregendes Buch über die fran zösische Fremdenlegion und durch mehrere andere glänzende Reportagen, hat unter dem Titel, u de wohin? Ein Reise­bericht aus den Ghettos der Welt" ein neues Buch geschrieben, das soeben im Phaidon- Berlag,   Wien, erschie­nen ist und das die Frucht einer Reise durch jene Gebiete   Europas, Aegyptens und Ba­lästinas bildet, in denen die Juden in grö ßeren Mengen und oft unter den erbärm lichsten Verhältnissen zusammenleben. Von  Prag ausgehend hat Albert   Londres Kar­pathorußland, Kischinew,   Lemberg,   Krakau,  Warschau,   Wilna,   Lodz,   Aegypten und Pa lästina besucht, war beim Wunderrabbi im Dorfe Gura- Kalvarya, in der Rabbiner fabrit" in Nalewki, in den Elendsquartie­ren tarpathorussischer Juden, im Lemberger Ghetto, an der Klagemauer in   Jerusalem und er hat   Judäa, Samaria, Ober- und Nieder- Galiläa durchforscht. Was er ge­sehen, erlebt und in einzigartiger Weise in diesem Buche der Deffentlichkeit unterbrei­tet, es bildet ein Kulturdokument hervor ragenden Ranges. Londres Buch ist eine Reportage, die wie selten eine andere tiefste Eindrücke hinterläßt. Im Nachstehenden geben wir mit Erlaubnis des Verlages einige Stellen aus einem der Kapitel des Buches wieder:

Ja, wo bin ich denn? Politisch gesehen in der   Tschechoslowakei. Die Friedensverträge sind da, um es zu bestätigen. Ganz in der Nähe ist die ungarische, die xumänische, die polnische Grenze. Hier ist die Gegend der großen Wälder an der Südseite der Karpathen, um es mit einem Wort zusagen: das Marmaroschgebirge.

Geistig gesehen liegt das Land viel ferner und keinesfalls im 20. Jahrhundert. Es hat eben erst die Zeiten der Genesis hinter sich. Wir befinden uns hier in der zweiten Periode der Welt, der Zeit des Exodus.

Ich reise jest mit zwei Juden, die keinen Bart und keine Schläfenlocken tragen. Der eine stammt aus   Wilna in   Polen, der andere aus   Siebenbürgen. Aber beide sind nichechu Staatsbürger. Sie haben es jo gewollt. Die  Tschechoslowakei ist das einzige Land, das den

Juden das Recht zuerkennt, Juden zu sein, so­wie die Slowaken   Slowaken und die Tschechen Tschechen sind. Sie haben Anteil ant Leben des Staates, ohne daß man sie zwingt, sich zu affi­milieren.

Der eine meiner Freunde heißt Ben, der andere Salomon. Sie sind keine orthodoxen Juden. Das heißt, wenn sie auch allen Respett vor den heiligen Büchern haben, so leben sie doch nicht nach ihren Vorschriften, sie haben mehr Vertrauen zur   Balfour- Teklaration als in die Ankunft des Messias, und der Rabbiner er­scheint ihnen feineswegs als die unbestreitbare Verkörperung des göttlichen Gedankens. Nach der Auffassung Roms wären sie Freidenker, nach der   Jerusalems find sie Zionisten. Keines­falls sind sie Israeliten, Jude zu sein bedeutet für sie die Zugehörigkeit zu einem Bolke, nicht zu einer Religion. Ben und Salomon haben mich in Munkacs aufgegabelt. Sie sind beide entsehlich gescheit. Außerdem sprechen sie rus­fisch, tschechisch, polnisch, rumänisch, ungarisch, englisch, italienisch, spanisch,   deutsch, französisch, jiddisch und hebräisch. Ihre Bekanntschaft habe ich in meinem Gasthause in Munkacs gemacht.

Ich bin gekommen, um die Juden zu be suchen", sagte ich. Ih heiße Ben", sagte der Rothaarige, und mein Freund heißt Salomon." Also Schalom." Sie erwiderten: Schalom." Ich wollte wissen, warum sie teine Schläfen­loden trugen. Sie fragten mich, ob die Juden in   Frankreich damit herumliefen. Ich fragte sie nach ihrem Berufe. Ben war Einpeitscher bei den Wahlen und Salomon Bersicherungsagent. Offenbar versicherte er die Jungfräulichkeit der Bärte und die Kaninchenschwänze der Hüte! Sie stemmten ihre Ellbogen auf den Tisch und fag­ten mir, alles, was ich in Munkacs gesehen hätte, sei gar nichts. Ich müßte die Berge durchstreifen, wo die Juden sich in der Wildnis eingenistet haben. Dort würde ich sehen, was Elend ist. Das wäre ein Land des Hungers.

Am nächsten Morgen erklomm ein Auto das Marmaroschgebirge; Ben und Salomon saßen neben mir. Bon   Munkacs waren wir nach Batu gekommen, von Batn nach Hust Jetzt ging es nach. nach.

Wohin fahren wir, Ben?"

Zuerst nach Buchtina." Der Winter hatte das Land versteinert. Alles wurde vom Schnee erstidt. Die vereiste Straße fnirschte unter den

lrg.

at sartorial: