Der Gildensozialismus

Von Otto Bauer

II.( Schluß)

Der Gildensozialismus begründet seine praktischen Vor­Schläge und seine theoretischen Zukunftsbilder mit Ge= bantengängen, die aus der spezifisch angelsächsischen Spielart der Demokratie hervorgegangen sind. Die Demo­tratie hat sich in England ganz anders entwickelt als auf dem Festlande. Hier hat der Absolutismus   schon die feudalen Frei­heiten" der Individuen, der Städte, der Provinzen zerstört und bas ganze Land seinem bureaukratischen Herrschaftsapparat unter­worfen. Die bürgerliche Revolution hat diesen Prozeß nicht rück­gängig gemacht, sondern abgeschlossen. Nach der bürgerlichen Re­volution blieb das Land von der bureaukratischen Maschinerie, die von einer Zentralgewalt aus geleitet wird, beherrscht, und ge­ändert hat sich nur das, daß diese Zentralgewalt selbst nicht mehr von einem Selbstherrscher, sondern von einem aus allgemeinen Bolfswahlen hervorgegangenen Parlament eingesezt und kon­trolliert wird. Anders in England. Dort ist der Absolutismus  nie zur Entwidlung gekommen. Er hat den bureaukratischen Herr­fchaftsapparat nie zu schaffen vermocht. Die feudalen Freiheiten" der Individuen, der Städte, der Grafschaften sind nie zerstört wor den. Die bürgerliche Revolution bestand hier vielmehr darin, daß die Freiheiten", die die Barone, die Gentry  , das städtische Patri­ziat den Plantagenets, den Tudors, den Stuarts   abgerungen hatten, zum Erbe zuerst der Bourgeoisie, schließlich der Volks­gesamtheit wurden. An die Stelle der, torrupten Pfarreiversamm­lungen, geldschachernden Stadträte, wutschnaubenden Armenver­walter in den Städten und der tatsächlich erblichen Friedensrichter auf dem Lande"( Mary, Der Bürgerkrieg in Frankreich  . Berlin  1891. Geite 48) fegten die Reformgejeze von 1882, 1888 und 1894 die demokratischen Selbstverwaltungslörper in der Grafschaft, im Distrikt. im Kirchspiel. Dant ihrem grundverschiedenen Ursprung trägt die englische Demokratie ganz andere Charakterzüge als die tontinentale. In Frankreich   wählt die Voltsgesamtheit das Parla­ment, aus ihm wird die Regierung gebildet und diese Regierung verwaltet und beherrscht das ganze Land durch ihre Bureaukratie; der einzelne Bürger und die einzelne Bevölkerungsgruppe fönnen den Verwaltungsapparat nur mittelbar, nur durch die Teilnahme an der Parlamentswahl beeinflussen. In England dagegen ver­waltet das Bolt seine Angelegenheiten im Kirchspiel, im Distrikt, in der Grafschaft selbst; es übt in den lokalen Selbstverwaltungs­förpern sein selfgovernment", seine Selbstregierung aus. Staat ist nur der oberste Selbstverwaltungstörper, der die dem ganzen Lande gemeinsamen Angelegenheiten verwalten soll, aber die Selbstregierung der einzelnen Grafschaften, Distrikte, Kirch­spiele nicht beengen darf. Das selfgovernment" der lokalen Ver­bände innerhalb des Staates ist die Grundlage der englischen Demokratie.

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Der Gildensozialismus überträgt nun die Grundsäge der eng­lischen Demokratie vom politischen auf das wirtschaftliche Gebiet. Bedeutet die politische Demokratie, daß sich das Volk nicht mehr pon einem König oder einer Oligarchie regieren läßt, sondern sich selbst regiert, so solle es sich nunmehr auch im Wirtschaftsleben nicht mehr von einer Kapitalistentlasse regieren lassen, sondern sich selbst regieren; Sozialismus ist nichts anderes als industrial democracy", wirtschaftliche Demokratie. Und die Demokratie wird nun in englischem Sinne verstanden: wie die politische Demokratie auf dem selfgovernment", der Selbstregierung der Städte und Grafschaften beruht, so müsse die wirtschaftliche Demokratie auf das selfgovernment" der einzelnen Industriezweige und Betriebe ge­gründet werden. Wie die englische Demokratie die Regierung der Totalen Verwaltungssprengel durch von der Zentralregierung ent­sendete Beamte ablehnt, müsse sie den Staatssozialismus ablehnen, der die wirtschaftlichen Verwaltungsbereiche der Leitung von der Zentralregierung bestellter Beamten überträgt. Wie die politische Macht des Staates begrenzt ist durch das Recht der lokalen Ver waltungssprengel auf die Selbstregierung, müsse auch die wirt­schaftliche Macht des Staates durch das Recht der einzelnen In­In dustriezweige auf Selbstregierung beschränkt werden. So definiert der Gildensozialismus das Ziel als industrial selfgovernment", wirtschaftliche Selbstregierung.

Indem sich der Gildensozialismus die Prinzipien der englischen Demokratie aneignet, um sie auf das wirtschaftliche Gebiet anzu­wenden, nimmt er auch den ganzen altenglischen Individualismus in sich auf, der diesen Prinzipien zugrunde liegt. Er tritt als der Verfechter der Freiheit des einzelnen Arbeiters und der einzelnen Arbeitergruppe gegen die Staatsgewalt auf. Er lehnt den Staatssozialismus ah, weil die Verwaltung der Industrie durch ben Staat nichts anderes bedeuten würde als die Unterwerfung der einzelnen Arbeitergruppen unter eine allmächtige Bureau­ratie. Er erklärt, daß die Freiheit der Arbeiter mit der Leitung der Industrie durch vom Staat bestellte Beamte, und seien es selbst Beamte eines von der Arbeiterklasse beherrschten Staates, ebenso wenig vereinbar sei wie mit der Beherrschung der Industrie durch tapitalistische Unternehmer. Er geht schließlich so weit, im Inter­eise der Freiheit der einzelnen Arbeiter und der einzelnen Arbeiter­gruppen die Teilung der Kontrolle der Industrie zwischen Arbei­tern und Unternehmern der alleinigen Beherrschung der Industrie durch den Staat vorzuziehen.( Cole, a. a. D., Seite 93.) Und gerade aus diesem Gedanken folgt seine Stellung zur sozialen Revolution. Der Staatssozialismus  , der die Leitung der Betriebe einer Fabritsbureaukratie, die von der vorgeschrittenen, den Staat beherrschenden Minorität der Arbeiter bestellt wird, überträgt, der von den Arbeitern ,, widerspruchslose Unterordnung"( Lenin  ) unter die vom Staat bestellten Leiter des Produktionsprozesses fordert und sie zur Durchsehung dieser Unterordnung mit weitgehenden Disziplinarrechten"( Troyty) ausstattet, ein solcher Staatssozialis mus ist gewiß immer möglich, welche Entwicklungsstufe immer die Arbeiterschaft erreicht hat; ein Sozialismus dagegen, der auf die Jelfgoverning workshop", auf den sich selbst regierenden Betrieb aufgebaut werden soll, ist erst dann möglich, wenn die Arbeiterklasse durch allmähliche Ausdehnung ihrer Kontrolle über die Industrie die intellektuellen und moralischen Fähigkeiten, die die industrielle Selbstregierung voraussetzt, schon erworben hat. Die Arbeiterschaft muß vorerst ihre gewerkschaftlichen und politischen Kampfmittel benügen, um ihre Kontrolle über die Industrie immer weiter aus­zudehnen, ehe sie in der Praxis dieser Kontrolle selbst fähig wird, nicht nur die Kapitalisten aus der Industrie hinauszuschleudern, sondern auch die Verwaltung der Industrie selbst zu übernehmen. Der Bolschewismus ist im Schoße der russischen Sozialdemokratie aus einem Streit um die Organisationsform der sozialdemokra= tischen Partei entstanden. Die Menschewifi wollten die Partei als eine Föderation demokratischer, von den Arbeitern selbst gebildeter Organisationen tonstituieren. Die Bolschewiti fürch teten, der Eintritt der ungeschulten, nur auf ihre nächsten wirtschaftlichen Interessen bedachten Arbeiter in die Organi­sation tonne den revolutionären Charakter der Partei schwächen. Nur fleine Komitees von professionellen Revolutionären  ", von einem Zentralfomitee einheitlich geführt, sollten nach Lenins  Organisationsplänen von 1902 und 1903 die Partei bilden und sich die von ihnen zu organisierenden und zu führenden Arbeiter unter­ordnen. Der Gedanke der Diktatur der revolutionären Organi­fation über die Massenbewegung" hat die Bolschewiti von den Menschewiki geschieden.( Jegorow, Saroschdenje polititschestich partij. In Obschtschestwennoje dwischenje w Roffii", ed. Martow, Petersburg 1909, 1. Band, Seite 406.) Diese Dittatur einer straff zentralisierten revolutionären Organisation über die Massen­bewegung verwirklichen die Bolschewitt heute nicht mehr im engen Maßstab einer kleinen Parteiorganisation, sondern in dem ganzen gewaltigen Rußland  . Die Diftatur einer straff zentralisierten, von den professionellen Revolutionären  " beherrschten Staatsgewalt über alle Arbeitskräfte und Arb tsstätten das ist der Bolsche­wismus. Es ist der Sozialismus der Ideologen der Arbeiter­bewegung, denen die Massenbewegung des Proletariats nur das Instrument zur Verwirklichung eines sozialen Jdeals ist und die, wie sie selbst im revolusionären Kampf fein Opfer gescheut haben, ihr Jdeal verwirklichen vollen um jeden Preis, auch wenn die Masse zuerst durch eine Wüste des Hungers, der Kälte, der Staats­tnechtschaft, des Krieges hindurchgehen muß, um das gelobte Land zu erreichen.

Der Gedanke der industriellen Demokratie dagegen ist erwachsen aus der kämpfenden Arbeitermasse selbst. Wenn die Arbeiterschaft in der Praxis des gewerkschaftlichen Kampfes ihren Einfluß auf

die Industrie stetig verstärft, erwächst in ihr der Gedante, ihre Kontrolle über die Industrie stetig so weit auszudehnen, bis sie selbst die Industrie ganz übernehmen kann. Und wie die Arbeiter­schaft ihre gewerkschaftliche Attion verstärkt durch die politische Aftion der Partei, zu der sich die einzelnen Gewerkschaften, unter voller Wahrung ihrer Autonomie in industriellen Dingen, vereinigen, so denkt sie auch den sozialen Staat der Zukunft als eine Föderation der autonomen ,, nationalen Gilden". Das ist nicht der Sozialismus von Jdeologen, denen das Proletariat nur das Instrument der Idee ist, sondern der Sozialismus der Arbeiterbewegung selbst, die sich in der und aus der täglichen Praris des Kampfes in der Wertstätte ihre eigene Idee formt.

Der russische Bolschewismus und der englische   Gildensozialismus sind, obwohl sich ihre Gedankengänge in der Polemit gegen den parlamentarischen Staatssozialismus   einander oft nähern, die Schroffsten Gegensäge innerhalb der sozialistischen   Gedankenwelt. Das russische Broletariat ist erwachsen im revolutionären Kampfe gegen den 3arismus. Es hat an die Stelle der allmächtigen Staatsgewalt des 3arismus eine ebenso allmächtige Staatsgewalt des Proletariats gesezt. Sein Sozialismus stellt an die Stelle der schrankenlosen Herrschaft des Kapitalisten im Betrieb die ebenso schrankenlose Herrschaft des Beauftragten der Staatsge­walt, die selbst nichts anderes mehr ist als das Herrschaftsinstru­ment der revolutionären Vorhut der Arbeiterklasse. Das eng­lische Proletariat dagegen hat sich entwickelt auf dem Boden einer Demokratie, die argwöhnisch die Freiheit des Individuums, die Selbstregierung der Gemeinden gegen jeden Eingriff der Staats­gewalt, und sei es eine noch so demokratisch gebildete Staatsgc­walt, hütet; sein Sozialismus ist daher vor allem darauf be­dacht, die Freiheit der Arbeiter, die Selbstregierung der einzelnen Industriezweige gegen jeden Uebergriff der Staatsgewalt, und sei diese Staatsgewalt selbst von der Arbeiterklasse beherrscht, zu schützen. Und in diesem Gegensah drückt sich nicht etwa nur die nationale Verschiedenheit der russischen und der englischen Ar­beiterklasse aus, die der Niederschlag ihrer verschiedenen Geschichte, ihrer verschiedenen Traditionen, der Verschiedenheit der ihnen überkommenen Jdeologen ist. In diesem Gegensah erkennen wir vielmehr die Verschiedenheit der Dentweise des Proletariats über­haupt auf verschiedenen Stufen seiner Entwicklung.

Die ursprünglichste und stärkste Triebtraft des Sozialismus ist die Auflehnung gegen die wirtschaftliche Ungleichheit. Der Ar­beiter vergleicht seine Not mit dem Reichtum des Kapitalisten. Er will die Macht an sich reißen, um das Geraubte zu rauben", um die wirtschaftliche Gleichheit aller erzwingen zu fönnen. Es hat des Despotismus der absoluten Monarchien vom 15. bis zum 18. Jahrhundert bedurft, um die tausendfältigen Verschiedenheiten der Rechte" und Freiheiten" der feudalen Epoche auszugleichen, die allgemeine Rechtsgleichheit zunächst in der gleichen Rechtlosig­teit aller gegenüber der Willtür der absoluten Fürstengewalt her­zustellen und dadurch erst die Basis zu schaffen, auf der die bürger­liche Revolution die Gleichheit aller vor dem Geseze verwirf­lichen konnte. So bedarf es auch einer despotischen Diktatur des Proletariats, um in furzer Frist, mit rücksichtslos geführten Schlä­gen gegen alle Widerstände der Begünstigten die Vermögen und Einkommen aller einander anzugleichen. Der urwüchsige Gleich­heitskommunismus führt zur Diktatur des Proletariats.

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Wo aber das Proletariat schon durch eine längere Periode poli­tischer Demokratie und proletarischer Organisationen hindurch­gegangen ist, dort sproßt der Sozialismus aus einer anderen Wur­zel. Die Hebung der Volksbildung, die rege Teilnahme an poli­tischen und gewerkschaftlichen Kämpfen, die Selbsterziehung in der Schuhgesehen und den gewerkschaftlichen Kämpfen verdantt, lassen den Arbeitssklaven der Vergangenheit allmählich zur freien, selbst­bewußten Persönlichkeit wachsen. Und in dem Maße, als der Ar­beiter zur Persönlichkeit wird, wird sein Freiheitsdrang zur stärk­Sten Triebkraft seines Dentens und Handelns. Es ist nicht nur und nicht so sehr die Ungleichheit des Reichtums, find nicht die Arbeiterorganisation, die reichere Muße, die die Arbeiterschaft den Gegensäge in der Verteilung, die die Arbeiter zum Kollektivismus führen, als der Protest gegen die Willkür des individuellen Unter­nehmertums, als das Jdeal der freien Werkstätte( Levine, The sich der freie Mann im Staate nicht mehr einem König unter­labour movement in France  . London   1912. Seite 187)." Wie werfen will, den nur der Zufall des Erbrechts zu seinem Herrn ge­macht hat, auch wenn die Macht dieses Königs durch eine Verfas­sung eng begrenzt ist, so will er auch im Betrieb nicht mehr einem Herrn von des Erbrechts Gnaden unterworfen sein, auch wenn die hat. Der Freiheitsdrang führt jetzt den zur Persönlichkeit gereis­Gewerkschaft die Macht dieses Herrn schon wesentlich eingeschränkt fen Arbeiter zum Sozialismus. Aber solcher Freiheitsdrang fin­det seine Befriedigung nicht in einem despotischen Sozialismus, der eine allmächtige Zentralgewalt, und sei es auch eine von der Arbeiterklasse eingesetzte Zentralgewalt, zur Herrin jedes Betrie= bes, jedes Arbeiters macht, sondern nur in einer Gesellschaftsord­nung, die jedem Individuum eine breite Sphäre freier Betäti­gung, jeder Arbeitsgemeinschaft breite Selbstverwaltung sichert. Aus dem Freiheitsdrang eines hochentwidelten Proletariats er­wächst das Jdeal der industriellen Demokratie, des industrial self­government.

Die Entwicklung des Kapitalismus selbst fördert diese Wand­lung des proletarischen Jdeals. Im Zeitalter des Manchester­liberalismus stellte das Proletariat der tapitalistischen Anarchie den Sozialismus als das Prinzip planmäßiger staatlicher Ord­nung des Wirtschaftslebens entgegen. Im Zeitalter des Staats­tapitalismus tritt der Sozialismus der Allmacht der Staatsge­walt, der bureaukratischen Beherrschung des Wirtschaftslebens entgegen als das Prinzip des industrial selfgovernment. Wie einer denkt, daran fann man sehen, was ihm fehlt", sagt Goethe.

Auch in Rußland   hat das Proletariat die nationalisierte In­dustrie anfänglich in Formen zu organisieren versucht, die den Dr­ganisationsplänen des englischen Gildensozialismus nicht unähn lich waren. Dort aber, wo ein noch rückständiges, faum erst orga­nisiertes, in feinerlei Kontrolle über die Industrie geübtes Pro­letariat mit einemmal die ganze Industrie verwalten sollte, ist das nicht gelungen. Die Anarchie in den Betrieben hat die Sow­jetmacht auf die Bahn des Staatssozialismus   in seiner schärfstaus­geprägten, brutalsten Form gezwungen. In Mittel- und West­besser organisiertes Proletariat vor; hier sind die Bedingungen europa   findet die soziale Revolution ein fulturell höher stehendes, für die unmittelbare Mitwirtung der Arbeiter an der Wertung. der Industrie ungleich günstiger. Trotzdem würde die Diktatur des Proletariats auch hier nicht zum industrial selfgovernment führen. Denn die Dittatur des Proletariats würde hier in der Intelligenz, im Kleinbürgertum, in der Bauernschaft auf viel stärkere Widerstände stoßen und sie hätte unvergleichlich schwie­rigere wirtschaftliche Krisen zu überwinden, unvergleichlich größere wirtschaftliche Probleme zu lösen als in Rußland  . Sie müßte sich hier noch viel mehr als bort auf die Gewalt stützen. Sie müßte sich hier noch schneller als dort einen gewaltigen Herrschaftsappa­cat schaffen, um die Sabotage der widerstrebenden Klassen zu brechen und die notwendige berufliche Umschichtung der Bolts: massen zu erzwingen. Die ungeheure Aufgabe, die hier eine Pro­letarierdiktatur zu bewältigen hätte, könnte das wird unsere Analyse des ökonomischen Sozialisierungsprozesses im nächsten Ba­ragraphen noch anschaulicher machen nicht anders gelöst werden als mittels der terroristischen Gewaltherrschaft einer zen­tralen Staatsgewalt über alle Arbeitskräfte und alle Arbeits­stätten. Diktatorische Gewaltherrschaft und selfgovernment find unvereinbare Gegensäge. Die Diftatur des Proletariats wird un­vermeidlich zur Dittatur über breite Massen des Proletariats, die die Herrschaft ihrer Klasse mit dem Verzicht auf die Freiheit der Individuen und der Gruppen innerhalb der Klasse erkaufen müssen. Keine Klasse freiheitshungriger Persönlichkeiten, fein hochentwickeltes Proletariat wird durch längere Zeit die Diktatur in Staat und Werkstätte ertragen; die Diftatur fann im moder­nen Industriestaat bestenfalls nur furze Uebergangsphase sein. Zum Aufbau des industrial selfgovernment führt nicht die Ditta­tur, sondern nur planmäßige Ausdehnung der Demokratie aus dem politischen Bereich auf den der Volkswirtschaft.

Die Siedlung" des Freikorps  Hier ist Arbeit für den Entwaffnungskommissar Die Breslauer ,, Boltswacht" berichtet:

Das Freikorps   Kühme ist Ende Mai aufgelöst worden. Ein Teil der Mannschaften ist in die Reichswehr übernommen worden, der größte Teil, etwa 300 Mann, ging mit Hauptmann Kühme zur Siedlung Jägerheide bei Celle   in Hannover.  ( Mit Geneh­migung des Landwirtschaftsministeriums.)

An Material wurde folgendes mitgenommen: Die umfangreiche Bataillonstammer, zirka 80 Pferde mit Geschirr, 40 Wagen, 5 bis 6 Lastautos mit Lebensmitteln, davon allein über 100 Zentner Büchsenfleisch, 6 Lastautos, 2 Personenautos, nach meiner Schäzung zirka 400 Gewehre, 5 bis 6 Maschinengewehre, 2 leichte und ein schwerer Minenwerfer, außerdem eine ungeheure Menge Munis tion, so daß der Transport von Eilenburg   nach Ehlershausen   rund 80 Wagen ausschließlich Personenwagen start war.

Von der Siedlung fommen andauernd Leute zurüd, die dort herausgeworfen werden. Auf Befragen erklären diese, daß sie genau so wie die früheren Bataillonsangehörigen von den 90 000 Mart Kantinengeldern, richtiger Geldern aus dunklen Fonds, teinen Pfennig erhalten haben. Weiter, daß Munition und Waffen in der zweiten oder dritten Nacht in der Umgegend vers graben sind, einige Laustautos sich in Magdeburg   befinden und dort als Fuhrgemeinschaft Geld verdienen. Ein Personenauto ist in cinem Strohschober untergebracht und vor den Augen der Mitwelt verschwunden. Es wird von seiten der Offiziere beab­sichtigt, sämtliche Leute bis auf 70 herauszudrängen, um so eine Versorgungsanstalt für die 7 oder 8 Herren einzurichten. Die Leute werden auch jetzt noch angehalten, ihre früheren Vorgesezten in militärischer Form zu grüßen. Jeden Sonntag wird Appell abgehalten. Von einer Genossenschaft tann feine Rede sein, da man diese erst für nächstes Jahr, Oktober, vorgesehen hat. Die Mannschaften der Batterie, die am meisten Zuneigung für die Siedlung hatten, sind samt und sonders weggegangen, auch fast alle verheirateten Leute, die größtenteils Kapitulanten waren, haben gesehen, daß dort feine Zukunft für sie vorhanden ist.

Höchstwahrscheinlich hat die Ententekommission irgendwelche Nachricht bekommen, denn vor etwa 3 Wochen erschien ein eng­lischer Major in Begleitung des Hauptmanns Stulpnagel vom VI. A.-K. als Dolmetscher und forschte eingehend nach dem Vers bleib der Waffen des Freiforps. Der Offizier der Abwidlungs­Stelle, Oberleutnant von Berlin  , ließ sich vor diesem Herrn nicht bliden, ein Feldwebel mußte die Auskunft geben, die jedoch nichts­sagend war, da die Fragen von dem Hauptmann jo gestellt wurs den, daß so leicht nichts von oben genanntem Waffenlager an die Deffentlichkeit gelangen konnte."

Von der Sozialisierungskommision

Ueber den Stand der Arbeiten der Sozialisierungskommission wird mitgeteilt: Die Kommission hat unmittelbar nach ihrer unterm 16. April 1920 erfolgten Neueinberufung mit ihren Ar­gliedern auf dreiundzwanzig Mitglieder ergänzt. Mit den fach beiten begonnen. Sie hat sich durch Hinzutritt von fünfzehn Mits lichen Arbeiten hat die Kommission sofort begonnen und hat in Unterausschüssen und Plenum in den verflossenen drei Monaten 32mal getagt. Die zunächst in Angriff genommene Erörterung der Kohlenfrage ist abgeschlossen. Der schriftliche Bericht dar über wird im Laufe des August der Regierung mitgeteilt und dann sofort der Deffentlichkeit übergeben werden( Verlag Hans Robert Engelmann- Berlin  ). Die Beratungen über die 3ement­wirtschaft gehen ihrem Abschluß entgegen, die über die Kali­wirtschaft stehen vor ihrem Beginn.

Die Arbeiten über die Sozialisierung durch Uebernahme ein­zelner Wirtschaftszweige seitens der Gemeinden( Kommu nalisierung) waren Mitte Juli abgeschlossen. Die inzwischen ge­faßten Beschlüsse des Städtetages haben eine Wiederaufnahme der Beratungen über einzelne Puntte nötig gemacht. Der ab schließende Bericht, der mit als Unterlage für das in Aussicht tehende Gesetz dienen soll, wird nunmehr im September erscheinen. Die weiteren Arbeiten der Sozialisierungskommission sollen ins­besondere auch der Eisenwirtschaft, dem Wohnungss wesen, sowie der besseren gemeinwirtschaftlichen Ausgestaltung der bereits durch Verstaatlichung dem Privattapital entzogenen Betriebszweige( Reichseisenbahn, Reichspost) gewidmet sein.

Die Sozialisierungskommission arbeitet schon über anderts halb Jahre, ohne daß eine Regierung- weder die frühere Wolfspartei sich veranlaßt fühlt, das Ergebnis jener Be mit den Rechtssozialisten, noch die jezige mit der Deutschen

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ratungen in die Praxis umzusehen. Worte haben wir nun­mehr schon genug gehört, nun wollen wir auch endlich Taten in der Sozialisierung sehen!

Ein verdächtiger Professor

Herr Professor Dr. Dammer hat in einem Artikel in der Boss fischen Zeitung" dargelegt, daß wir eine Roggenmißernte haben werden. Ausgehend von pflanzenbiologischen Betrachtungen tommt er zu dem Schluß, daß die verspätete Aussaat im Vorjahre, die durch die Landarbeiterstreits verursacht worden sei, die Schuld an diesem Unglück trage. Die gesamte Rechtspresse drudt selbstverständlich Herrn Dammer nach und knüpft an die Aussage dieses unverdächtigen Zeugen" ihre gehässigen Bemer fungen gegen die Landarbeiter.

Zunächst: Ein Professor, der sich um die Streits der Arbeiter und ihre Folgen fümmert, ist nie unverdächtig. Sodann find die Siobsposten über die Mißernte reichlich übertrieben und der 3wed dieser Uebertreibungen ist allzu durchsichtig. Vielleicht ist das dem Professor nicht klar geworden. Wenn aber wirklich alles wahr ist, was Herr Dammer schreibt, und wenn die Streifs der Landarbeiter wirklich Schuld an dem Unheil sind, wer ist denn schuld an den Landarbeiterstreits? Doch nur die Großgrunde besizer die auch nach dem November 1918 noch glaubten sie tönnten weiterhin aus der Not des Voltes Millionen schöpfen und dabei die Landarbeiter nach wie vor nach Gefallen ausbeuten. Sie mußten eines anderen belehrt werden, und da ihre Schädel hart find, mußte das stärkste Mittel, der Streif, Anwendung finden. Von 100 Streitbewegungen haben 99 bestimmt ihre Ursache in der Unzulänglichkeit und dem Herrentum der Unternehmer.

Das mag sich der Herr Professor einprägen für den Fall, daß er wieder einmal zu diesem Thema das Wort ergreifen sollte.

Hölz wird nicht ausgeliefert Von der deutschen Regierung war von der Tschechoslowakei   die Auslieferung des dorthin entflohenen Kommunistenführers Mar Hölz, der im Anschluß an die Kapptage im Vogtlande eine Räte herrschaft errichtet hatte, verlangt worden. Wie der Rechtsbeistand Hölz', Rechtsanwalt Rogowitsch in Celle  , nunmehr mitteilt, ist ihm aus Prag   die Mitteilung geworden, daß die tschechoslowatische Regierung die Auslieferung abgelehnt habe. Ihr Stand­punkt sei, Hölz habe sich keine gemeinen Verbrechen, sondern nur politische Bergehen zufchulden kommen lassen, die eine Aus­lieferung nicht rechtfertigen würden.

Das Entwaffnungsgeseh ist am 11. August in Kraft getreten. Die Diensträume des Reichskommissars befinden sich im Reichs ministerium des Innern, Berlin  , Königsplay 6. Der Entwurf der Ausführungsbestimmungen wird in den nächsten Tagen mit den beteiligten Reichsressorts und sodann mit Vertretern der Länder erörtert werden. Er bedarf alsdann der Zustimmung des vom Reichstag gewählten Beirats.

Folgenschwere Explosion in Norwegen  . Nach einem Tele. gramm aus Christiania   ereignete sich in Drammen   in einem Eisenwarengeschäft eine furchtbare Explosion. Die Mauern stürz ten zusammen und das Gebäude geriet in Brand. Auch das bes nachbarte Grand Hotel wurde schwer beschädigt. Man vermutet, daß 8 Personen getötet sind. 15 Verwundete wurden ins Krantens haus gebracht. Bisher wurden zwei Leichen gefunden.