Bir besitzen noch keine Statistik darüber, bis zu welchem Alter| herab Kinder Selbstmord begangen haben. Daß Sieben- und Acht­fährige fich das Leben nahmen, find feine Seltenheiten, die Mehr­zahl steht in dem Alter von 12 bis 14 Jahren. Es fällt an der Selbstmordstatistik für den Freistaat Preußen auf, daß im Ver­hältnis zur Gesamtzahl der Selbstmorde in den Städten die jugendliche Selbstmordziffer höher ist als auf dem Lande. Im Jahre 1924 tamen in Schleswig- Holstein auf 486 Selbstmörder ein Jugendlicher, in Ostpreußen auf 384 ein Jugendlicher, in Sachsen hingegen auf 90 Selbstmörder schon ein Jugendlicher, in Westfalen auf 150 und in Berlin auf 216 Selbstmörder ein Jugendlicher. So zeigt uns die Statistik auch die Selbstverständlichkeit, daß der Lebensstandard einen wesentlichen Einfluß auf die Frage überhaupt ausübt.

Für uns ergibt sich aus allem die Notwendigkeit, auf dem ein­geschlagenen Wege zur selbständigen Erziehung nicht nur fortzu schreiten, sondern daran noch auszubauen und zu formen, wo es nötig ist. Wir buchen den Rückgang der jugendlichen Selbstmorde als einen Erfolg unserer Aufklärungsarbeit, aber nicht geben wir uns mit ihm zufrieden. Wir werden weiter arbeiten, und wir geben uns dabei der Hoffnung hin, daß die Zeit nicht mehr fern sein wird, wo tein Jugendlicher mehr aus Verzweiflung Selbstmord begeht.

Das Martyrium einer Familie.

Bor wenigen Wochen hatte fich der 18jährige Werner 2. vor dem Landgericht II wegen Tötung feines Vaters zu verantworten. Dieser, ein vielleicht geiftestranter, jedenfalls ungemein roher und gewalttätiger Mensch, hatte immer wieder Frau und Sohn be­fchimpft, mißhandelt und bedroht. Der Sohn erfchoß schließlich den Bater in der Notwehr.

Mit dem Freispruch des 18jährigen Werner L. ist der Fall für das Gericht erledigt. Höchstens, daß der Staatsanwalt noch Revision einlegt. Nicht aber erledigt ist er für den Vatermörder" und für die Deffentlichkeit. Jener wird noch lange Jahre bedürfen, um seine Tat innerlich zu überwinden: er wird sie als eine Bürde im Unter­bewußtsein mit sich schleppen. Diese aber schuldet sich felbft Rechen­schaft über die Ursachen der Tat: sie bedeutet einen Ausschnitt aus dem sozialen Leben. Der Fall geht dem Arbeiterleser und noch mehr der Leserin insbesondere nahe, weil er sich in einem Arbeiter haushalt zugetragen hat: Der Getötete war Schlosser von Be­ruf, Kommunist in seiner Parteizugehörigkeit, der Knabe war welt­lich erzogen worden und hatte die Jugendweihe erhalten.

Der Fall der Familie L. stellt zum Glück ein Sonderereignis bar. Der Getötete war anscheinend ein Paranoiker, litt an Ber­folgungswahn und war hemmungslos brutalen Gelüften ausge­liefert. Was aber in dieser Familie in so abscheulich traffer Form vor sich ging, geschieht in gemilderter Form auch in vielen anderen: die Frau aufs ärgste mißhandelt und beschimpft, der Sohn brutal gezüchtigt, der Arbeitslohn verspielt, verfoffen und verludert, das Busammenleben eine Hölle. Man glaubt durch die Zugehörigkeit zu einer politischen Partei seinen bürgerlichen und menschlichen Pflichten Genüge zu tun und pergißt, daß Unmenschlichkeit der Be­handlung der Nächsten den Grundanschauungen der menschlichsten aller Lehren, des Sozialismus ins Gesicht schlägt.

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Der Unfriede im Hause des L. mag tiefere Wurzeln gehabt haben, Wurzeln, die im Gerichtssaal nicht bloßgelegt wurden: fie werden letzten Endes in den Geschlechtsbeziehungen beider Ehe­leute zu suchen und zu finden sein. Etwas muß da nicht gestimmt haben: die Gatten werden nicht zu einander gepaßt haben. Anstatt aber auseinander zu gehen die Frau war ja auch ohnehin auf ihren eigenen Berdienst angewiefen blieben sie durch Ehetetten aneinander geschmiedet und zerstörten ihr eigenes Leben, wie das Innenleben ihrer Kinder. Der Mann suchte Befriedigung bei anderen Frauen, selbst bei Dirnen und gemein wie er war, be­Schimpfte er in Gegenwart der Kinder die Frau aufs unftätigste: " Du Sau, du Hure, ich zahle beffer zwei Marf einer Dirne, als Ich fann an deiner Stelle zwanzig Weiber haben."

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Was mußte da der Sohn vom Vater denken! Wie sehr mußte. er da inneren Halt bei der Mutter suchen, sich um so zärtlicher, weich und empfind am, wie in den Anschmiegungen fie gerade war, an fie flammern. Das brachte aber den Vater außer sich: er wurde eifersüchtig auf die Liebe des Sohnes zur Mutter; er fürchtete, daß diese im heranwachsenden Knaben einen Beschützer finden würde, wurde haßerfüllt gegen ihn und machte diesen Gefühlen in finns lofen, unmotivierten Züchtigungen des Sohnes Luft. Da packte den Sohn auch Haß gegen den Bater was Wunder, daß er nach der Tat auf dem Bolizeirevier es aussprach: an dem Leben des Baters lag mir wegen dessen Benehmen nichts mehr." Der Vater aber ging selbst so weit, die lauteren Beziehungen zwischen Mutter und Sohn zu verdächtigen.

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Die Atmosphäre im Hause wurde verbrechensschwanger, als die Frau die Ehescheidungsflage einbrachte. Jeden Augenblic fonnte nun ein Unglück passieren. Der Vater war bereits mehr als einmal gegen die Mutter mit Dolch und Eisenstange tätlich geworden. Nur das Dazwischentreten Dritter hatte das Schlimmste verhütet. Auch hatte er schon bei einem Auftritt den Sohn mit dem Hammer nieder­geschlagen. Ausdrücke wie Genicbrechen, Garausmachen, Erschleßen waren im Munde des L. etwas Alltägliches, Dolch, Beil, Revolver und Eisenstangen waren seine Waffen. Er tobte ununterbrochen. Er wollte die Frau zwingen wegzuziehen und ihm den ganzen Haushalt zu lassen. Der Untermieter war bereits gezogen, weil er die Frau in Schuh genommen hatte und nun um sein Leben fürchtete. Der Hauswirt hatte die Räumungsklage gegen 2, eingereicht: die

Hausbewohner fühlten fich bedroht. Sie waren auch des ewigen ,, Krachs" überdrüssig. Alle sahen ein Unglüd nahen. Wie es ver. hüten? Die einzige Rettung glaubte man in der natürlichen Bes schützerin des Bürgers und der Hüterin der Ordnung, der Polizei finden zu können.

Ja, die Polizei! Der Untermieter überlief täglich das Polizei­revier. Die Nachbarinnen, Mutter und Sohn baten hier um Schug. Die Grünen" erschienen in den letzten Tagen fast täglich in der Wohnung des L., weil dessen Frau, Sohn und Untermieter sich nicht mehr allein nach Hause trauten. Dem Wüterich wurde auch ein Revolver abgenommen. Trotzdem hieß es auf dem Revier: wir können nichts machen, erst muß ein Unglüd geschehen. Die Frau stellte den Antrag, daß der Mann auf seinen Geistes­zustand untersucht werde. Der Arzt ließ auf sich warten. Sie bat das Wohnungsamt, ihr eine andere Wohnung zuzuweisen. Die Antwort lautete, erst müffe die Räumungsflage entschieden werden. So hatten alle Instanzen versagt. Das Unglück mußte geschehen. Die Schuld trifft weder Polizei noch Fürsorgeamt. Die Ber. antwortung trägt der Gesezgeber. Es fehlt den Behörden die ge­jegliche Handhabe, um einschreiten zu können. So entsteht die For derung: ein Geseß zustandezubringen, daß die Möglichkeit bietet, gegen gemeingefährliche Verbrecher und Krante vorzugehen, gegen fie, bevor ein Verbrechen geschieht, Schuhhaft zu verhängen, fie durch dauernde Verwahrung unschädlich zu machen. Es gilt ferner die weiten Schichten der Bevölkerung durch Plakate und An­fündigungen im weitesten Maße anzuregen, daß fie in allen Lebens­nöten, insbesondere aber in Fällen, wo die Verhältnisse ähnlich wie im Hause L. liegen, sich an die Bezirksfürsorgeämter um Hilfe wenden. Es gilt schließlich, die Wohnungsämter anzu weisen, daß sie in solchen Fällen außer jeder Reihenfolge Zimmer anzuweisen haben.

Der 18jährige Werner L. hat menschliche Richter gefunden. Es hätte auch anders kommen können. Geschworene Richter hätten ihn in 10 Minuten freigesprochen, die drei Berufsrichter und die sechs Schöffen brauchten dazu eine ganze Stunde. Im Beratungszimmer mag wohl ein schwerer Kampf um den Angeklagten getobt haben. Wäre das Urteil anders ausgefallen, es gäbe außer dem getöteten Bater noch zwei zerstörte Leben. Werner L. und seine Mutter fönnen von Glück sprechen. Irgendwo außerhalb Berlins und viel leicht auch in Berlin selbst hätten sich unter Umständen Richter ges funden, die gegiaubt hätten, einen Batermord" nicht ungestraft laffen zu müssen.

Unrecht hatte aber der Vorsitzende, als er glaubte andeuten zu müssen, daß die weltliche Erziehung des Jungen mit die Schuld am Ereignis trage. Es genügt ja ein kurzer Blick auf die Kriminalstatistik in katholischen Gegenden zu werfen, um sich davon zu überzeugen, daß gerade hier die Verbrechen gegen die Person besonders hohe Zahlen aufweisen. Und eben in den Kreisen der Bevölkerung, die sich vor den äußeren Formen der kirchlichen Religion zur inneren weltlichen Religiosität durchgerungen haben, kommen die Verbrechen gegen die Person nur äußerst selten por. Leo Rosenthal .

Die Mode und wir.

Der nachstehende Aufsak mit feinen ungewohnten Gedanken. gängen wird sicher bei einem Teil unserer Leserinnen Widerspruch erregen. Immerhin halten wir ihn für wertvoll genug, ihn zur Diskussion zu stellen, ohne mit seinem Inhalt in allen Buntten übereinzustimmen. ( Die Ned.)

Wenn Gegner der bürgerlichen Welt, also Proletarier, Menschen der Jugendbewegung, linke Intellektuelle, das Gebiet der Mode, des Bubenkopfes, der furzen Röde, der Jazz- Band und des Charlestons in ihren Diskussionen oder Randbemerkungen berühren, dann ähneln ihre Auffassungen in diesen Punkten oft mit Haaresschärfe den Meinungen der Bürger, der Nationalisten, der Kirche. Da wird sie je nach Temperament der einzelnen bewigelt. bespottet, verflucht und verdammt, sie, die internationale Mode, die Jugend in Seidenflor und Shimmyllängen, Pullover und Girl Gelüften, die Geistlosigkeit und Unverfrorenheit der heutigen Zeit. Bei solcher Kritik findet sich rechts und links und dies scheint mir verdächtig. Natürlich sind die Motive der Behüter der bürgerlichen Sittlichkeit andere als der linken Leute, bei denen ein Minus von Konsequenz, ein Schuß Spießbürgertum und( insbesondere in der Jugendbewegung) eine gewiffe Einseitigkeit und Abkapselung solch seltsame Meinungseinheit mit unseren Gegnern herbeiführen.

Hand aufs Herz: Was haben wir für ein Interesse, daß die bürgerliche Sexualmoral durch die ziemlich unverhüllten Frauen­förper der Revue, durch die nackten Beine der Tiller- Girl, durch die eindeutigen Figuren der modernen Tänze und durch viele andere Erscheinungen der Mode nicht gefährdet wird? Mag fie doch zum Teufel gehen, diese muffige Sittlichkeit, die sich wie eine ekelhafte Schleimschicht über Europa zieht, die keinen frischen Wind, fein nacktes Fleisch, fein freies Wort vertragen kann! Nun, fie zer­bröckelt; das Gekreisch der Sittlichkeitsapostel ist der beste Fieber­messer für die sterbende Patientin. Wir aber follen dabei erkennen, daß diese vorläufig fleine Umwertung der Werte" wohl in der unerbittlich fortschreitenden Zeitgeschichte wurzelt, indeffen gerade die Mode( Mode im weiten Sinn) sozusagen ihr äußerliches Bendel ist und in ihrer Eigenschaft Kreise und Schichten erfaßt, die weder