Zrauenstimm
« Nr.5.4S.LahrZÄ!�"B�iüQC ZUM BOtMätfe'| 2S. �vruar 192»
Zwingen um neue Es ist ein Kennzeichen unserer Uebergangszeit, daß die altkergebrachlen sittlichen Anschauungen ins Wanken geraten sino und daß neue Wertungen und Lebensformen sich her- ausbilden. Dieser Umbildungsprozeß bringt es mit sich, daß man heute am allerwenigsten von einer nur halbwegs all- gemeingültigen Teschlechtsmoral selbst innerhalb einer be- stimmten Gesellschaftsklasse sprechen kann. Man trifft die alten und die neuen Moralbegriffe in ihrer extremsten Prä- gung nicht nur bei den Angehörigen derselben Klasse, son- dern bei den nächsten Familienangehörigen an, und eine tiefe Kluft trennt nur allzuoft Mütter und Töchter. Väter und Söhne gerade in ihren sittlichen Wertungen der geschlecht- lichen Beziehungen. Infolgedesien stehen die ältere und jüngere Generation der verschiedenen Klassen einander in ihren sexuellen Sitten oft näher als beide Generationen inner- halb derselben Klasse. Die allgemeine Demokratisierung der Kultur bewirkt ferner, daß die Sitten der herrschenden Klassen heute viel rascher und in viel stärkerem Maße unter den Voltsmassen Verbreitung finden, als es in früheren Jahr- Hunderten der Fall war. Die herkömmlichen Ehesitten, wo man nach außen hin den Schein der Einehe wahrt und es mit der Treue und Wahrhaftigkeit durchaus nicht genau nimmt, bilden kein Monopol der besitzenden Klassen mehr. Es erhellt von selbst, daß nicht jede Neuerung der Sexualmoral vom sozialistischen Standpunkt aus als wirk- licher sittlich»? Fortschritt anzusehen ist. Bedenkt man, daß unsere Jugend in dieser schweren Uebergangszeit ernsten körperlichen und seelischen Gefahren ausgesetzt ist, so ist es Grund genug, nach einer Klärung dieser Fragen in sozio- listischem Geiste zu streben. Aber auch für die Arbeiter- bewegung als solche, sofern sie eine wirklicke Reugestaltung der gesamten Lebensverhältnisse anstrebt, ist es bei weitem nicht gleichgültig, nach welcher Richtung hin die S'tten- Umwälzung auf geschlechtlichem Gebiete sich vollzieht. Wenn auch diese Umwälzung durch die wirtschaftliche Umschichtung und vor'allem durch die total veränderte geselllchastliche Stellung der Frau bedingt wird, so ist doch die Möglichkeit einer ideologischen und sozialethlschen Beeinflussung heute durch die weitverzweigte Bildungstätigkeit der Arbeiter- organisationen mehr denn je gegeben. In der Tat werden in Arbelterversammlungen sexuelle Fragen häusig eingehend erörtert. Die Partetyresse fordert auch besonders die suqendlichen Genossen auf. die Vorträge über sexuelle Aufklärung, die von den in Arbeiter- kreisen ponulär-n Sexualforschern veranstaltet werden, zu besuchen Die Bortragssäle sind denn auch von Jugendlichen überfüllt, und es bietet sich somit die Gelegenheit emer tief- gehenden erzieherischen Einwirkung. Aber mit Bedauern muß festgestellt werden, daß die Aufklärung, die in diesen Vorträgen geboten wird, meistenteils in einseitigster Weise das Körperhafte und Triebhafte in den Vordergrund schiebt und das seelische Moment total vernachlässigt. Während die blutjungen Menschenkinder, darunter auch die SAJ. stundenlang über homosexuelle und sonstige geschlecht- liche Verirrungen. über Verhütungsmaßnabmen und Ab- treibung. über geschlechtliche Dinge, die in die Sprechstunde des Arztes gehören, weit und laug unterrichtet werden, er- fahren sie nichts über die seelischen Vorgänge des Liebes - lebens. Wenn nun aus der Zuhörerschaft Fragen gestellt wer- dxn. die unmittelbaren Anlaü bieten, auf das LlebesvrSblem
Geschlechtsmoral einzugehen, so werden sie meistentells mit einer Sachlich» kett abgetan, die die jugendliche Seele erstarren läßt. Hier nur ein konkretes Beifpiel: Während eines derartig-n Bor - träges, wo vor einem großen Auditorium Jugendlicher die Technik(ein zeitgemäßer Ausdruck) des Geschlechtsverkehrs ausführlich behandelt wurde, wird folgender Fragezettel aus dem Publikum verlesen:„Haben Freunde und Freundinnen irgendwelche Rechte und Pflichten gegenetn» ander)''' Der Referent, ein von der Arbeiterjugend ge» schätzter Scxualforscher. erteilte darauf folgende präzise Ant» wort:„Meiner Ansicht nach haben sie keine Rechte und keine Pflichten: die Frau darf bloß nicht ohne ihre Ein- willigung geschwängert werden" Damit war diese Kernfrage der heute so weit verbreiteten Liebesbe- Ziehungen mit erstaunlicher Oberflächlichkeit erledigt. Man sollte annehmen, daß es wichtig gewesen wäre, die Siebzehn- und Achtzehnjährigen, d>e dabei zahlreich ver- treten waren, darauf aufmerksam zu machen, daß gerade die freie Liebesdeziehung. die bewußt den äußeren Rechtsschutz ausschaltet, zu einer Steigerung des inneren Verantwortungsgefühls verpflichtet. Und besteht nicht dabei ein Recht auf gegenseitige Achtung und Schonung? Soll die Freiheit nicht in Zügellosigkeit ausarten, st» setzt sie innere Schranken und seibstgewähite sittlich? Normen voraus, die dem Mißbrauch des anderen als Genuß- o b j e k t entgegenwirken sollen. Es gilt in erster Linie, die sozialistische Jugend vor der Neberschätzung de» Sexuellen zu bewahren. Diese Ueberschätzung und die Entwertung der Liebe ist heute mehr denn je eine Folgeerscheinung der allgemeinen Eutseelung der kapita- listischen Kultur, die alle ideellen Werte schonungslos dem Gelderwerb unterordnet. Der sozialistischen Kulturbewegunq. will sie schöpferische Wege gehen und sich vom kapitalifti- schen Banne loslösen, erwächst daher die große Aufgabe, die heutige seelisch« Not insbesondere der Jugend in ihrer tief- sten Wurzel zu erkennen und durch entsprechende Einwirkung die sich aufreibenden seetischen Energien der sozialen Neugestaltung dtenstbar zu machen. Kann eine Verfeinerung des Liebeslebens bei der prole- tarischen Jugend auch sozialen Jdeallsmus auslösen, so kann eine oberflächliche Sexualisierung umgekehrt auch ein« politische Verrohung im Gefolge haben Das Drama der kommunistischen Jugend Rußlands sollte einem jeden, der die Zustände drüben verfolgt, als Warnungszeichen dienen. An der Selbstmordepidemie, den sexuellen Ausschreitungen, der Trunksucht und bitteren Enttäuschung dte'er Jugend trägt nicht zuleßt ihre sexuell? Erziehung schuld, d'e so sehr auf das Triebhafte und Körperliche, auf die„Technik" zugespitzt war. Es liegen bereits Anzeichen vor, daß die besten und reiferen Vertreter unserer Jugend sich der Ge- fahr der einseitigen sexuellen Aufklärung bewußt werden und sich nach einer Vertiefung des Liebeslebens sehnen. E» ist kein Zufall und als sehr gesunde Erscheinung zu lverten, daß die»veibliche Jugend dabei führend ist. Es find die tieferen Naturen, die trotz der so bedauerlichen Sexualisierung gerade der»veiblichen Jugend im Betrieb, im Bureau usw. sich rein und widerstandsfähig erhalten haben, die als Trägerinnen einer neuen Sexualmoral auftreten Wer mit diesen jungen, durch eigenes Leid früh gereiften Menscken l« nähere Berührung komint, der atmet frisch auf und schopfi Glauben an die zukünftige Beglückung der Menschen auch