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Reichstag 1871

Bebel als ,, Rechtsradikaler"- Der Reichstag   ohne Parteien

,, Der Wahlen halber ist der Redakteur genötigt worden, noch auf einige Tage in die Wahlkreise zu reifen. Die politische Rund schau fällt daher in den nächsten Nummern aus

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Wahrhaftig, es muß vor 60 Jahren noch ein recht kleiner Kreis von Menschen gewesen sein, die nicht nur die Befähigung, sondern auch den begeisterten Mut hatten, Redakteur einer sozialdemokra tischen Zeitung zu werden. Fuhr einer von ihnen wie in diesen Fall der Schriftleiter des Social- Demokrat" im Februar 1871 ein paar Tage fort, so war fein Erfahmann bet der Hand. Und folche fürzeren oder längeren Reifen waren gerade zu jenen Wahl­tampfzeiten bel den Arbeiterführern an der Tagesordnung; war es nicht eine Reise in die Provinz, so war es eine ins Gefängnis. Der fozialdemokratische Agitator", hieß damals ein vielzitiertes Wigwort, steht mit einem Fuß im Gefängnis. mit dem andern im Schweiße feines Angesichts, und mit dem dritten wintt er einer fonnigen Butunft entgegen!" Und die liebenswürdigen Briefchen, die man in der nationalliberalen Presse an den Führer der Linken, August Bebel  , richtete, begannen mit der Adresse: Herrn Bebel  , Drechsler­meister, wohnhaft zur Zeit in Leipzig  . Bezirksgericht..."

Ja, man hatte ihn wegen irgendeiner Majestätsbeleidigung wieder einmal unschädlich gemacht und damit von der Mitarbeit im Wahlkampf ausgesperrt. Aber bas hinderte nicht, daß er gewählt wurde, troß des heimlichen, aber um so wütenderen Kampfes aller Parteien gegen ble Sozialdemokraten. Wenn 1871, bei der Wahl zum ersten deutschen   Reichstag, überhaupt von einem Wahlkampf gesprochen werden konnte, so spielte er sich zum wenigsten innerhalb der bürgerlichen Bartelen ab. Uns, die wir durch fast zwei Menschen­alter von jenen Tagen getrennt sind, muß es mehr als sonderbar berühren, wie nebensächlich, wle sensationslos ein Ergebnis vor sich ging, das wir demnächst wieder voll innerster Anteilnahme mit­erleben werden. In den Dokumenten, Berichten der offiziellen Stellen, in den Zeitungen der herrschenden Klassen scheint der 3. März 1871 von trostloser Langeweile beherrscht zu sein, wenn er nicht vom schwülstigen Bathos ber für den gleichen Abend an gefeßten Feiern des Sieges über den Erbfeind" mit Fackelzügen, martigen Patriotenreben und festlichen Illuminationen erfüllt ge­wesen wäre: der Friede mit Frankreich   war unterzeichnet worden, und Deutschland   zog es vor, zu jubeln, anstatt feiner neuen Staats­bürgerpflicht zu penügen. So erklärt sich die Tatsache, daß von 7,6 Millionen Wahlberechtigten nur etwa die Hälfte, nämlich; 3,9 Millionen, an die Urne trat! Amtlicherseits war der Untertan über sein Wahlrecht gerade zur Not färglich informiert worden, u weder die Behörden, noch die bürgerlichen Parteien hielten es für nötig, auf die Bedeutung des Tages besonders hinzuweisen. Die Wahlaufrufe wenn man es so nennen tann füllten wenige Tage vor dem großen Ereignis die Spalten der Lokalblättchen und sahen durchwegs so aus:

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1. Wahlkreis

In der am 1. März stattgehabten Wählerversammlung wurde beschlossen, Herrn X. Y aus 3: als Abgeordneten der-Partei in den Rchiesata zu wählen. Wir ersuchen unsere Gesinnungs­genossen, ihre Stimmen in gleicher Weise abzugeben."

Mitunter aber erschien auch eine Betanntmachung". welche die allgemeine, geheime, direkte und gleiche Wahl" start beeinflussen mußte:

Ich richte daher an alle Wähler, welche ihre Stimme im regierungsfreundlichen Sinne abzugeben gedenken, hierdurch die bringende Aufforderung, 1. vollzählig an der Wahi sich zu be­telligen, 2. ihre Stimme sämtlich für Herrn von Waßdorff ab­zugeben.

Belzig  .

Königlicher Landrath von Stülpnagel."

Wie viele regierungsfreundliche" Leute in Belzig   haben es wohl gewagt, bem Wunsche des Herrn Königlichen Landrats zuwiderzu­handeln? Aber solche Amtsedikte ließen nur ahnen, was fich unter der Oberfläche gutbürgerlicher Ruhe und Ordnung, hinter den Ruliffen des politischen und fozialen Theaters alles abfpielte: in den Kleinstädten riefen die Amtsdiener mit der Schelle aus: Wer fein Vaterland liebt, der wähle den Professor Soundso", in den Land­gemeinden packten bie Amtmänner ihre Leute" in Leiterwagen und fuhren sie, mit Stimmzetteln für Ihre Bartei verfehen, stundenlang zum nächsten Wahllofal; willige Wähler befamen Schnaps und Kuchen von der dankbaren Behörde; Pfarrer und Pastoren predigten von der Todsünde, die sozialdemokratische Partei zu wählen; Dis­kussionsredner der Arbeiterparteien in gegnerischen Bersammlungen wurden vom Büttel verhaftet; fozialdemokratische Wahlplakate mur­den tonfisziert, Versammlungen mit Gendarmenaufgebot gesprengt, ,, verdächtige" Stimmzettel von der Ürne geöffnet, Arbeitern der Zutritt zum Wahllofal verweigert, grundlose Berhaftungen vor­genommen, fozialdemokratische Zeitungen beschlagnahmt.

Liest man in den alten Nummern des Boltssta at" und des Social Demotrat" all diese Berichte nach, so kann man auch gelegentlich auf eine andere fleine Meldung stoßen, die blizz artig die wahren Zusammenhänge aufleuchten läßt: Die Weiße gerber Berlins   haben am gestrigen Tage die Arbeit eingestellt und einen Streit begonnen. Sie beanspruchen die Herabsehung ihrer dreizehnstündigen Arbeitszeit auf eine zwölfstündige..."

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Dant dem sogenannten Broporz"-Wahlsystem, das damals herrschte, brachten es die beiden sozialistischen   Parteien, der All­ gemeine Deutsche Arbeiterverein  " und die Sozialdemokratische Arbeiterpartei  " mit zusammen 125 000 Stimmen, auf nur zwei Ab­geordnete, während die Bartei ber Polen   mit 180 000 Stimmen 13 Abgeordnete erhielt! Schließlich zog, da Bebel   noch im Ge fängnis saß, nur der Abgeordnete Schraps als Sozialdemokrat in den Reichstag  .

Es war eigentlich ein Reichstag ohne Parteien; denn in den offiziellen Verhandlungsberichten steht vom ersten bis zum letzten Blatt der Name feiner einzigen Partei vermerkt, sofern er nicht gelegentlich in den Reden der Abgeordneten vorfam. Parteient egiftierten nicht im amtlichen Sinne, und die Abgeordneten galten lediglich als Vertreter ihres Kreises. Die Eigenordnung wurde praktisch wohl von rechts nach links, theoretisch aber durch Auf­stellung von sieben Abteilungen durchgeführt, von denen jede einen Borsitzenden und einen Schriftführer zu wählen hatte, unabhängig von der parteipolitischen Zusammensetzung der Abteilung. Wochen nach Eröffnung des Reichstags, der seine Sigungen im primitiven Saale des alten preußischen Abgeordnetenhauses abhielt, fonnte auch der endlich freigelassene Bebel daran teilnehmen. ich in den Reichstag trat," erzählt er in seinen Lebenserinnerungen, ,, waren bie Bläge auf der Linfen   beseßt, nur auf der äußersten Rechten waren noch solche frei. Dorthin begab ich mich, obwohl mir die Nachbarschaft der ehrenwerten Herren von der äußersten Rechten nicht sehr sympathisch war. Aber sie beoriffen mein Unglück und ließen mich nicht entgelten, baß ich als Saul unter die Propheten geraten war und sie benahmen sich durchaus als Gentlemen; manch mal entstand im Hause Heiterfeit, wenn die Linte gegen die Rechte stimmte und ich auf der äußersten Rechten mich mit der Linken erhob. Unter Larven die einzig fühlende Brust... Ela.

Mütterschule der Stadt Berlin  .

Als

Bon der Erkenntnis ausgehend, daß es der berufstätigen Frau oft an Zeit und Gelegenheit fehlt, sich für ihren Beruf als Mutter vorzubereiten, hat die Stadt Berlin   eine Mütterschule im Waisenhaus Berlin  , Alte Jafobstraße 33/35, eingerichtet.

In Heinen Arbeitsgemeinschaften, die unter Leitung eines Arztes und einer Pädagogin stehen, werden hier junge Mütter, Pflegefrauen und Verlobte in die Säuglingspflege sowie in die körperliche und seelische Pflege des Kleinkindes eingeführt. Der Unterricht erstreckt fich auf alle Gebiete der Säuglings- und Kleinkinderpflege, natürliche und fünstliche Ernährung, Bad und Hautpflege, Vorbeugung der Säuglingserfrankungen, Pflege und Wartung des franten Säuglings. Vielleicht noch wichtiger als dieser Unterrichtsstoff, über den durch unsere Säugtingsfürsorgestellen ja schon viel Aufklärung verbreitet deutung der Erziehung des Säuglings, über das Seelenleben des wurde, ist es aber vielleicht, daß in diefen Kursen auch über die Be wachen des Geistes gesprochen werden wird. Dinge, die selbst von Kleinkindes, die Probleme der Gemeinschaftserziehung und das Er.. den Müttern, die über die törperliche Erziehung des Kindes gut unterrichtet sind, oftmals nicht in ihrer wahren Tragweite gewürdigt werden. Mit dem Kurfus find auf allen diefen Gebieten praktische Uebungen verbunden. Bom Baden des Säuglings bis zur Arbeit im Kindergarten und zur Anfertigung von Kinderspielzeug. Der neue Kurjus der Mütterschule beginnt am Dienstag, dem 16. September, um 4 Uhr nachmittags im Baisen­haus Berlin  , Alte Jakobst caße 33/35. Der Kursus umfaßt 14 Doppelstunden an zwei Nachmittagen der Woche. Die Kursusgebühr beträgt 8 Mart. Die wirtschaftliche Lage wird weit­gehendst berücksichtigt, Ermäßigungen und Freistellen werden auf Antrag gewährt.

Anmeldungen sind zu richten: 1. an das Landeswohlfahrts- und Jugendamt Berlin  , Berlin   C. 2, Poststraße 16, Fernsprecher: Berolina E 1. 0011, 3immer 79 b; 2. an das Waisenhaus Berlin  , Berlin   SW. 68, Alte Jakobstraße 33/35, Fernsprecher: Magistrat Berlin   42, Säuglingsstation. Berlin   42, Säuglingsstation. Prospekte werden auf Wunsch zugesandt.

Frauen als Juriffinnen. In der letzten Liste zur Ausübung einer juristischen Tätigkeit in England zugelassenen Personen befinden sich diesmal 11 Frauen, eine bisher nicht erreichte hohe Bahl. Dabei ist bemerkenswert, daß die Frauen die Prüfungen fast durchweg her­vorragend gut bestanden haben. Im Römischen Recht erhielten vier, im Staatsrecht erhielt eine die beste 3enfur.

Die Stadt der Männer. Während in der übrigen Welt. im allgemeinen Rot am Mann" ist, fommmen in Belgrad  , ber Hauptstadt Jugoslawiens  , auf 130 000 Männer mur 96 000 Frauen. Es dürfte also in dieser gesegneten Stadt den Frauen nicht allzu schwer fallen, einen Lebensgefährten zu finden. Trotzdem zählt man in Belgrad   sehr viele Witwen, weil die Frauen dort länger leben als die Männer. Die Sterblichkeitsziffer der Männer über 45 Jahre ist doppelt so groß wie die der Frauen. Bon 102 hundert­jährigen Belgradern gehören 68 dem weiblichen Geschlecht an.