Nahezu die Hälfte aller Kinder von Zigarrenarbeitern sterben früh. Im Badischen war die Sterblichkeitsziffer dieser Kinder noch um 15 Prozent höher als die aller anderen Arbeiterkinder. Verursacht wird diese furchtbare Erscheinung durch schlechte Ernährung, mangelnde Pflege, eine im zartesten Alter beginnende Ausbeutung und die erbliche Be­lastung. Die schwächlichen, schwindsüchtigen Tabafarbeiter und-Ar­beiterinnen können unmöglich gesunde, kräftige Kinder haben. Die in Fabriken thätigen Tabatarbeiter haben schwer zu leiden unter der Konkurrenz der Heimarbeit, zu der die billigen Arbeitskräfte der Frauen und Kinder in unbeschränktem Maße herangezogen werden können. Die Heimarbeiter aber seufzen ihrerseits wieder unter der fluchwürdigen Schmutzkonkurrenz der Zuchthausarbeit. In einzelnen Bezirken, so z. B. in und um Heilbronn   haben die reichen Aus­beuter es gegenwärtig glücklich so weit gebracht, daß die Löhne der ,, freien" Arbeiter niedriger sind, als die im Zuchthause ge­zahlten, so daß hier vor einer Konkurrenz der Sträflingsarbeit nicht mehr die Rede sein kann.

Auch die in den Hilfsgewerben der Tabakindustrie beschäftigten Arbeiter, die Kistenmacher, Bandweber u. s. w., sind zum großen Theil Heimarbeiter. Nach Angaben von Unternehmern soll der Wochen­lohn der in der Barmer Zigarrenbandweberei beschäftigten Arbeiter 21 Mt. im Durchschnitt betragen. Den Arbeitern selbst ist von einem so hohen Verdienst nichts bekannt. Sie müssen zur Erzielung eines weit geringeren Lohnes nicht nur ihre eigenen Kräfte aufs Aller­äußerste anspannen, sondern auch die ihrer Frau und ihrer Kinder, deren Zahl oft nicht klein ist. Im Punkte ihrer Erwerbsverhältnisse sind sie nicht günstiger gestellt als die Tabalarbeiter.

In Anbetracht dieser Zustände ist es kein Wunder, daß die in Berlin   versammelten Delegirten der Tabakarbeiter in flammenden Worten ihrer Erbitterung Luft machten über die schmachvolle Aus­beutung ihrer Berufsgenossen daheim und in der Fabrik. Jetzt schon ist der bittere Mangel ein ständiger Gast im Heim der Tabakarbeiter und Arbeiterinnen. Wie unsäglich elend müssen sich erst ihre Lebens­verhältnisse gestalten, wenn ihre Arbeitsverhältnisse noch schlechtere werden in Folge der Einführung der geplanten Tabaksteuer! Tau­sende von Arbeitern und Arbeiterinnen der Tabakindustrie werden dann brotlos aufs Pflaster fliegen und durch ihre Konkurrenz den Verdienst der noch beschäftigten Kameraden drücken. Arbeitslosigkeit und Hungersnoth werden ihren Einzug halten in das Tabakarbeiter­heim, in dem es schon jetzt trübe genug aussah. Was wird dann aus all den schwindsüchtigen Männern, ihren abgehärmten, entfräfteten Frauen, ihren siechen Kindern, den dem heutigen fapitalistischen System zwiefach Geopferten?

Daß die Tabakarbeiter und Arbeiterinnen von der bürgerlichen Gesellschaft keine Hilfe zu erwarten haben, ist einem großen Theil von ihnen bereits heute klar. Den Uebrigen wird dies mit der wach­senden Noth der Zeit gleichfalls zum Bewußtsein gelangen. In rich­tiger Schlußfolgerung, von der Macht der Thatsachen getrieben, werden sie dann ihre und ihrer Klasse Befreiung aus leiblichem und geistigem Elend suchen in dem opfermüthigen Eintreten für die Bestrebungen der internationalen Sozialdemokratie. Denn diese allein vertritt gegen­über der kapitalistischen   Gesellschaft die Interessen aller Ausgebeuteten und sozial Zertretenen.

Desterreichische Justiz.

Holzinger hat wieder ein Opfer. Zahllos sind die zu Grunde gerichteten Existenzen, unzählig darum die Verwünschungen und Thrä­nen, die mit seinem Namen verknüpft sind. Als in den achtziger Jahren das Ausnahmegesetz mit bleierner Schwere auf Desterreich lastete, wurde der Name Holzinger berüchtigt. Denn sein Träger war ausersehen, der Henker der freiheitlichen Bestrebungen des Prole­tariats, der Sozialdemokratie zu werden. Und rücksichtslos waltete er seines Amtes. Er schickte die armen Opfer in den Kerker und wüthete gegen Alle, die ihm als staatsgefährlich" überliefert wurden. In seinen Urtheilen war keine Spur zu finden der christlichen Menschenliebe, die in salbungsvollen Worten von den Lippen der Leute seines Schlags zu fließen pflegt. Das Ausnahmegeseh, das Ausnahmegericht ist überwunden; den ausgestandenen Verfolgungen zum Hohn lebt die österreichische Sozialdemokratie fräftiger als je zuvor. Diese unbestreitbare Thatsache zehrt an der Holzingersippe, und sie lauert, ob nicht ab und zu ein Nachspiel zu der großen Würgezeit in Szene gesetzt werden kann. Natürlich ist es ihr ein besonderer Greuel, daß sich die proletarischen Frauen Desterreichs mit Begeisterung an die Sozialdemokratie anschließen. Und so nahm die Holzingersippe die Gelegenheit wahr, an ihnen ihr Müth­chen zu kühlen. Die Wahlrechtsbewegung in Desterreich wurde von den arbeitenden Frauen und Mädchen mit Begeisterung begrüßt,

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auch sie traten ein in den Kampf.* Am 1. Oktober 1893 tagte in der Penzinger Au bei Wien   eine Arbeiterinnen- Versammlung unter freiem Himmel, bei welcher über Die Stellung der Arbeiter­innen zum allgemeinen gleichen und direkten Wahlrecht" gesprochen wurde. Die 20 jährige Genossin Charlotte Glas referirte bei sehr stürmischem Wetter. In ihrer wahrhaft glänzenden Rede erörterte sie u. A. die jetzige Zusammensetzung des österreichischen Parlaments. Sie zählte dabei die verschiedenen Berufsarten auf, welchen die Mitglieder des Herrenhauses und die des Abgeordneten­hauses angehören und rief schließlich aus: Haben denn die Erz­herzöge, Grafen  , Barone  , feudalen Großgrundbesitzer 2c. 2c. ein besseres Herz als wir, daß sie sich Volksvertreter nennen, während man uns das Recht, Vertreter zu wählen, abspricht?"

Der herrschende heftige Sturm machte viele Sätze der Referentin unverständlich und unzusammenhängend. Zwei Polizeikommissare, welche die Versammlung überwachten, behaupteten nun in ihrem Bericht, Genoffin Glas habe gesagt:" Die Erzherzöge haben ein schlechteres Herz als das Volk." Diese Stelle der Rede wurde inkriminirt, da durch sie eine Verlegung der Ehrfurcht vor Mitgliedern des Kaiserhauses begangen sei".

In der nämlichen Versammlung sprach nebst anderen Genossinnen die 17jährige Genossin Amalie Ryba, bekannt aus dem siegreichen Streit der Wiener   Appreturarbeiterinnen. Im Verlauf ihrer Rede sagte Genossin Ryba: Revolutionär ist der Grundgedanke der Sozialdemokratie, aber nicht revolutionär im Polizei­finn, nicht wie es die hohe Regierung meint, aber revolu­tionär, um unsere Rechte zu erobern, die belgischen Ge­nossen sind uns ein Beispiel." Auch diese Stelle wurde infriminirt, als Aufforderung zu ungesetzlichen Hand­lungen.( Obwohl in Belgien   nicht die Arbeiter die Gesetze verletzten, sondern die Polizei.) Genossin Ryba war außerdem noch wegen zweier anderer Vergehen angeflagt, nämlich wegen Beleidigung des Abgeordnetenhauses und wegen Beleidigung öffentlicher Behörden, des ersteren Vergehens sollte sie sich in einer Volksversammlung, des zweiten in einer Dienstbotenversammlung schuldig gemacht haben. Donnerstag den 4. Januar fand die Verhandlung gegen beide Ge­nossinnen zusammen statt. Als öffentlicher Ankläger fungirte der Staatsanwalt- Substitut Baron Drechsler, die Vertheidigung führte Dr. Karl Ornstein. Viele Parteigenossen und Genossinnen hatten sich zu den Verhandlungen eingefunden und füllten den Saal. Baron Drechsler beantragte jedoch die geheime Durchführung des Ver­fahrens. Die angebliche Majestätsbeleidigung", die in der Pen­zinger Au vor Tausenden begangen worden sein sollte, durfte nicht vor Hunderten wiederholt werden! Vier Polizeibeamte wurden von der Staatsbehörde als Zeugen gegen die angeklagten Genossinnen angezogen. In der Angelegenheit Ryba sagten alle vier belastend aus, doch gegen Genossin Glas trat nur einer von ihnen als Be­lastungszeuge auf.

Der Polizeikommissar, welcher der Rednerin näher saß, sagte der Wahrheit gemäß aus, er habe in Folge des Sturmes den Zu­sammenhang der Rede nicht gehört; sein entfernter sitzender Kollege erklärte dagegen mit Bestimmtheit, die inkriminirte Stelle sei ge­sprochen worden und hielt seine frühere diesbezügliche Angabe aufrecht. Nun wurden sieben Entlastungszeugen vorgeführt, welche sämmtlich die angebliche Beleidigung nicht gehört hatten. Die Vorsitzende der Penzinger Versammlung, welche Genossin Glas zunächst gesessen und ihre Ausführungen am deutlichsten gehört hatte, bezeugte mit aller Bestimmtheit, daß die inkriminirte Stelle so gelautet habe, wie wir sie weiter oben zitirten. Aber was nützt die beste Vertheidigung, wenn Holzinger das Bedürfniß fühlt, gegen ein Mitglied der Sozialdemokratie ein Urtheil aussprechen zu lassen. Drechsler und Holzinger, sie waren einig, und beide Genossinnen wurden schuldig erklärt.

Genossin Ryba wurde zu drei Wochen Arrest verurtheilt und Charlotte Glas zu vier Monaten Kerker.

Es ist geschehen! Die Aera Windischgrätz fordert und hat bereits ihre Opfer. Doch unsere Genossinnen und Genossen werden sich durch diese grausame Härte nicht abschrecken lassen, die gesammte österreichische Sozialdemokratie wird dem Sturm der Reaktion Stand halten und sich nicht beugen, trotz alledem und alledem.

Die Opfer der Holzinger'schen Klassenjustiz sind sich bewußt, daß sie für eine heilige Sache leiden, und diese Ueberzeugung macht sie start. Ein Märtyrer für die Sache des Proletariats bringt der sozial­demokratischen Bewegung ungezählte neue Streiter und Streiterinnen. Die Urtheile des Holzinger öffnen auch den Blindesten die

* Siehe Nr. 16 der Gleichheit", 9. August 1893.