Nr. 4 der ,, Gleichheit" gelangt am 21. Februar 1894 zur Ausgabe.

ein

wandeln, sie braucht Wäsche, Kleidung, Beschuhung, sie muß ihre Beiträge zu den verschiedenen staatlichen Versicherungen entrichten, sie hat die und jene andere unabweisbare Ausgabe. Die kaufmännisch Angestellte hat zwar allerdings bei weitem nicht immer etwas größeres Einkommen als die Arbeiterin. Dafür aber bean­sprucht der Prinzipal, daß sie im Interesse der Ehre und des Profits seines Hauses" einen so großen Aufwand für ihre Toilette macht, daß ihr für Kost und Wohnung nicht mehr übrig bleibt, als irgend einer Arbeiterin.

Laut der unten folgenden Anzeige gewährt der Verein Jugend­schutz" sittlich unbescholtenen" Mädchen Unterkunft. Der be­treffenden Klausel haftet unseres Erachtens entschieden etwas an von dem Modergeruch einer zopfigen Spießbürgermoral, von dem muckeri­schen Pharisäerthum der satten Tugend und zahlungsfähigen Moral. Welches ist den Leiterinnen des Jugendschutz" denn das Kriterium für die ,, sittliche Unbescholtenheit" eines Mädchens? Nicht alle sind sittlich gefallen, welche aus Noth oder wahrer Leidenschaft gegen den eng­brüstigen Tugendkoder der bürgerlichen Gesellschaft sehlten. Und sittlich rein sind bei weitem nicht alle, welche sich im Glorienschein einer nie erprobten, billigen oder geheuchelten Tugend spreizen. An die vielleicht von Kindheit auf vernachlässigte, schlechtgezahlte, fümmer­lich eristirende Proletarierin tritt die Versuchung auf Schritt und Tritt heran. Die Verhältnisse machen ihr den Absturz von den Höhen der bürgerlichen Moral sehr leicht, in Hunderten und Aberhunderten von Fällen zwingt die Noth zu ihm. Da ist es unseres Erachtens durchaus verfehlt, den Genuß einer Wohlfahrtseinrichtung" für Ar­beiterinnen 2c. von vornherein abhängig zu machen von ihrer sitt­lichen Unbescholtenheit", diese offenbar im herkömmlichen bürgerlichen Sinne verstanden. Und die sittlich Bescholtenen" bedürfen der Für sorge erst recht.

Der Jugendschutz" stellt seinen Kost- und Logisgängerinnen eine Bibliothek zur Verfügung. Aber was für Lektüre bietet er ihnen? Die Art derselben ist charakteristisch für den Geist, aus dem heraus die Einrichtung geleitet wird, sie ist mitbestimmend für den Nutzen, welche diese den Arbeiterinnen bringt. Wenn wir in dieser Beziehung mißtrauisch fragen, so ist dies natürlich genug. Die landläufige Leftüre, welche die Arbeiterinnenheime bieten, ist durchseucht von widerlichein Pietismus und ebenso widerlicher Tugendfüßelei. Sie zweckt darauf ab, den proletarischen Mädchen das Diene, gehorche und sei stille" den Arbeitgebern und Dienstherrschaften gegenüber recht salbungsvoll und eindringlich zu predigen, sie zur Demuth und zur kulturfeindlichen Genügsamkeit zu drillen, sie mit dem Giapopeia vom Wohlwollen und den unschätzbaren Verdiensten der Besitzenden einzulullen. Kurz, gewöhnlich benützt die Bourgeoisie die angeblichen ,, Bildungsmittel" der Arbeiterinnenheime als Mittel zum Zwecke der Bauernfängerei. Damit ist allerdings der Bourgeoisie sehr viel, den Arbeiterinnen sehr wenig gedient. Was diese bedürfen, ist eine Lektüre, welche sie zur freien, stolzen, bewußten Menschlichkeit erzieht, sie über Welt und Gesellschaft aufklärt, sie zum Klassenbewußtsein ruft, zum Kampf für ihre Befreiung. Es sollte uns freuen, wenn die Lektüre des Jugendschutz" den bürgerlichen Gepflogenheiten ent­gegen diesen Anforderungen entspräche. Wundern wird es uns aller­dings nicht, wenn dies nicht der Fall ist.

Arbeiterinnen und kaufmännisch Angestellte werden den unent­geltlichen Haushaltungskursus des Vereins kaum ausnüßen können. Wann sollen diese für ihren Lebensunterhalt rackernde Lohnsklavinnen die Zeit finden, die Wirthschaftsführung zu erlernen? Die jungen Mädchen, welche des Tags über beruflich geschafft haben, welche noch ihre Wäsche und Kleidung in Stand halten müssen, werden wohl schwerlich nach Feierabend Zeit und Kraft finden, sich im Kochen und Wirthschaften auszubilden. Uebrigens was nüßen der Frau die besten hauswirthschaftlichen Kenntnisse, wenn sie gezwungen ist, den Heerd zu verlassen und dem Erwerb nachzugehen, wenn die Ein­tommensverhältnisse der Proletarierfamilien so traurige sind, daß von einer Wirthschaftsführung gar nicht mehr die Rede sein kann.

Der Gönnerinnen des Jugendschutz", welche ihren Mädchen einen Abend der Woche freigeben, damit diese das Schneidern 2c. er­lernen können, dürften wohl sehr wenige sein! Wir kennen unsere ,, Gnädigen", wir kennen die deutsche gute Hausfrau" und ihre Wuth, auf jede Minute ihrer Minna oder Lina Beschlag zu legen. Wir sehen von hier, wie sich ihre sämmtlichen Haare vor Entsetzen bei dem bloßen Gedanken sträuben, dem Dienstmädchen gar den Samstag Abend frei zu geben, den Tag, welcher dem besonderen Kultus des deutschen Hausfrauenthums geweiht ist, den Tag, wo das Mädchen für Alles" auf dem Altar dieses Hausfrauenthums von früh bis Abends mit Laugenwasser, Besen und Bürste opfern muß.

"

Wir sind überzeugt, daß in den meisten Fällen, wo ein paar Abendstunden dem Dienstmädchen freigegeben werden, dieses durch

24

angestrengtere Arbeit während der übrigen Zeit dafür aufkommen muß. Die gute Hausfrau" besteht auf ihrem Schein! Und weil sie dies thut, so wird auch das Dienstmädchen, welches mit sachkundiger Hand mit Scheere und Nadel umzugehen versteht, kaum in die Lage kommen, seine Garderobe selbst anfertigen zu können! All seine Zeit gehört der Herrschaft, wo soll das Mädchen, deren Arbeitstag oft feine Grenzen hat, die Muße finden, für sich zu schneidern? Kaum daß es sich am Nachtschlaf die Stunden abdarbt, um Kleidung und Wäsche zu flicken. Dagegen wird die praktische Hausfrau" sich selbst und ihrer Familie das Können des Mädchens zu Nuze machen. Sie wird diesem zu seinen anderen Arbeitslasten auch noch einen Theil der Schneider- und Puzzarbeit für die Familie aufbürden. Von einer den erhöhten Leistungen entsprechenden höheren Bezahlung dürfte aber kaum die Rede sein, denn wo bliebe sonst der praktische Vor­theil", dem die gute Hausfrau nachjagt, wie der Teufel einer armen Seele?

Wer das Loos der Dienstmädchen ernstlich verbessern will, der trete mit aller Energie ein für Abschaffung der mittelalterlichen, menschenunwürdigen Gesindeordnung; für Unterstellung der Dienstboten unter das Arbeiterschutz­gesetz; für geregelte Arbeitszeit und gute Löhne; der fordere auch für das Dienstpersonal in Stadt und Land das freie, unbeschränkte Koalitionsrecht.

Und wem die Verbesserung der Lage der Arbeite­rinnen, kaufmännisch Angestellten 2c.   am Herzen liegt, der kämpfe für Erweiterung des bestehenden kümmerlichen und vom Unternehmerthum frech durchlöcherten gesetzlichen Arbeiterschutzes; der kämpfe vor allem für Einführung des gesetzlichen Achtstundentages; der fordere laut und lauter eine bessere Entlohnung der weiblichen Arbeitskraft; der heische für die Frauen das freie Koalitionsrecht und die Zuerkennung des aktiven und passiven Wahlrechts zu allen öffentlichen Körperschaften. Durch Verwirklichung dieser Reformen, durch zuerkennung dieser Rechte werden Dienstmädchen, Arbeiterinnen und kaufmännisch Angestellte in den Stand gesetzt, sich bessere Arbeitsverhältnisse und eine würdigere Lebens­haltung aus eigener Kraft erkämpfen zu können. Denn wie ihre volle Befreiung, so haben die Töchter des werkthätigen Volks auch eine Hebung ihrer elenden Lage nur vom Kampf von Klasse zu Klasse zu hoffen. Wie die Sirene der Fabel in einem Fischschwanz, so endet das bürgerliche Wohlthun sogar die beste Absicht voraus­gesetzt gesetzt stets in einer noch härteren Ausbeutung der wohlwollend beglückten Masse.

-

-

Frau Bieber- Böhm wird und kann uns diese Bemerkungen zu ihrer Einsendung nicht als Uriasbrief deuten. Denn wir haben die Stellungnahme der Gleichheit" zu der Frage oft genug flar gelegt und sind es unseren Leserinnen schuldig, zu vermeiden, daß durch Auf­nahme der untenstehenden Anzeigen eine Begriffsverwirrung über den Werth bürgerlicher Wohlfahrtseinrichtungen aufkomme.

Der Verein Jugendschutz

bietet jungen, sittlich unbescholtenen Mädchen( Arbeiterinnen, kaufmännisch Angestellten, Stützen u. s. w). billige freundliche Wohnung und Kost.( Ganze Pension 32-45 Mt.) Lese­zimmer, Badevorrichtung, Arbeitsnachweis, Sonntagsheim, Stellenvermittlung, freundliche Aufnahme bei der Hausmutter. Plätze 5-12 Mt. pro Monat. Vorzüglicher Mittagstisch von 15-30 Pfg., auch für Mädchen die nicht dort wohnen. I. Heim: Grünstraße 5-6; II. Heim: Stallschreiberstraße 23 a. Abendkurse 6-8, 8-10( Sonntag 2-4 Uhr) für Putz und Schneiderei. 1 Mt. pro Monat. Unentgeltlicher Haushaltungs­fursus. Meldungen bei Frau Dr. Rosenheim, Kommandanten­straße 89 II, 8-10 Uhr früh.

Die Gönnerinnen des

Jugendschuh

werden gebeten, ihren Dienstmädchen einen Abend in der Woche frei zu geben und dieselben an den billigen Kursen für Schneiderei und Putz theilnehmen zu lassen, um sich ihre Sachen selbst anfertigen zu können. Der Kursus dauert bei einmaligem Unter­richt in der Woche 6 Monate à 1 Mt. Abends 6-8 Uhr. Montag und Dienstag Schneiderei, Sonnabend und Sonntag Buzz. Anmeldungen bei Frau Dr. Anwalt Rosenheim, Komman­dantenstraße 89 II.

Verantwortlich für die Redaktion: Fr. Klara Zetkin  ( Eißner) in Stuttgart  . Druck und Verlag von J. H. W. Dieg in Stuttgart  .