Die Konferenz erklärte sich für beide Zusaganträge.

Auf ihrer Tagesordnung standen noch eine Reihe wichtiger Fragen: die Organisation der Lehrlinge und jugendlichen Hilfskräfte, die Frage des Rechtsschutzes, des Streits und Boykotts. Auch die diesbezüglichen Verhandlungen und Beschlüsse zeigen, daß die öster­reichischen Gewerkschaften auf dem Boden der modernen sozialistischen  Arbeiterbewegung stehen. Und daß sie sich kräftig entwickeln, bewies der Bericht der Gewerkschaftskommission, welcher mit freudiger Genugthuung fonstatirte, daß seit dem letzten Kongreß die Zahl der Organisationen und ihrer Mitglieder fast verdoppelt habe, 591 Gewerk­vereine umschließen 80 000 Mitglieder, 275 Bildungsvereine 27 000. Die Vergangenheit und Gegenwart der österreichischen Gewerkschafts­bewegung bürgt für ihre Zukunft, und die Arbeiter der Wiener   Kon­ferenz werden das Ihrige dazu beitragen, machtvolle wirthschaftliche Kampfesorganisationen zu schaffen. In diesen Kampfesorganisationen werden mit der Zeit und bei ernster, zäher Arbeit Zehntausende und Zehntausende proletarischer Frauen und Mädchen stehen, die sich nicht mehr als bloßes Maschinenfutter fühlen, sondern als Streiterinnen für ihre Zukunft und die ihrer Klasse.

Staatsanwalt und Polizeiwillkür   im Kampfe gegen die proletarische Frauenbewegung.

Das allgemeine Landrecht läßt in Preußen alle Bürger vor dem Gesetze gleich sein. Die Frauen aber besitzen trotzdem nicht die gleichen Rechte wie die Männer und mehr noch: die preußische Juristerei hat sich von jeher dadurch ausgezeichnet, daß sie unter Aufgebot von kühnem Scharfsinn auch noch die wenigen Rechte ein­zuschränken sucht, welche den Frauen zustehen. Und zwar besonders dann, wenn proletarische Frauen das ihnen gewährleistete arm­selige Bischen Vereins- und Versammlungsfreiheit ausnüßen, um für ihre menschenwürdige Stellung innerhalb der heutigen Gesellschaft und für ihre volle Befreiung zu ringen, wie sie nur in einem sozialisti schen Gemeinwesen möglich ist. So wollte man schon 1886 die Berliner  Arbeiterinnenbewegung dadurch lahm legen, daß man ihre Leiterinnen bestrafte, und dies auf Grund der behördlichen und offenbar sehr maßgeblichen Ansicht, daß die Arbeiterinnen Vereine politische - Vereine seien. Das von lobenswerthem, staatsretterischem Eifer zeugende Vorgehen fand Nachahmung in fast allen preußischen Städten, wo Organisationen proletarischer Frauen existirten. Als flärender Nordschein" leuchtete es nach Bayern   hinein, wo die Be­hörden mit der Zeit preußischer als preußisch gegen das Vereins­und Versammlungsrecht der Frauen vorgingen. Und wo es der Gesetzes­text irgend eines deutschen Vaterländchens zuließ, wurde dieser Gesetzestert den Proletarierinnen gegenüber nach preußischem Muster ausgelegt und gehandhabt.

Aeußerst lehrreich für dieses Bestreben ist das nun vorliegende Erkenntniß in Sachen der Berliner   Frauen- Agitationstommission. Es zeigt sinnenfällig, wie dringend nöthig eine Reform unseres Rechts­wesens ist, durch welche die Rechtsprechung in Einklang kommt mit dem Rechtsbewußtsein der großen Masse. Es zeigt sinnenfällig, was der gute Wille und die Auslegungskunst vermag.

So ersehen wir aus diesem Erkenntniß, daß die kleinen unzwei­deutigen Bestimmungen des Gesetzes nicht immer befolgt werden müssen. Das gemeine Volk, das diese Bestimmungen zum großen Theil gar nicht kennt, darf sich allerdings nicht leisten, sie einmal außer Acht zu lassen. Dagegen können sich Polizei, Staatsanwalt und Richter über diese Gesetzesbestimmungen hinwegsetzen, wenn der 3weck es erfordert. Der§ 16 des Vereinsgesetzes setzt fest, daß die Polizeibehörde binnen achtundvierzig Stunden dem Staatsanwalt

Anzeige von der Schließung eines Vereins erstatten muß. Die Staats­anwaltschaft hat wiederum binnen acht Tagen der Polizeibehörde Nachricht zu geben, wenn kein Grund zur Schließung des Vereins vorlag. Wörtlich heißt es dann: Alsdann ist vom Gericht sofort Beschluß darüber zu fassen, ob die vorläufige Schließung des Vereins

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bis zum Erkenntniß in der Hauptsache fortdauern soll." Diese un­zweideutige Bestimmung hat bisher gegolten. Der Frauen- Agitations­fommission gegenüber ist sie nicht beachtet worden. Diese wurde am 19. Februar durch polizeiliche Verfügung geschlossen. Die Staats­anwaltschaft erhielt am 22. Februar hiervon Mittheilung. Diese aber veranlaßt zunächst nur die richterliche Vernehmung der Beschuldigten. In dem Erkenntniß heißt es: Da Zweifel bestehen konnten, ob damit die im§ 16 des Vereinsgesetzes vorgeschriebenen Fristen innegehalten seien und die vorläufige Schließung rechtswirksam bestehe, ordnete die Polizeibehörde unter dem 30. März nochmals die vorläufige Schließung an und zeigte das der Königlichen Staatsanwaltschaft an. Die Mitglieder der Frauen- Agitationskommission erhielten davon nicht Kenntniß."

Das Gesetz besagt unzweideutig, es muß seitens der Behörde nach Vorschrift verfahren werden. Und daß der Staatsanwaltschaft wie dem Polizeipräsidium die vereinsgesetzlichen Bestimmungen genau bekannt sind, steht doch außer allem Zweifel. Der Staatsanwalt erklärte bei seiner Begründung der Anklage, daß die Angeklagten eigentlich nur formell gegen das Gesetz verstoßen hätten. Sie wurden verurtheilt; bei ihnen war also der Verstoß gegen die Form strafbar. Liegt aber nicht auch, wie wir gezeigt haben, seitens der Behörden ein formeller Verstoß gegen das Gesetz vor? Das Gericht hätte sofort Beschluß über die vorläufige Schließung der Kommission fassen müssen. Vom 19. Februar bis 1. April lag aber kein solcher Beschluß vor; derselbe erfolgte erst auf nochmalige Anzeige vom 4. April. Die Sache könnte an sich bedeutungslos erscheinen, sie ist aber gerade für den vorliegenden Fall charakteristisch. In dem Erkenntniß wird nämlich weiter festgestellt, daß vier der Angeklagten sich nur einer Uebertretung schuldig gemacht haben, die innerhalb von drei Monaten verjährt. Es heißt nun aber bezüglich des Verjährungseinwandes: Der Verjährungseinwand soweit die Uebertretung in Frage tritt scheitert daran, daß auf die Mittheilung von der vorläufigen Schließung des Vereins der Berliner   Frauen- Agitationskommission vom 22. Februar 1895 innerhalb der im§ 16 des Vereinsgesetzes vorgeschriebenen Frist ein Antrag auf Fortdauer der vorläufigen Schließung nicht gestellt worden ist. Hierdurch ist die Aufhebung des letzteren ohne Weiteres eingetreten und der Verein" hat bis zu seiner am 30. März nochmalig erfolgten Schließung rechts­wirksam fortgedauert."

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Der§ 16 des Vereinsgesetzes besagt: Wer sich bei einem auch nur vorläufig geschlossenen Verein als Mitglied ferner betheiligt, wird mit Geldstrafe von 15 bis 150 Mt. oder Gefängniß von acht Tagen bis drei Monaten bestraft." Die vorläufige Schließung ist aber nicht, wie das Gesetz vorschreibt, von der Polizeibehörde auf­gehoben worden. Das Gericht stellt fest, der Verein" hat noch elf Tage rechtswirksam fortgedauert. Wenn dem so ist, haben sich dann die Mitglieder der Kommission nicht unbewußt nochmals straffällig gemacht? So fomisch die Frage scheinen mag, ist sie doch völlig berechtigt und wirft ein Streiflicht auf Gesetzesauslegungen, welche dem Laienverstand schlechterdings unverständlich sind.

Wenden wir uns nun dem Theil des Erkenntnisses zu, der die Schuld der Angeklagten beweisen soll. Die Frauen- Agitationskom­mission soll ein politischer Verein" gewesen sein. Was ein Verein ist, wird in dem Erkenntniß folgendermaßen festgestellt:

Als Verein im Sinne des Vereinsgesetzes ist anzusehen: jede dauernde Vereinigung mehrerer Personen zur Verfolgung gemein­schaftlicher Zwecke unter einer Leitung." Es mußte also zum Zwecke einer Verurtheilung erwiesen werden, daß eine Vereinigung unter einer Leitung bestanden hat. Zeugen dafür, daß die Mitglieder der Kommission gemeinsam wirkten, waren nicht vorhanden und konnten nicht vorhanden sein. Das Gericht mußte sich bei seinem Urtheil auf die Aussagen der Angeklagten stützen. Von diesen rühmte aber der Staatsanwalt selbst, daß sie mit aller Offenheit der Wahrheit die Ehre gegeben hätten, so daß er auf die Vernehmung der Belastungs­zeugen verzichtete. Aus den Aussagen der Angeklagten ging aber hervor, daß sie nicht gemeinsam handelten. Es ward nicht erwiesen, daß sie zu irgend einer Zeit, an irgend einem Ort, zu irgend einer Besprechung zusammenkamen oder auf schriftlichem Wege über ein gemeinsames Vorgehen sich verständigten. Die Angeklagten waren gewählte Vertrauenspersonen und wirkten jede für sich, in ihrer Art, in ihrem Stadttheil, nicht gemeinschaftlich, wohl aber im Interesse der Frauen überhaupt. Sie betonten besonders, daß die Bezeichnung Frauen- Agitationskommission" von jeder Einzelnen von ihnen im obigen Sinne der Oeffentlichkeit gegenüber gebraucht ward. Als Beweise für den Vereinscharakter der Kommission galten dem Gericht u. A. folgende Thatsachen". Frau Fahrenwald berief Ver­sammlungen ein und unterzeichnete die Anzeige derselben mit Die Frauen- Agitationskommission". In diesen Versammlungen wurden Mitglieder der Kommission ins Bureau gewählt und betheiligten sich an den Debatten. Frau Ihrer referirte in einigen dieser Versamm­lungen. Daß jeder Frau das Recht zusteht, Versammlungen einzu­berufen, im Bureau zu sitzen, sich an Debatten zu betheiligen und zu referiren, hob der Vorsitzende des Gerichtshofs bei der Verhandlung hervor. Und wie man aus diesen" Thaten" auf Vereinigung oder Verabredung schließen kann, ist uns unerfindlich, sie haben nichts Derartiges zur Voraussetzung. Weiter soll das gemeinsame Wirken der Kommissionsmitglieder hervorgehen aus einem Schreiben der Frau Ihrer, das Frauen- Agitationskommission" unterzeichnet ist und in dem zur gewerkschaftlichen Organisation der Arbeiterinnen aufgefordert wird. Dieses Zirkular ist aber einen Monat vor der Wahl der aufgelösten Kommission geschrieben worden, steht also mit