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Eine ähnliche bewußte oder unbewußte Unkenntniß der wirth­schaftlichen Ursachen trat auch zu Tage bei den Verhandlungen über die Sittlichkeitsfrage, oder wie das Thema genau lautete, über ,, die soziale Nothwendigkeit einer für beide Geschlechter gleichen Moral". Die doppelte Moral", die als eine der traurigsten Früchte unserer wirthschaftlichen Zustände für Jeden erkennbar sein müßte, wurde, statt vom wirthschaftlichen, vom moralischen Standpunkt aus beleuchtet. Jede Rednerin pries ihr Spezialheilmittel an, von denen jedes an sich gewiß gut ist, feins aber das Uebel ausrotten kann. Miß Susan B. Anthony   meinte, daß die Unsittlichkeit nicht eher wirksam zu bekämpfen wäre, ehe nicht die Frauen an der Gesetzgebung theil­nehmen; Miß Hopkins verlangte eine Art Boykott über sittenlose Männer seitens der Mütter heirathsfähiger Töchter; die Gattin des Bischofs von London   eine ernstere Erziehung der Söhne durch die Mütter; eine schwedische Delegirte sah in der gemeinsamen Erziehung der Geschlechter das wichtigste Mittel zur Bekämpfung der Sitten­losigkeit; Frau Bieber- Böhm predigte natürlich wieder den Feigen­blattfeldzug gegen Literatur und Kunst, ohne daß ihr in ihrem Zelotismus im Entferntesten der Gedanke kam, daß die Geschosse, mit denen sie die Unsittlichkeit vernichten möchte, die Schönheit in der Kunst und die Sinnenfreude im Leben zerstören würden. Nur eine Rednerin erklärte die ökonomische Befreiung und Gleichstellung der Frau für das wesentlichste Mittel zur Bekämpfung der doppelten Moral. Sie fand weniger Anhänger als Frau Bieber. Vorträge über Frauenklubs, über Arbeiterinnen heime Fräulein Salomon berichtete über die Berliner   Gründung-, wurden in der­selben Sektion gehalten; schließlich kam noch der Vortrag eines Herrn Parker zur Verlesung, der mit großem Aufwand von Mitleid und Pathos die Wohnungsnoth der gebildeten arbeitenden Frau schilderte. Er meinte, daß die gebildete Frau in Folge ihrer geringen Einnahmen, die zu ihrer Bildung und ihrer Abfunft im stärksten Mißverhältniß stünden, von allen arbeitenden Frauen am schlimmsten daran sei, und man daher verpflichtet sei, ihr in erster Linie durch Erbauung und Einrichtung großer Wohnhäuser mit gemeinsamen Lese, Speise- und Wohnzimmern die nothwendige Behaglichkeit zu verschaffen. Von den Tausenden armer Näherinnen im Ostende  Londons   schien der gute Mann nie etwas gehört zu haben. Seine Zuhörer schienen seiner würdig zu sein, sie interessirten sich natur­gemäß brennend für eine Sache, die ihre eigene Existenz berührte, und es scheint, daß die Gründung solcher Wohnhäuser in London  das praktische Ergebniß vielleicht das einzige dieses Kon­gresses sein wird. Wir sind selbstverständlich weit entfernt davon, die Noth und den vielfach harten Kampf ums Dasein der Kopf­arbeiterinnen zu verkennen; wir geben auch gerne zu, daß mit einer Lösung ihrer Wohnungsfrage viel für sie gethan wäre; was wir aber konstatiren müssen und grade bei diesem Kongreß immer wieder fonstatiren können, ist der durchaus bürgerliche Klassencharafter, den alle behandelten Fragen, alle vorgeschlagenen Lösungen trugen. Darin liegt nicht einmal ein Vorwurf. Wogegen wir uns allein wenden, das ist die unhistorische und unpsychologische Meinung, als könnten diejenigen, die noch mit ihrem ganzen Sein, ihrem Denken und Fühlen der bürgerlichen Klasse angehören, die Kämpfe der Arbeiterklasse in hervorragendem Maße fördern.

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Den Beweis für unsere Behauptungen lieferte die Sektion für Gesetzgebung und industrielle Frauenarbeit. Die Stellung der Frau im bürgerlichen Recht wurde von den Delegirten der verschiedenen Sektionen beleuchtet, und zwar wesentlich in Bezug auf das Vermögensrecht. Von deutscher Seite sprachen Frau Stritt und Fräulein Dr. Augspurg ihre Namen genügen zur Kennzeichnung ihres Standpunkts, der in dem Kampfe gegen das bürgerliche Gesetz buch zum deutlichen Ausdruck kam. Sehr Hervorragendes muß in diesem so überaus wichtigen ersten Theile der Sektion nicht geleistet worden sein, denn die Zeitungen schweigen darüber. Einen breiteren Raum nimmt die Frage der Fabrikgesetzgebung und der indu­striellen Frauenarbeit ein. Bei den Verhandlungen darüber trat die Interesselosigkeit der Masse der Kongreßtheilnehmer an der wich­tigsten Seite der Frauenfrage drastisch zu Tage: es kam vor, daß in dem Saale  , wo die betreffenden Verhandlungen stattfanden, nur 30-40 Personen von über 2000!- anwesend waren, und ein auf Kenntnissen und eingehenden Studien beruhendes Verständniß zeigten nur wenige Redner, in erster Linie die uns nahestehenden Sozialpolitiker Sydney   und Beatrice Webb  , und unsere englischen Par­teigenossen, Amie Hicks und Herbert Burrows. In der Frage der Arbeiterinnenschutzgesetzgebung platten die Geister am schärf­sten aufeinander. Die Baronin Alexandra Gripenberg  , die in der Arbeiterinnenschutzgesetzgebung eine Degradirung des weiblichen Ge­schlechts sieht, gab den Ton an. Sie bekämpfte entschieden jede ge­setzliche Einschränkung der Frauenarbeit, da eine solche nur dazu führen würde, die weiblichen Arbeiter aus den Fabriken und Werk­

stätten schließlich ganz zu verdrängen und durch Männer zu ersetzen Es wäre, so meinte sie, eine unmenschliche Grausamkeit, der hungernden Frau, die jede Arbeit leisten will, um zu leben, oder ihr Kind zu erhalten, zu sagen: du darfst nicht arbeiten, was du willst.* Die Majorität der Rednerinnen stand auf ihrer Seite, ja die französischen  und belgischen Delegirten gingen so weit, das Verbot der Nachtarbeit zu verwerfen im Namen der Freiheit der Frau! Daß in der fapi­talistischen Gesellschaft die Freiheit zu arbeiten, was und wann die Frau will, zur Sklaverei führt und nichts ist als die Freiheit schrankenloser Ausbeutung für den Unternehmer, fiel den bürgerlichen Damen nicht ein, und erst unsere Parteigenossen wiesen sie darauf hin. Diese erklärten auch, daß eine starke, für beide Geschlechter gemeinsame Arbeiterorganisation, die gleiche Arbeitsbedingungen erfämpfen könne, die nothwendige Ergänzung des gesetzlichen Arbeiterinnen­schutzes sei. Die Organisation der englischen Arbeiterinnen wurde von verschiedenen Seiten geschildert, und die Weberinnen von Lanca­ shire  , die, dank ihrer einheitlichen Organisation, gleiche Löhne wie die Männer erlangt haben, illustrirten trefflich den Standpunkt un­serer Genossen. 100000 Arbeiterinnen sind in England organisirt, 11000 in dem kleinen Dänemark  , von dessen riesenhaftem, wirthschaft­lichen Kampfe eine Delegirte, Frau Hansen, erzählte. Hinreißend sprach Amie Hicks: Sie halten von Moral triefende Reden, während Ihre Schwestern von Ihrer Gesellschaftsordnung ins Elend hinein­getrieben werden; Sie begeistern sich für den ewigen Frieden, und sorgen mit Ihrer Kraft und Ihrem Gelde für die Verwundeten, aber dem Schlachtfeld des täglichen Lebens bleiben Sie fern. Wollen Sie für die Befreiung der Frau ernstlich kämpfen, wie Sie es vorgeben, zu thun, so tämpfen Sie zuerst für ihre ökonomische Befreiung!" Und Burrows erklärte, daß es keine Frage gäbe, die nur Frauen anginge. Erst der gemeinsame Kampf von Männern und Frauen könne zum Siege führen, darum sei aller Nachdruck auf die gemeinsame Dr­ganisirung zu legen. Für Nur- Frauenorganisationen sprachen sich nur Wenige aus, unter ihnen Frau Vincent, Delegirte der fran­ zösischen   Tabatarbeiter, von denen allein 25 000 Frauen gewerkschaft­lich organisirt sind. Sie übrigens auch eine Gegnerin des gab interessante Details über Frauenlöhne Arbeiterinnenschutzes

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in Frankreich  . Im Durchschnitt verdient eine allein lebende Arbei­terin in 45 Arbeitswochen 935 Frcs.( ungefähr 750 Mt.), sie braucht in dieser Zeit 900 Frcs., es bleiben ihr also nur 35 Frcs. für die etwa sieben Wochen der Arbeitslosigkeit übrig, ganz abgesehen von Krankheitsfällen und dergleichen unvorhergesehenen Ausgaben. Ein Bild, das uns Deutsche   nicht gerade fremdartig berührt! Und doch waren die Vertreterinnen Deutschlands   sprachlos! Da bei uns, die Kulturaufgaben nicht leiden', wird wohl alles in schönster Ordnung sein", sagt der Berichterstatter der Volkszeitung", nachdem er diese Sprachlosigkeit konstatirt hat. Er war trotzdem wohl in einem Irr­thum befangen; die Fronde" berichtet nämlich, daß Frau Cauer ausgerufen hat: Man muß Alles zerstören, ehe man wieder aufbaut." Wahrscheinlich ist Frau Cauer unter die Anarchisten gegangen England wenigstens! Das Heilmittel, das eine Amerikanerin gegen das soziale Uebel vorschlug, war übrigens nicht weniger radikal: Man muß Millionäre züchten", sagte sie nach berühmtem Muster, ohne sich näher über die Folgen dieser Arznei auszulassen. Herbert Burrows schenkte ihr jedenfalls kein Vertrauen, denn er rief der Dame zu, wenn sie so viel von den Millionären erwarte, schenke er ihr zu ihren ameri­kanischen Millionären sämmtliche englische obendrein. Die Be sprechung der Kinderarbeit war nicht weniger reich an Zwischen­fällen, die für die nationalökonomische und sozialpolitische Bildung der Anwesenden ein trauriges Zeugniß ablegten. Hierbei machte Deutschland   eine rühmliche Ausnahme; es kam eine Abhandlung von Frau Simson( Breslau  ) zur Verlesung, die ungeschminkte Wahr­heit bot. Sie erzählte darin unter Anderem von vierjährigen(!) Kin­dern, die Streichholzschachteln verfertigen! Uebertroffen wurde diese Schilderung nur durch den Bericht der uns vom Berliner   Kongreß her wohlbekannten Italienerin Dr. Montessori, die uns in unserer Volksversammlung die Grüße italienischer Arbeiterinnen über­brachte. Ihr Bericht über die Kinderarbeit in den Bergwerken Si­ ziliens   bot so fürchterliche Bilder, daß wie eine englische Zeitung sagt die eleganten Zuhörerinnen sich wohl zum ersten Male ihres Puzzes schämten". Ob die Wirkung weiter reichte?! Unser Zweifel ist berechtigt, denn trotzdem ein spanischer Delegirter nicht weniger eindringlich von der Noth der Kinder sprach, erhob sich eine Dame, natürlich auch im Namen der Freiheit gegen den gesetz­lichen Kinderschutz zu sprechen. Es wäre, meinte sie, sehr gut, wenn

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Vgl. ,, English Women's Review" vom 15. Juli. Für unsere weiteren Ausführungen haben wir noch folgende Zeitschriften herangezogen: Frauenbewegung." Frauenbewegung." Dokumente der Frauen." ,, Journal des femmes." Frauenarbeit."

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