Aber wäre die Enquete genau so vollkommen, wie sie unvolltommen ist, sie ergäbe dennoch nichts weniger als ein zutreffendes Bild von der Erwerbsthätigkeit schulpflichtiger Kinder, da sie mit Vorbedacht ein großes und wichtiges Gebiet findlicher Erwerbsarbeit ausschließt. Denn als eine mäßige Beschäftigung in freier Luft und in einer dem jugendlichen Körper angemessenen Weise" ist der größte Theil der landwirthschaftlichen Kinderarbeit sicherlich nicht anzusehen. Uns scheint hier im Gegentheil ein so folgenschweres Stück kindlichen Erwerbslebens unbeachtet geblieben zu sein, daß wir versuchen wollen, nach anderen Duellen die Lücken der Reichsaufnahme auszufüllen.
Die Berufs- und Gewerbezählung von 1895 hat 135125 Kinder unter 14 Jahren als in der Landwirthschaft thätig ermittelt. Vieles läßt darauf schließen, daß diese offizielle Zahl weit hinter der Wirklichkeit zurückbleibt. Mit Sicherheit läßt sich z. B. bei der starken Abwanderung vollkräftiger Arbeiter aus Ostelbien annehmen, daß nun dort die Kinder noch zahlreicher zur Arbeit herangezogen werden. Von den ermittelten Kindern waren:
Knaben. Mädchen
Unter 12 Jahren 24164 6440
30604
Unter 14 Jahren* 69957
34564
104521
In der Provinz Posen verrichteten von den 55 Schülern einer Klasse nur zwei keine landwirthschaftliche Arbeit. Zwanzig, die bei Fremden beschäftigt waren, hatten das elterliche Haus mit sechs Jahren verlassen, zwei mit 7, einer mit 8, zwei mit 9 Jahren 2c. Aus Pommern wird berichtet,** daß von 3514 Kindern 2376 gleich 64,7 Prozent bei der Kartoffelernte und zum Rübenziehen verwendet wurden. Es wird Niemand behaupten wollen, daß die von dieser Beschäftigung unzertrennliche Arbeit im glühenden Sonnenbrand oder etwa an regnerischen Herbsttagen dem kindlichen Körper zuträglich sei. In anderer Art gefährdet sind die Hütekinder, deren ebenda 757 ermittelt wurden. Nach Agahd wird bei dieser Art geschäftigen Müßiggangs die Sittlichkeit häufig in schlimmster Weise gefährdet und es sollte unseren Heinzemännern ernstlich zu denken geben, daß nach der Erfahrung von 58 besonnenen Männern dort von 3275 Kindern 2310 sittlichen Gefahren ausgesetzt waren. Bei weiteren 312 Kindern waren die Gewährsmänner zweifelhaft und nur in 653 Fällen wurde die Frage verneint.
Wenn man hört, daß über der Arbeit alles Andere vernach lässigt wird, so braucht man sich darüber nicht zu wundern.
In einer Schule mit 31 Kindern waren sämmtliche mit Tabakaufziehen beschäftigt, in einer anderen mit 294 Schülern 210 in der Kartoffel- und Kornernte, in einer dritten mit 56 3öglingen 55 als Hütekinder, in einer vierten, welche 80 Schüler zählte, 66 im Garten 2c.
Um die Arbeit der Kinder in ausgiebigster Weise zu ermöglichen, werden die Schulstunden eingeschränkt oder sogenannte Sommerschulen mit zwei bis dreistündigem Frühunterricht eingerichtet. Den Hütekindern wird jeder zweite Schultag frei gegeben und was dergleichen Dinge mehr sind. Kommt dann einmal eine Verordnung, in der festgesetzt wird, daß nur mindestens Achtjährige zu ganzen Tagesleistungen herangezogen werden dürfen, die Arbeitszeit mit zweistündiger Pause zwischen 6 Uhr früh und 6 Uhr Abends liegen muß und bei etwa nothwendigen Fußmärschen Vorsorge getroffen werden soll, daß die Heimtehr spä= testens um 8 Uhr erfolgt sein tann", so wehren sich die„ nothleidenden" Agrarier nach Kräften gegen dieses minimale Maß von Kinderschutz, das jedem Unbefangenen wie ein Hohn auf Menschlichkeit und Gesittung erscheint.
Man beachte, daß viele dieser Kinder ohne Entgelt, nur für Nahrung und Kleidung oder, im günstigsten Falle, für einen Jahreslohn von 15 bis 20 Mt. arbeiten müssen, andere für ein paar Pfennige in Tagelohn gehen. Man mache sich ferner klar, wie viel von den Grundbesitzern an einer ungestörten Fortdauer der gegenwärtigen Zustände gelegen sein muß. Sicherlich findet man dann den Schlüssel zu der befremdlichen Thatsache, daß eine Reichsenquete an der Kinderarbeit in der Landwirthschaft achtlos vorübergehen konnte. Die Regierung sollte sich im eigenen Interesse, im Interesse ihres Ansehens, beeilen, den begangenen Fehler wieder gut zu machen, falls die Wichtigkeit der Sache sie nicht dazu bestimmt. Einer so willkürlichen Aufnahme, wie die amtlicherseits vorliegenden, fann nicht irgend ein objektiver Werth beigemessen werden. Noch weniger ist dafür zu danken, daß die Regierung auf einem Theilgebiet endlich einen Anfang zur amtlichen Aufdeckung schwerer wirthschaftlicher und sittlicher Mißstände gemacht hat. Henr. Fürth .
*
Illustrirtes Lexikon der Frau. Artikel:„ Kinderarbeit". ** Agahd :„ Die Erwerbsthätigkeit schulpflichtiger Kinder", S. 54.
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Die radikalen Frauenrechtlerinnen und das Frauenwahlrecht in der Gemeinde.
Der Verein Frauenwohl Berlin", welcher auf dem linken Flügel der bürgerlichen Frauenrechtelei steht, hat dem preußischen Abgeordnetenhaus eine Petition eingereicht, in welcher das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht für beide Geschlechter gefordert wird. Aber dieser demokratischen Forderung hinkt eine erzreaktionäre Einschränkung nach, durch welche das allgemeine Wahlrecht illusorisch gemacht und großen Kreisen der Arbeiter und Arbeiterinnen entzogen wird. Wähler und Wählerin soll nämlich nur sein, wer in der Gemeinde seßhaft ist und zu den GemeindeLasten beiträgt. Diese durchaus undemokratische, arbeiterfeindliche Einschränkung wird wie folgt begründet:" Die Besonderheiten der Gemeindeorganisation und ihre Obliegenheiten rechtfertigen es jedoch, daß das Wahlrecht nur von wirthschaftlich selbständigen und in der Gemeinde seßhaften Personen ausgeübt wird, so daß in der Gemeinde stimmberechtigt ist, wer zu ihrer Erhaltung, wenn auch im geringstem Maße, beiträgt."
Wir begrüßen das Vorgehen der radikalen Frauenrechtlerinnen, denn nach zwei Richtungen hin bedeutet es einen wünschenswerthen, nöthigen Fortschritt. Zunächst in der Beziehung, daß bürgerliche Frauenrechtlerinnen von einer gefeßgebenden Körperschaft das Frauenwahlrecht fordern, statt wie bisher sich in scheuer Aengstlichkeit von dem spießbürgerlichen Vorurtheil um diese Forderung herumzudrücken. Sodann in der anderen Hinsicht, daß die Petition neuerlich eine Klärung über die Stellung der bürgerlichen Frauenrechtelei gegenüber den Interessen der proletarischen Frauenwelt, der Arbeiterklasse überhaupt bringt.
In der Petition ist das honigsüße Gesäufel der Damen von der allgemeinen Schwesternschaft aller Frauen, ohne Unterschied der Klassen, verstummt und nur das Interesse der besitzenden Frauen, der besitzenden Klasse hat das Wort geführt. Nicht als Vorkämpferinnen für das kommunale Bürgerrecht aller Frauen treten die Frauenrechtle= rinnen vor das Abgeordnetenhaus, vielmehr nur als Vorkämpferinnen für die Bürgerrechte der Frauen, die über genügend Mittel verfügen, um in der Gemeinde ansässig zu sein und direkte Steuern zahlen zu können. Im letzten Grunde fordern also die Damen das Wahlrecht nicht für die Frau als Persönlichkeit, sondern für die Frau als Trägerin und Anhängsel von Besitz. Sie, die sich in den hochtrabendsten Phrasen ihrer Arbeiterfreundlichkeit, ihres Gefühls und Gerechtigkeitsfinnes für die ärmeren Schwestern", ihrer Humanität und anderer schönen Dinge rühmen, stellen damit die Macht des todten Besitzes über das Recht des lebendigen Menschen. Die Schwesternschaft und Gleichberechtigung aller Frauen nimmt für sie da ein Ende, wo die Zahlungsunfähigkeit anfängt. Ihre Petition trägt das Brandmal der engherzigsten, beschränktesten bürgerlichen Klassenmoral und Klassenpolitik.
Die Damen ertheilen gerührt den Schwesternfuß der freien gleichberechtigten Gemeindebürgerin, der Kupplerin vorausgesetzt nur, daß sie schlau genug war, ihre bürgerlichen Ehrenrechte zu be wahren, denn sie kann ja auf Grund ihres schmachvollen Gewerbes ansässig sein und steuern. Sie ertheilen ihn der ansässigen und steuernden hochgestellten Dirne, die, durch den Trauschein geschützt, den Alkoven zur Staffel erniedrigte, auf der sie und ihr Hahnrei von Mann zu Titeln und Mitteln emporgeflommen sind. Sie ertheilen ihn der Tagediebin, deren Thätigkeit im Chikaniren der Hausbediensteten und in der Jagd nach Zerstreuungen besteht, die aber durch ihre Arbeit nicht das Salz zum Brot, geschweige denn die Steuergroschen zu verdienen vermöchte. Die radikalen" Damen schlagen dagegen die Thür der Gleichberechtigung vor der Nase von Tausenden und Zehntausenden fleißiger Arbeiterinnen und proletarischer Hausfrauen zu, denen die Ausbeutung des Proletariats durch die Kapitalistenklasse die Möglichkeit raubt, sich einer Gemeinde seẞhaft einzugliedern und zu ihren direkten Lasten beizutragen. Ihnen nur kommunale Bürden, kommunale Pflichten, aber kein Recht, sie zahlen ja nicht!
Und haben die Frauenrechtlerinnen] denn Recht, zahlen alle Frauen, welche rechtlos sein sollen, weil sie ausgebeutete Mittellofe sind, thatsächlich nichts für die Gemeinde? Reineswegs. Zunächst sind sie gezwungen, trotz ihrer Armuth zu all den indirekten Gemeindelasten so gut beizutragen wie die Wohlhabenden und Reichen, ja im Verhältniß zu ihrer Armuth weit mehr als diese. Dazu tommt, daß die ärmste Arbeiterin, die bedürftigste proletarische Hausfrau durch ihre berufliche Thätigkeit, durch ihr Wirken in der Familie nicht nur im geringsten Maße", vielmehr sehr Bedeutendes zur„ Erhaltung der Gemeinde" beiträgt. Die Kommune Berlin könnte sicherlich weit eher auf die weltbewegenden Thaten der Damen vom " Frauenwohl" verzichten, als auf die Arbeit ihrer Hunderttausende
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