Nr. 8

Die Gleichheit

an Rechten zu fordern als die Frau der bürgerlichen Klasse, und selbst in die scheinbar gleichen Forderungen legt sie einen an­deren Inhalt, sie haben für sie andere Bedeutung. Nehmen wir zum Beispiel die Forderung der Mutterschaftsfürsorge, die in dem Programm aller Frauenfraktionen wiederkehrt. Für die wohlhabende Frau, die meist durch keine äußeren Umstände ge­hindert wird, an dem Säugling und kleinen Kinde ihre Mutter­pflicht zu erfüllen, ist sie nicht halb so wichtig, so bedeutungs. voll wie für die Lohnarbeiterin, welche an die Fabrik ge­fesselt nicht einmal der elementarsten Aufgabe als Mutter, dem Stillen des Kindes, genügen kann. Das gleiche wieder­holt sich bei anderen Reformen.

"

Die Versuche der bürgerlichen Mehrheit des Petersburger Kongresses, die Tatsache der Klassengegensätze hinter der Ge­schlechtszusammengehörigkeit verschwinden zu lassen, wurden von der anwesenden sozialdemokratischen Minderheit energisch zurückgewiesen. Die proletarische Frau," sagte Genossin Kol­Tantay, stellt ihr Klasseninteresse in die erste Linie, sie wird sie nicht vertuschen lassen. Die Frauenfrage ist nicht die ge­meinsame Sache aller Frauen ohne Unterschied von Parteien und Klassen, denn wir fassen die wichtigsten Fragen ganz anders auf als Sie." Und zwar beschränkt sich der Unterschied der Auffassungen und der Forderungen nicht auf das Wirt schaftsleben, sondern er ist nicht minder scharf auf dem poli­tischen Gebiet. Während die bürgerlichen Frauen sich natur gemäß den bürgerlichen Parteien anschließen und von ihnen die Erfüllung ihrer Forderungen erhoffen, kann die Arbeiterin nur in der Sozialdemokratie die Vertreterin ihrer Inter­essen erblicken, denn nur im Reiche des Sozialismus kann sie als Angehörige des Proletariats, wie als Frau, von jeglicher Ausbeutung und Unterdrückung befreit werden. Die klassen bewußte Arbeiterin kann sich daher unmöglich einer bürger lichen Frauenorganisation anschließen. Ihr Weg fällt mit dem der bürgerlichen Frau nicht zusammen, mag diese noch so hoch und teuer die Unparteilichkeit im Kampfe der Parteien und Klassen versichern. Das wurde auf dem Kongreß von den Dele gierten der Arbeiterinnen den bürgerlichen Frauenrechtlerinnen

mit allem Nachdruck erklärt. Wie es übrigens auf dem Kon

greß um diese vielgepriesene Unparteilichkeit stand, beweist

-

-

von anderen Einzelheiten abgesehen die von bürgerlicher Seite erhobene verleumderische Behauptung, daß die männ lichen Teilnehmer des Internationalen Sozialistenfongresses zu Stuttgart   den Saal demonstrativ verlassen hätten, als dic Resolution über das Frauenwahlrecht zur Abstimmung fam. Die Behauptung sollte beweisen, daß die Sozialdemokratie den Frauenrechten gleichgültig, wenn nicht gar feindlich gegenüber stehe. Selbstverständlich wurde diese Insinuation von den Ver treterinnen der sozialistischen   Auffassung gebührend zurück­gewiesen.

Da der Kongreß bis in die Knochen eine bürgerliche Ver­anstaltung war, ist man versucht zu fragen: Was in aller Welt hatten die Vertreterinnen der Arbeiterinnen dort zu suchen? War angesichts des Charakters der Tagung eine Beteiligung der sozialdemokratischen Arbeiterinnen an ihr überhaupt geboten? Es wäre unrichtig, diese Frage furzerhand zu verneinen. Die Beteiligung am Kongreß läßt sich nur aus der besonderen Ge­staltung der russischen Verhältnisse begreifen. Für Deutschland  zum Beispiel wäre eine Beteiligung sozialdemokratischer Frauen an einem bürgerlichen Kongreß unbedingt zu verurteilen. Darüber find wohl kaum zweierlei Meinungen möglich. Die reinliche Scheidung zwischen bürgerlicher und proletarischer Frauen­bewegung hat sich hier längst vollzogen. Die Arbeiterin hat ihre eigene Organisation, ihre eigene Presse, in ihrer Agitation unter den Klassengenossinnen ist sie verhältnismäßig frei, sie fann sie in voller Offentlichkeit betreiben. Anders in Rußland  . Dort muß die sozialdemokratische Agitation zurzeit wieder vor­wiegend als illegal im geheimen geschehen, so daß breite Massen des Proletariats verhältnismäßig schwer von ihr erfaßt werden können. Es muß daher jede Gelegenheit ausgenutzt werden, in der Öffentlichkeit zu größeren Massen zu reden. Insbesondere gilt dies betreffs des weiblichen Proletariats, an das sich bis

115

jetzt noch keine spezielle weitfassende Propaganda der sozialistischen  Ideen gewendet hat, die seiner Lage Rechnung getragen hätte. Der Frauenfongreß bot aber eine willkommene Handhabe, um mit einer solchen einzusehen. Er gewährte die Möglichkeit, an die Masse der werktätigen Frauen als Mütter, Gattinnen und Arbeiterinnen in aller Offentlichkeit heranzutreten.

Der Kongreß, auf dem so augenfällig der Unterschied in der Frauenfrage für die besitzenden Klassen und das Proletariat zutage trat, und die Vorbereitungsarbeiten zu ihm sind eine gute Schule für breite Schichten des weiblichen Proletariats gewesen. Leider fehlen Angaben über die Zahl der Petersburger Arbeiterinnen, die sich an den Wahlen von Kongreßdelegierten beteiligt haben. Es ist nur die annähernde Zahl ihrer Delegierten selbst bekannt, nämlich: 5 Vertreterinnen der Textilarbeiterinnen, 3 der Arbeiterinnen in Druckereien, je eine Delegierte der Gummi­waren, Tabat- und Zuckerwarenarbeiterinen, je eine Ver treterin von Dienstmädchen, Schneiderinnen, Bureauangestellten und Verkäuferinnen. Die jüdischen Strumpfwirkerinnen und Verkäuferinnen von Wilna   und die Moskauer   Schneiderinnen hatten ebenfalls je eine Delegierte zum Kongreß entsendet.

Sämtliche Vertreterinnen der Arbeiterinnen griffen lebhaft in die Verhandlungen ein und haben es verstanden, alle den Kongreß beschäftigenden Fragen( und ihrer waren nicht wenige, von der Wohltätigkeit an bis zur Bekämpfung des Alkoholismus  , dem Arbeiterschutz und der politischen Gleichberechtigung) von ihrem Klassenstandpunkt aus zu beleuchten. Der frische Geist des Klassenkampfes, der aus ihren Ausführungen wehte, hat gezeigt, daß die russische Proletarierin nicht gewillt ist, mit den bürger­lichen Frauen gemeinsame Sache zu machen. Sie wird sich durch die hohlen Phrasen von der Schwesternschaft aller Frauen nicht irreführen lassen, sondern vereint mit ihren männlichen Klassengenossen dem sozialistischen   Ideal zustreben. Von seiner Verwirklichung allein erwartet sie die Erlösung von Knechtschaft und Ausbeutung jeder Art. Eine russische   Genossin

Stellungnahme der Zentralbureaus der Petersburger Gewerkschaften zum ersten bürgerlichen Frauenkongreß in Rußland  .

"

Das Zentralbureau der Petersburger Gewerkschaften hat zu dem Allrussischen Frauenfongreß in einem Aufruf An alle Petersburger Arbeiterinnen" Stellung genommen, der den russischen   Zuständen entsprechend im geheimen verbreitet werden mußte. Wir bringen nachstehend das wichtige Dokument zum Abdruck, welches befundet, daß die Revolution in Rußland  einem flassenbewußten Handeln der Proletarierinnen als Masse das Tor geöffnet hat, und daß die sozialdemokratischen Gewerk schaften bemüht sind, die ihnen dadurch zufallenden Aufgaben zu erfüllen. Der Aufruf lautet:

,, Genossinnen, Arbeiterinnen, hört! Die Sache geht euch am meisten an.

Am 10.( 23.) Dezember 1908 tritt bei uns in Petersburg   der erste Allrussische Frauenkongreß zusammen. Aus allen Ecken und Enden Ruß lands werden da Frauen zusammenkommen: Ärztinnen, Lehrerinnen, Schriftstellerinnen, um zu erzählen, wie die Frauen verschiedener Stände leben, wie sie arbeiten, was sie erstreben, was sie zu er dulden haben, weil sie bis jetzt noch nicht als gleichberechtigt mit den Männern angesehen werden. Und jede Frau, die auf den Rongreß fommt, wird von ihren Angelegenheiten, ihrem Kummer und ihren Sorgen sprechen.

Aber keine von ihnen wird das sagen können, was wir wissen, wir, denen das Schicksal alle Freuden versagt hat, deren Leben eine ewige Qual ist. Niemand von ihnen weiß, wie hoffnungslos finster das Leben der Arbeiterin ist.

In stickiger Fabritluft, beim Rasseln der Maschinen, in Staub und Schmuz spannt sie am Webstuhl ihre schwachen Kräfte an. In der engen Werkstatt, scharf beobachtet von der lauernden Meisterin, arbeitet sie, frant und schwach, bis in die Nacht hinein mit der Nadel oder tritt die flappernde Maschine. In den schmutzigen, übelriechenden Dämpfen der Wäschereien steht sie tagelang am Waschtrog oder Bügeltisch. Von früh bis abends spät gehorcht sie allen Launen der Gnädigen", bei der sie als Mädchen dient, und