Nr. 19

Die Gleichheit

schichten erkennen und enthalten unfreiwillig das Eingeständnis, daß dank der Ausbeutung diese Schichten trotz fleißiger, ja harter Arbeit den Anforderungen der Existenz nicht gerecht zu werden vermögen. Sie prahlen mit dem Schein, den arbeiten­den Massen zu dienen, in Wirklichkeit aber frommen sie in erster Linie den Unternehmerinteressen. Unter diesen Wohl fahrtseinrichtungen nehmen die Arbeiterinnenheime in der Textil industrie einen hervorragenden Platz ein. Ihr Name besagt, daß sie das Elternhaus den Mädchen ersehen sollen, die fern von der Heimat in der Fabrik schaffen. Wer diese Heime aber genau kennt, der weiß, daß dem nicht so ist. Hauptzweck der Einrichtung ist, unerfahrene Arbeiterinnen billig an einen Be trieb zu fesseln, sie in der größten Abhängigkeit von ihm zu halten und sie nicht zum Bewußtsein ihrer erbärmlichen Lage kommen zu lassen, damit aber auch nicht zur Erkenntnis der Notwendigkeit, sie durch vereinte Kraft zu bessern.

Wäre es anders und würde in der Folge nicht auch die Lage der gesamten Arbeiterschaft ungünstig beeinflußt, so könnte man gegen die Arbeiterinnenheime im allgemeinen nicht allzuviel einwenden. Wie die Arbeiterwohnungen überhaupt entsprechen sie einem tatsächlich vorhandenen Bedürfnis, das mit der schnellen Ent­wicklung der Textilindustrie entstanden ist. Als die Technik mit der Erfindung der wundervollsten Maschinen für die Textil industrie Triumphe feierte, ging die Industrialisierung großer Bevölkerungsschichten mit Riesenschritten vor sich. Fabriken entstanden, die Tausenden Arbeit geben konnten. Die ortsan sässigen Leute reichten nicht aus, um sie voll in Gang zu halten. Aus der weiteren Umgebung mußten Arbeitskräfte herangezogen werden, später kamen die Zeiten, wo solche als Lohndrücker aus dem Ausland geholt wurden. Es fehlte an Unterkunft für die zuströmenden Proletariermassen. Wollten die Unternehmer sie haben und halten, so mußten sie bedacht sein, ihnen Wohnung zu schaffen. In der Nähe der Fabriken schossen ganze Arbeiterviertel, wahre Arbeiterstädte wie die Pilze aus der Erde, und sie wachsen in dem Maße, als die Industrie sich ausdehnt. Die Geschmacklosigkeit und Einförmigkeit solcher Anlagen steht fast stets in schreiendem Gegensatz zu den schönen, luxuriösen Villen der Unternehmer. Jeder Ortsfremde kann sofort erkennen, wo die hausen, denen die eigene Arbeit zum Fluch wird, und wo jene wohnen, welche von der Arbeit an­derer mit Segen überschüttet werden. Arbeiterquartiere und Arbeiterinnenheime für die Lohnsklaven der Textilindustrie finden wir besonders dort, wo viele Arbeitskräfte während der Woche nicht täglich zum Heim zurückkehren können, ferner wo große Massen ausländischer Proletarier verwendet werden, vor allem aber auch dort, wo der Klerikalismus sich eifrig bemüht, seinen verdummenden Einfluß auf die Arbeiterschaft zu bewahren. So in den Bezirken der Seidenweberei des Rheintales und des badischen Wiesentales, der Wollkämmerei und Juteindustrie in Blumenthal  , Vegesack  , Braunschweig  , Delmenhorst  , Bremen  .

Die Bedeutung der weiblichen Arbeitskraft als billiger, williger und geschickter Arbeitskraft wurde von den Textilbaronen von Anfang an erkannt. Neben den Arbeiterwohnungen wurden daher fast überall auch Arbeiterinnenheime errichtet. Kirche und Unternehmertum sind immer durch die innigste Interessen­gemeinschaft miteinander verbunden gewesen. Kein Wunder daher, daß die frommen Diener Christi sich die Gelegenheit nicht entgehen ließen, die Fabrikanten in ihrer Fürsorge für Arbeiterinnenheime tatkräftig zu unterstützen. Da die From­men im Lande außerdem gute Rechner und Geschäftsleute zu sein pflegen, brauchten die Unternehmer nicht einmal überall für eigene Rechnung Heime zu erbauen, Schwesterngesellschaften und andere fromme Wohltätigkeitsanstalten enthoben sie der Notwendigkeit. Sie errichteten verschieden firmierende Hospize und Heime, an welche die Unternehmer dann einen Jahres beitrag entrichten, der meist nur gering ist. Dafür haben die Herren nicht nur den Nutzen, sondern erwerben obendrein die Gloriole der Wohltäter", die auf das Beste ihrer Arbeite rinnen bedacht sind. Die Leitung der Anstalten überlassen sie ruhig den guten Schwestern", die verständnisvoll dafür sorgen, daß die Arbeiterinnen bescheiden und demütig bleiben und sich

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in harter Arbeit unter Entbehrungen auf die Freuden des ver­heißenen Jenseits würdig vorbereiten. So ist es besonders im frommen Rheinland   die Praxis.

Die einschlägigen Verhältnisse in Aachen   sind ein sprechen­der Beweis dafür. Hier arbeiten in den Textilfabriken ganze Scharen von Arbeiterinnen, die weit draußen auf dem Lande daheim sind und nicht täglich nach Feierabend dorthin zurück­fehren können. Häufig kommt es noch vor, daß den Mädchen Schlafgelegenheit in der Fabrik geboten wird, für die sie die Nacht 15 bis 20 Pf. zahlen müssen. Einzelne Firmen haben auch Privatwohnhäuser für solche Arbeiterinnen errichtet, die nur Sonntags nach Hause fahren. Weit zahlreicher sind aber die Anstalten, die ein frommes Aushängeschild tragen, von der privaten Wohltätigkeit unterstützt werden, gleichzeitig sich aber zu recht einträglichen geschäftlichen Unternehmungen entwickelt haben. Mir liegen vier Jahresberichte von Arbeiterinnenheimen respektive Hospizen in Aachen   vor. Sie enthalten nicht bloß Angaben über die Frequenz ihrer einzelnen Abteilungen, Küchen usw., sondern nußen auch die Gelegenheit zu einer kräftigen Reklame für sich aus. Selbstgefällig zählen sie alles auf, was sie den Arbeiterinnen bieten. Die Abrechnungen erbringen jedoch den Beweis, daß diese Wohltätigkeitsanstalten, in die die Ar­beiterinnen mehr oder weniger hineingezwungen werden, sich außerordentlich gut rentieren. Trotzdem klagt das Marien­hospiz für Fabrifarbeiterinnen in Aachen   darüber, daß 10 bis 15 Schlafstellen unbenutzt geblieben sind, da infolge günstiger Bahnverbindung Arbeiterinnen abends zu ihrer Fas milie zurückkehren könnten, die früher werktags in der Stadt nächtigen und eine Schlafstelle im Marienhospiz mit 60 Pf. pro Woche bezahlen mußten. Die sogenannten Hausfinder" der Anstalt entrichten für Schlafstelle, Kost und Wäsche 90 Pf. pro Tag. Daß das Hospiz nicht voll besetzt ist, scheint die An­nahme zu rechtfertigen, daß- von der vorerwähnten Bahn­verbindung abgesehen die Arbeiterinnen selbst die Heime nicht so verlockend finden, wie sie geschildert werden. Das bes greift sich, wenn man im Bericht des Arbeiterinnenhofpizes Aachen liest, daß Hunderte Gebrauchsgegenstände von den jungen Mädchen Kinder" der Anstalt genannt- in den Feier­stunden und im Sonntagsverein angefertigt wurden. Diese Kinder", heißt es im Bericht, welche von Montag bis Samstag in unserer Anstalt wohnen, finden hier Ersatz für das Eltern­haus, das sie im Laufe der Woche entbehren müssen. Sie finden liebevolle Aufnahme und sind geschützt gegen die vielen Gefahren, welche jungen Mädchen in den sogenannten Kost­häusern der Stadt drohen.

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Kirchenbesuch, Arbeit und Sparsamkeit scheinen die Mittel zu sein, die Kinder" des Hospizes vor diesen Ge fahren zu schützen. Im Bericht lesen wir nämlich: Alle Kinder wohnten der Andacht mit Predigt bei, und von 226 Kindern, darunter 202 Fabrifarbeiterinnen, wurden im letzten Jahre 2118 Mt. gespart." Diese Summe ist Blend­werk! Wie kläglich würde sich auch im Bericht die Angabe ausnehmen, daß im Durchschnitt jede der 226 Arbeiterinnen pro Woche 18 Pf. gespart hat. Und doch ist es so. Teilt man die stolzen 2118 Mt. durch 226, so ergibt sich, daß pro Person nur etwas über 9 Mt. im Jahr oder 18 Pf. in der Woche erübrigt wurde. Und auch diese Pfennige konnten nur erspart werden, wenn die Arbeiterinnen sogar auf die aller­bescheidensten Anregungen oder Zerstreuungen verzichteten. In Aachen   herrscht die Textilindustrie vor, und die meisten der Kinder" des Hospizes sind Textilarbeiterinnen, von denen eine allzu große Zahl nur 10 Mt. die Woche, ja noch weniger ver­dient. Bei den teuren Lebensbedürfnissen in der Stadt scheint es mehr als zweifelhaft, daß Arbeiterinnen mit 10 Mt. Ein fommen wöchentlich eine fulturwürdige Existenz zu führen ver­mögen. Ihre Lebenshaltung muß Not leiden. Wie es aber jungen Arbeiterinnen möglich sein soll, von den niedrigen Löhnen noch zu sparen, wird wohl für immer das Geheimnis der leitenden Schwestern im Hospiz bleiben. Die paradierenden 2118 Mr. des 27. Jahresberichts geben der staunenden Welt Kunde, wie unverschämt begehrlich doch die Arbeiterinnen