408

Die Gleichheit

Sehr schlecht ist auch die ökonomische Lage der Leine­weber; fie betreiben zwar fast immer noch etwas Landwirtschaft neben der Weberei, aber ihre Erwerbsverhältnisse sind doch so traurige, daß sie fast ausschließlich von Kaffee, Brot und Kar­toffeln leben müssen; Fleischnahrung können sie sich nur aus­nahmsweise leisten. Die Löhne betragen 5 bis 10 Cts. für die Stunde. Als Hilfskräfte beschäftigen die Leineweber zum Spulen häufig Verdingkinder.c

Kinderarbeit ist auch in der Stickerei, dieser bedeutendsten Heimindustrie der Schweiz  , vielfach anzutreffen. Von der welt befannten Appenzeller Stickerei enthält die Ausstellung nur wenige Gegenstände. Die Fabrikanten haben erklärt, daß die Löhne so hoch seien, daß ihre Bekanntgabe eine Verpflanzung der Industrie in andere Gegenden bewirken könne. Der ver storbene Schweizer   Fabrikinspektor Schuler berichtet von den Appenzeller Löhnen aber anders. Nach ihm kann eine gute Stickerin 2 Fr., eine mittelmäßige 1,50 Fr. und eine schwache nur 0,50 bis 1 Fr. täglich verdienen. Laut der letzten Betriebs statistik sind in der Stickerei mehr als 35 000 Heimarbeiter be schäftigt, davon sind 72 Prozent Frauen. Zu der alteingesessenen Handstickerei ist in den letzten 50 Jahren die Handmaschinen­stickerei gekommen. Sie war anfangs hauptsächlich Fabritarbeit, hat sich aber nach Erlaß des Fabrikgesetzes in die Hausindustrie geflüchtet, wo sie feiner gesetzlichen Kontrolle und Beschränkung unterworfen ist. 1872 gehörten nur 7 Prozent der Handstickmaschinen Einzelstickern und 93 Prozent waren in Fabriken aufgestellt; 1895 waren nur noch 40 Prozent in Fabriken und 60 Prozent in der ungeschützten Hausindustrie. Die Löhne an den ausgestellten Produkten sind recht gering, sie gehen herab bis auf 4 Cts. für die Stunde und bleiben fast immer unter 30 Cts. Schuler hat den Durchschnittslohn eines Stickers auf 3 Fr. und den der Fädlerin auf 1,20 bis 1,50 Fr. für den Tag berechnet. Abzüge für angeblich mangelhafte Arbeit find häufig und die Bezahlung erfolgt recht oft in unregel mäßigen Zwischenräumen. Auf einer Etikette fanden wir den Vermerk: Bezahlung erfolgt je nachdem die Ferggerin( Zwischen­meisterin) Geld hat."

Die Uhrenindustrie der französischen   Schweiz   ist nur mit wenigen Gegenständen in der Ausstellung vertreten, trotz­dem sie nach der Textilindustrie die meisten Heimarbeiter be= schäftigt, nämlich rund 12000, wovon 48 Prozent Frauen sind. Die Löhne zeigen große Verschiedenheiten auf; nach einem ge­wissenhaften Bericht werden sie auf 2,65 Fr. für Frauen und 3,75 Fr. für Männer pro Arbeitstag von 12 Stunden berechnet. Bei der Herstellung von Musikdosen, die hauptsächlich im Kanton Waadt   erfolgt, sind die Löhne noch niedriger, und das Trucksystem ist stark verbreitet. Nur zweimal im Jahre wird mit den Heimarbeitern abgerechnet. Es ist klar, daß hierbei zum schlechten Lohn noch leicht die Übervorteilung bei der Abrech­nung tritt.

In der Abteilung für Holzschnitzerei sehen wir eine große Anzahl feiner Gegenstände. Trotzdem die Arbeiter fast alle eine gute Berufsausbildung, zum Teil auch Fachschul­unterricht genossen haben, sind die Löhne recht mäßig, sie be­tragen durchschnittlich zirka 30 Cts. für die Stunde. Der Holzschnitzer, der als Heimarbeiter nur im Berner Oberland  anzutreffen ist, treibt gewöhnlich auch etwas Landwirtschaft, um sein färgliches Einkommen ein wenig zu erhöhen. Frauen sind selten in der eigentlichen Schnitzerei beschäftigt, dagegen verrichten sie zuweilen Hilfsarbeiten. 39 Prozent aller Heim­arbeiter in der Holzschnitzerei beziehen ihren Lohn zum Teil in Naturalien. Ein Arbeiterverband hat in den letzten Jahren wenigstens einen weiteren Rückgang der Löhne verhindert.

Die Tabakindustrie des Kantons Aargau   zählt ungefähr 700 Heimarbeiter, wovon 88 Prozent Frauen sind; Kinder­arbeit ist häufig. Als Arbeitsraum dient für diese ungesunde Beschäftigung fast immer Wohn- oder Schlafstätte. Die Löhne sind sehr niedrig, oft unter 10 Cts., feltener über 20 Cts. in der Stunde.

Die Lederindustrie weist nicht viel Heimarbeit auf, die Löhne dafür sind sehr gering. Im frommen Wallfahrtsort

Nr. 26

Einsiedeln verdient eine Handschuhnäherin selten mehr als 10 Cts. in der Stunde. In der Sattlerei sind die Löhne etwas höher, nämlich durchschnittlich 23,7 Cts. Schuhmacher erreichen, wenn die Angaben der Etiketten richtig sind, Löhne von 48 Cts. durchschnittlich! dagegen Frauen beim Schäfte­nähen nur zirka 15 Cts. Die Arbeit wird auch fast immer in den Wohn- oder Schlafräumen ausgeführt, was natürlich große Gesundheitsgefahren mit sich bringt.

Unglaublich niedrige Löhne fanden wir in der Stroh. industrie. Sie hat sich vom italienischen Kanton Tessin   in die Kantone Aargau   und Freiburg   übertragen. 6000 bis 7000 Heimarbeiter, davon zirka 92 Prozent Frauen, find in dieser Industrie beschäftigt. An den Ausstellungsgegenständen fanden sich fast immer nur Löhne von 1 bis 5 Cts., über 10 Cts. fast gar nicht; auf einer Etikette war ein Lohn von 0,4 Cts. für die Stunde verzeichnet, was bei zwölfftündiger Arbeitszeit einen Tagesverdienst von noch nicht ganz 5 Cts. bringt. Löhne von 1,5 bis 2,5 Cts. sind häufig, und solche von 5 Cts. erscheinen schon hoch. Die Löhne sollen früher etwas besser gewesen sein. Selbstverständlich führen diese Hungerlöhne zur Überarbeit, die auch noch durch den Umstand gefördert wird, daß es sich hier um Saisonarbeit handelt. Eine Folge der schlechten Löhne und überarbeit ist die erschreckend hohe Kindersterblichkeit in den Bezirken dieser Heimarbeit. Die Kinderarbeit selbst, die früher sehr verbreitet war, geht zurück, weil sich genug andere billige Arbeitskräfte offerieren". Die Hungerlöhne werden noch nicht einmal voll in bar, sondern zum Teil in Spezereien und anderem bezahlt.

Welche Abteilung der Schweizer   Heimarbeitausstellung man immer betrachten mag, allenthalben finden wir unzureichende Löhne, die bis zu wahren Hungerlöhnen sinken, lange Arbeits­zeiten, überanstrengung, oft schlechte Ernährungs- und Wohnungs­verhältnisse und Kinder- und Frauenarbeit in einem Maße und unter Umständen, die die größten Gefahren für Mütter und Kinder bedeuten. Unsagbares Elend spricht aus dem Gewirr von Zahlen, das die Ausstellung bietet, und schreit nach Er­Lösung. Die Heimarbeit ist auch in der Schweiz   die schlimmste Form der kapitalistischen   Ausbeutung. Johannes Heiden.

Proletarierinnen bedenkt es!

Wilhelm II.   hat wieder einmal geredet. Dieses so häufige ,, Ereignis" würde uns Frauen des werktätigen Volkes durch­aus nicht interessieren, hätte der Kaiser nicht auch davon ge sprochen, daß das deutsche Volk seine Lasten gern trüge. Das ist ein Gemeinplatz, den wir auch sonst oft genug gehört haben und hören. Freilich nicht von den ausgebeuteten Massen selbst, welche die Hauptträger der neuen wie der alten Steuerlaften find. Wohl aber von allerhand Leuten, die auf der Mensch­heit Höhen" wandeln, was unpoetisch, aber richtig gesagt nichts anderes bedeutet, als daß diese Leute zu den ausbeutenden und herrschenden Klassen gehören. In den Parlamenten und bei patriotischen" Festen lassen bürgerliche Politiker und andere Stüßen der heutigen Ordnung den Singfang von der Freudig feit ertönen, mit der Michel seinen breiten Buckel einer immer schwereren Steuerbünde darbietet.

"

Wie aber ist die Meinung des arbeitenden Volkes, des Volkes, dem der Staat durch Steuern und Zölle auf unent­behrlichen Lebensbedarf die Groschen aus der Tasche nimmt? Nun, Mitschwestern, darüber herrscht wohl unter uns kein Zweifel. Sind wir es nicht, die am meisten spüren, wie hart und wie ungerecht diese Art der Ausplünderung ist? Wir seufzen schwer unter der Bürde, die die herrschenden Klassen durch ihren Staat den ausgebeuteten Massen neben der Aus­wucherung ihrer Arbeitskraft noch aufladen. Wir fluchen denen, die uns durch Abgaben das Mark aus den Knochen saugen, das uns der ausbeutende Kapitalist lassen mußte. Wir ballen die Faust, wenn unsere Männer mit dem Einsatz ihrer ganzen Kraft, oft ihrer Gesundheit den färglichen Lebensunterhalt ver­dienen müssen, wenn wir selbst- soweit wir Lohnarbeiterinnen